Die Goethe-Universität hat ein neues Graduiertenkolleg. Unter dem Titel „Ästhetik der Demokratie“ werden künftige Doktorandinnen und Doktoranden Demokratie als Lebensform untersuchen – unter einem geisteswissenschaftlichen Blickwinkel. Sprecher des gerade von der DFG bewilligten Graduiertenkollegs ist der Amerikanistikprofessor Johannes Völz.

Egal ob Indien, die USA oder Kanada: Die Partneruniversitäten, mit denen das neue Kolleg kooperiert, zeigten sich begeistert von der Nachricht, dass das Graduiertenkolleg „Ästhetik der Demokratie“ tatsächlich bewilligt wurde. „Es wird ja viel von der ‚Krise der Demokratie‘ gesprochen. Das ist ein globales Phänomen“, sagt Johannes Völz. Zwar seien momentan alle Augen weltweit auf Trump und sein Handeln zum Schaden der Demokratie gerichtet; die Angriffe auf demokratische Regeln und Strukturen seien jedoch in fast allen Gesellschaften weltweit zu beobachten.
Fächerübergreifende Diskussion
Wobei autoritäre Regime die Freiheit der Menschen durchaus auch unter dem Deckmantel vermeintlich demokratischen Vorgehens einschränkten und dabei vorgäben, sie hätten eben ein anderes Verständnis von Demokratie. Unter dem Vorwand, die Jugend schützen zu müssen, geht beispielsweise Victor Orban in Ungarn gegen die Rechte queerer Menschen vor. Und was tun diese? Sie tragen bei der Pride-Parade in Budapest ihre Lebensweise auf die Straße und machen auf diese Weise aufmerksam auf die drohende Einschränkung ihrer Grundrechte.
Hier setzt das neue Graduiertenkolleg an. Dessen Grundannahme ist, dass Demokratie sich nicht nur als Staats- und Regierungsform manifestiert, sondern auch in der Form des Zusammenlebens der Menschen. Und so ist auch der Begriff „Ästhetik“ weit gefasst: Darunter verstehen die zwölf beteiligten Professorinnen und Professoren die sinnlich erfahrbaren Formen und Praktiken des Zusammenlebens. Dazu gehören auch die Debatten und Konflikte, die um dieses Zusammenleben geführt werden
Inszenierung, Performance, Emotionen auch Teil der Demokratie
„Die Demokratieforschung führt in den geisteswissenschaftlichen Fächern bislang ein eher randständiges Dasein. Dabei ist der Beitrag, den die Geisteswissenschaften zur Demokratieforschung leisten können, dringend gefragt“, sagt Völz. Normen und Verfahren der Demokratie würden durch die sozialwissenschaftlichen Disziplinen ausgiebig erforscht, doch die sinnliche Dimension der gelebten Demokratie liege weitgehend außerhalb des sozialwissenschaftlichen Forschungsinteresses. Warum aber werden geisteswissenschaftliche Perspektiven auf die Demokratie bisher so selten herangezogen? „Es gibt die Auffassung, die Geisteswissenschaften seien eher schmückendes Beiwerk, ein ‚Nice-to-have‘. Dabei ist doch längst offensichtlich, dass Demokratie ohne ein Verständnis für Inszenierung, Performance, Emotionen gar nicht zu begreifen ist“, sagt Völz.
Auch gegenüber dem Begriff der Ästhetik gab es Vorbehalte. Vielleicht deshalb, weil man die Ästhetik mit Emotionalisierung und Irrationalität verbindet. Ästhetisierte Politik – das schien lange ein Kennzeichen von Monarchie, Kommunismus und Faschismus zu sein. Denn bei diesen Gesellschaftsformen liegt es auf der Hand, dass sich politische Macht mit ästhetischen Mitteln legitimiert. Nicht umsonst spielen durchkomponierte Aufmärsche, prachtvolle oder furchteinflößende Uniformen und inszenierte Rituale in nichtdemokratischen Staaten eine dominante Rolle. Dass die Ästhetisierung der Politik im Krieg münde, diesen Gedanken habe Walter Benjamin aus seiner Beobachtung des Hitler-Faschismus gezogen, räumt Völz ein. „Aber es ist falsch und stark verkürzt zu glauben, dass die Demokratie nur auf einem rationalen Diskurs beruhe“, so Völz. Deutlich werde dies bereits am grundlegenden Begriff des „Volkes“ (Demos). „Das Volk gibt es als solches nicht, der Begriff ist eine Abstraktion. Demokratische Gesellschaften brauchen ästhetische Verfahren, um sich ein Bild vom Volk zu machen“, so Völz.
Die Ästhetik stehe somit nicht im Gegensatz zu Diskurs und rationalem Austausch, sondern sei sogar ein wichtiger Bestandteil davon. Die kritische Auseinandersetzung, das ständige Ringen um die richtige Form des Zusammenlebens, gehöre zum Wesenskern des demokratischen Prinzips: „Die Aushandlung ihrer Form ist ihre Form“, heißt es im Antrag.
