Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen hat anlässlich des siebzigsten Jubiläums des Grundgesetzes ein Memorandum verfasst, das eine Selbstverpflichtung in Form von „Zehn Thesen zur Wissenschaftsfreiheit“ formuliert und Staat und Gesellschaft auffordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Zur „Allianz“ gehört auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK), deren Vizepräsidentin die Präsidentin der Goethe-Universität Prof. Dr. Birgitta Wolff ist.
Es ist Präsidentin Wolff ein Anliegen, die 10 Thesen gemeinsam mit vielen, vielen WissenschaftlerInnen und ihren Organisationen zu vertreten, weiter zu verbreiten und auch in der Goethe-Community zu diskutieren – sofern Interesse besteht. Deshalb dokumentieren wir an dieser Stelle das Abschlussmemorandum der Kampagne „Freiheit ist unser System“ der Allianz der Wissenschaftsorganisationen:
„Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“ – so lautet Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes, das vor 70 Jahren in Kraft getreten ist. Wissenschaftsfreiheit ist ein Grundrecht, zugleich ist sie Pfeiler der liberalen Demokratie und Voraussetzung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Dabei steht dieses Grundrecht auch im Spannungsverhältnis zu anderen verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten und Zielen. Die Gewährung rechtlicher Autonomie und die Bereitstellung finanzieller Mittel durch den Staat, die für eine freie Wissenschaft unverzichtbar sind, gehen einher mit der Verpflichtung, die möglichen Auswirkungen von Forschung mit zu bedenken. Forscherinnen und Forscher ebenso wie wissenschaftliche Einrichtungen sind sich der Verantwortung bewusst, die aus ihrer großen Freiheit erwächst.
Die Wissenschaft in Deutschland hat in diesem Jubiläumsjahr eine gemeinsame Kampagne zur verfassungsrechtlich geschützten Wissenschaftsfreiheit durchgeführt. Unter dem Titel „Freiheit ist unser System. Gemeinsam für die Wissenschaft. 70 Jahre Grundgesetz“ wurden in zahlreichen Veranstaltungen, Reden, Debatten und Beiträgen in den Medien die Bedeutung freier Forschung und Lehre betont, Entwicklungen innerhalb der Wissenschaft kritisch beleuchtet sowie Risiken für die Wissenschaftsfreiheit im In- und Ausland in den Blick gerückt.
Das vorliegende Memorandum versteht sich als Selbstverpflichtung der Wissenschaft in Deutschland, die Freiheit der Wissenschaft zu schützen, sich gegen ihre Beschränkungen zur Wehr zu setzen und sie für künftige Herausforderungen zu stärken.
Zehn Thesen zur Wissenschaftsfreiheit
1. Wissenschaftsfreiheit weltweit fördern
In nicht wenigen Staaten ist die Freiheit der Wissenschaft akut gefährdet, teilweise werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Regimegegner verfolgt oder gar verhaftet. Hier gilt es für die Wissenschaftsorganisationen, die schwierige Balance zu wahren, diesen Gefährdungen entgegenzutreten und zugleich bestehende Kooperationen als wertvolle Freiräume für die Forschenden zu erhalten. Die Wissenschaft in Deutschland verpflichtet sich, in ihren eigenen Organisationen weiterhin und verstärkt Schutz und Perspektiven für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland zu bieten und sich aktiv an Programmen und Netzwerken wie Academy in Exile oder Scholars at Risk zu beteiligen. Mobilität und freier Austausch sind Bedingungen einer erfolgreichen Wissenschaft.
2. Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse stärken
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind keine bloße „Meinungsäußerung“. Die Wissenschaft hat daher auch die gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Unterschied zwischen Meinungen und wissenschaftlich überprüfbaren Erkenntnissen zu verdeutlichen, bei der Vermittlung wissenschaftlicher Ergebnisse auf Klarheit, Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit zu achten und populistisch motivierter Faktenverzerrung den Boden zu entziehen. Dabei muss sie immer wieder die Grenzen gesicherter Erkenntnis und die Bedeutung wissenschaftlicher Kontroversen sichtbar machen. So kann das Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaft und damit in ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Wissenschaftsfreiheit gestärkt werden.
3. Besondere Freiheitsrechte erfordern besondere Selbstkontrolle
In einem überwiegend öffentlich finanzierten Wissenschaftssystem muss sich die Gesellschaft auf die funktionierende Selbstkontrolle der Wissenschaft verlassen können. Betrugsfälle, Machtmissbrauch oder ‚Fake Science‘ untergraben das Vertrauen der Gesellschaft in den verantwortungsvollen Umgang der Wissenschaft mit ihren besonderen Freiheitsrechten. Hochschulen und Forschungseinrichtungen werden ihrer Verantwortung gerecht, indem sie hohe Standards guter wissenschaftlicher Praxis, Integrität, Compliance, Rechtssicherheit und Mitarbeiterschutz erfüllen.