Das Feld der geisteswissenschaftlichen Demokratieforschung, ist sich Völz sicher, werde gerade erst vermessen. Was macht die Demokratie jenseits von Institutionen und Prozessen aus? Wie manifestiert sie sich in sinnlichen Erfahrungen? Hierzu mehr zu wissen, könnte auch helfen, die Demokratie weltweit zu stärken. „Solange uns nicht bewusst ist, was das demokratische Zusammenleben ausmacht, wird es uns schwerfallen, die Demokratie zu verteidigen“, so Völz, der aufseiten junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein großes Interesse am Thema ausgemacht hat.
Ein internationales Zentrum der kulturellen Demokratieforschung
Das fachliche Spektrum, das sich in den vertretenen Professuren widerspiegelt, ist breit. Zum Sprecherteam gehört neben Johannes Völz, der an der Goethe-Universität die Professur für Amerikanistik mit Schwerpunkt „Demokratie und Ästhetik“ innehat, die Philosophin Sophie Loidolt von der Technischen Universität Darmstadt. Hinzu kommen zehn weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus folgenden Disziplinen, alle an der Goethe-Universität: Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften, Amerikanistik, Film- und Medienwissenschaften, Germanistik, Kunstgeschichte, Neuere Geschichte, Philosophie, Skandinavistik und Sinologie. Hervorgegangen ist das Graduiertenkolleg aus dem Verbund „Democratic Vistas: Reflections on the Atlantic World“ am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg, dem sämtliche beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angehören. Wie drängend die Fragestellung für die gegenwärtige Forschung ist, wird auch an einer Nachwuchsgruppe an der Graduiertenakademie GRADE deutlich, die sich „Ästhetik demokratischer Lebensformen“ nennt und an verwandten Themen arbeitet. „Frankfurt tut sich schon seit geraumer Zeit durch seine Ästhetikforschung hervor, nicht zuletzt durch den erfolgreichen Masterstudiengang Ästhetik. Mit dem Graduiertenkolleg sind nun die Bedingungen gegeben, die Goethe-Universität und den RMU-Verbund als internationales Zentrum für ästhetische und kulturelle Demokratieforschung zu etablieren“, so Johannes Völz. 18 internationale Partnerinstitute auf 5 Kontinenten werden mit dem Kolleg kooperieren. Zudem werden die Doktorandinnen und Doktoranden ihre Forschung mit regionalen Einrichtungen aus Kultur und Politik in der Zivilgesellschaft verankern. „Uns ist sehr wichtig, dass die Kollegiatinnen und Kollegiaten ihre Forschung mit der Gesellschaft diskutieren im Sinne der ‚public humanities‘“, sagt Völz. Dafür sei ein Perspektivwechsel nötig, sodass zum Beispiel auch literaturwissenschaftliche Fragen in den öffentlichen Diskurs eingebracht werden könnten.
Die Rolle der Künste in der Demokratie
„Die bösen Populisten nehmen uns die Demokratie weg“ – diese Klage reiche nicht aus, um die Demokratie zu retten. Vielmehr müsse man sich damit beschäftigen, was in der Demokratie nicht gut läuft. „Wenn wir den Diskurs ein wenig dahin verschieben können, wie wir die Demokratie wieder stärker in unserem Leben verankern können – dann wäre ein wichtiges Ziel erreicht“, sagt Johannes Völz. Denn auch die Künste spielen eine wichtige Rolle in der Demokratie: Sie reflektieren über das Zusammenleben der Menschen und entwerfen Modelle für neue Lebensformen. Die am Graduiertenkolleg beteiligten Professorinnen und Professoren sehen in ihrer eigenen Forschung vielfältige Anknüpfungspunkte für Dissertationsthemen zum Thema Ästhetik der Demokratie. Doch wolle man den Bewerbern keine Vorgaben machen: „Wir sind alle sehr gespannt, welche Projektideen eingereicht werden“, sagt Völz. Bewerberinnen und Bewerber müssen zunächst kein Deutsch können, für einen Intensivsprachkurs gleich zu Beginn des Aufenthalts in Frankfurt ist gesorgt. Man rechne mit einer internationalen Kollegiatengruppe. „Und natürlich ermutigen wir auch Bewerbungen aus Frankfurt und Darmstadt“, so Völz.
Knapp sechs Millionen Euro hat die DFG für die erste Förderphase zugesagt. Zwei Kohorten von je zwölf Doktorandinnen und Doktoranden werden in den nächsten fünf Jahren an einschlägigen Themen arbeiten. Darüber hinaus gibt es ein Mercator-Fellow-Programm, das renommierte Gastforscherinnen und -forscher nach Frankfurt bringen wird, um mit den Kollegiatinnen und Kollegiaten intensiv zu arbeiten. Die Ausschreibung wird im August beginnen, der Start ist für April 2026 geplant.