4. Freiheit heißt nicht frei von Regeln
Freie Wissenschaft steht nicht über dem Gesetz. Rechtliche und ethische Grenzen der Forschung werden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen und Debatten festgelegt und auf den Prüfstand gestellt – etwa wenn es um Tierversuche, um Fragen humaner Genomforschung oder Künstlicher Intelligenz geht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen bei ethisch sensibler Forschung stets sorgfältig Chancen und Risiken ihres Tuns abwägen. Wissenschaftliche Einrichtungen unterstützen diese Prozesse mit Ethik-Kommissionen und Beratungsstrukturen.
5. Freie Wahl von Forschungsgegenständen gewährleisten
Die Orientierung an Trends kann helfen, Expertise im Wissenschaftssystem zu bündeln und interdisziplinäre Forschung zu befördern, wie es derzeit etwa beim Thema Künstliche Intelligenz geschieht. Dennoch ist eine grundsätzliche Freiheit bei der Wahl von Forschungsgegenständen erforderlich, um die Vielfalt des Systems zu erhalten. Dafür ist es wichtig, dass ausreichende Mittel für Forschungsgegenstände außerhalb aktueller Trends verfügbar sind, dass hochrangige wissenschaftliche Journale auch Replikationsstudien oder negative Forschungsergebnisse veröffentlichen. Forschung darf nicht ausschließlich ökonomischen Nutzen oder konkrete Anwendungsmöglichkeiten ergeben – die Bedeutung der gesamten Wirkungskette von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung muss disziplinübergreifend zur Geltung gebracht und in die Gesellschaft kommuniziert werden.
6. Wissenschaftsfreiheit gilt auch für Wissenstransfer
Kooperationen der Wissenschaft mit externen Partnern wie Unternehmen und anderen Akteuren sind wichtig, um die Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft zu stärken und gleichzeitig Impulse aus der Praxis für die Forschung zu nutzen. Dieses heute immer wichtigere Rollenverständnis der Wissenschaft stellt neue Anforderungen an die Transferleistung außeruniversitärer und universitärer Wissenschaftseinrichtungen. Die Sicherung der Wissenschaftsfreiheit ist hier bei Kooperationen mit Unternehmen besonders relevant: Die Nachvollziehbarkeit der in den Kooperationen entstandenen Forschungsergebnisse und deren Unabhängigkeit müssen angemessen gewährleistet sein.
7. Freie Wissenschaft braucht verlässliche Rahmenbedingungen
Institutionelle Autonomie und verlässliche Finanzierung sind notwendige Voraussetzungen für freie Wissenschaft. Nur durch eine angemessene Grundfinanzierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen kann sichergestellt werden, dass Forscherinnen und Forscher vielfältigen Fragestellungen nach eigenem Ermessen und gesellschaftlichen Bedarfen nachgehen und zu nicht vorhersehbaren Erkenntnissen gelangen können. Verlässliche Finanzierung ist zudem Grundvoraussetzung für den Ausbau strukturierter und attraktiver Karrierewege in der Wissenschaft.
8. Forschungsleistung bewerten ohne die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken
Anreiz- und Belohnungssysteme der Wissenschaft dürfen freie Forschung nicht einschränken,sondern müssen sie befördern. Wissenschaftsfreiheit gedeiht besonders gut, wenn Leistung und Erfolg in der Wissenschaft an Qualität und nicht hauptsächlich an Quantität bemessen werden. Originelle Forschung geht nicht immer mit einer hohen Zitationsquote einher – letztere jedoch dominiert heute die Bewertung des Erfolgs von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Auch Vorgaben und Bewertungsinstrumente der wissenschaftlichen Verlage müssen kritisch hinterfragt werden, inwiefern sie die Freiheit der Wissenschaft befördern oder behindern.
9. Freiheit der Wissenschaft erfordert eine Debattenkultur
Offene Diskurse und die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden sind ein wesentliches Fundament der Wissenschaftsfreiheit. Studierenden aller Disziplinen muss der hohe Wert einer freien wissenschaftlichen Debatte vermittelt werden – sie sollen lernen, sich mit unterschiedlichen Perspektiven kritisch auseinanderzusetzen, auch mit der eigenen. Diese Erfahrungen mit wissenschaftlicher Kontroverse tragen auch zur Stärkung der Grundwerte der liberalen Demokratie bei, die für umfassende Wissenschaftsfreiheit wiederum unverzichtbar sind.
10. Wissenschaftsfreiheit braucht den Diskurs in der Gesellschaft
In Deutschland ist freie Wissenschaft ein so hoch geschätztes Gut, dass ihre politische und gesellschaftliche Wertschätzung selbstverständlich scheinen mag. Diese Position kann die Wissenschaftsfreiheit jedoch nur behalten, wenn sie als lebendige, dynamische Idee für die Zukunft adaptiert wird und sich den neuen Herausforderungen und Ansprüchen stellt. Wissenschaftsfreiheit ist eng gebunden an einen aktiven Austausch und Diskurs in der Gesellschaft. Einer umfassenden Wissenschaftskommunikation kommt deshalb die Aufgabe zu, mit anderen gesellschaftlichen Akteuren in einen steten Austausch über die Wirkung und die Erkenntnisse sowie die Grenzen von Wissenschaft zu treten.“