Pluralismus als Alleinstellungsmerkmal

Podiumsdiskussion beim ersten Fachbereichstag im Juli 2015
Podiumsdiskussion beim ersten Fachbereichstag im Juli 2015; Foto: Uwe Dettmar

Globale Konflikte, Klimagerechtigkeit, soziale Spannungen, Burnout als kollektive Erschöpfung – die Forscherinnen und Forscher aus Politikwissenschaft und Soziologie blicken hinter die Systeme und setzen sich damit auseinander, wie Gesellschaften, staatliche Institutionen und Nichtregierungsorganisationen funktionieren.

In Deutschland gehört der Fachbereich 03 zu den größten, traditionsreichsten und leistungsstärksten sozialwissenschaftlichen Einrichtungen.

Für viele, die die schweigende Nachkriegsgesellschaft und das kapitalistische System hinterfragten, war Frankfurt in den 1960er Jahren ein Mekka. Die Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer machte die Universität zu einem Zentrum des intellektuellen Widerstands der 68er-Studentenbewegung.

Geschichte schrieben die Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt allerdings schon früher, denn mit Franz Oppenheimer wurde 1919 der erste deutsche Lehrstuhl für Soziologie besetzt: Die Erforschung der „sozialen Frage“ war den Stiftern der Universität ein wichtiges Anliegen.

In einer Welt des radikalen Wandels und vielfacher Krisenherde sind die Herausforderungen für gesellschaftliche Vordenker heute nicht geringer geworden: Was ist gerecht in Zeiten der Globalisierung? Wie lassen sich Standards aushandeln, wenn der nationale Rahmen nur noch bedingt Relevanz hat? Wie entstehen soziale Konflikte innerhalb einer Gesellschaft?

Ein weiter Blickwinkel

„Im Vergleich mit anderen deutschen Universitäten haben wir wirklich ein Alleinstellungsmerkmal durch unseren Pluralismus“, sagt Prof. Sigrid Roßteutscher, die Dekanin des Fachbereichs 03. Mit 44 Professuren hat der Fachbereich die nötige Größe, um das komplette Angebot in den Sozialwissenschaften abzudecken. „Das macht uns besonders“, weiß Roßteutscher, die selbst das Thema „Soziale Konflikte und sozialer Wandel“ erforscht.

„Während viele vergleichbare Fachbereiche aus Kapazitätsgründen eine eher paradigmatische Ausrichtung wählen müssen, gibt es bei uns teilweise noch für jede Subdisziplin innerhalb der Disziplinen zwei bis drei Professuren, die wiederum unterschiedliche Schwerpunkte setzen.“

Inhaltlich lässt sich der Fachbereich daher kaum an einer bestimmten Ausrichtung festmachten: Die Weiterentwicklung der Frankfurter Schule werde heute, so Roßteutscher, vor allem in der Mikrosoziologie und der Sozialpsychologie betrieben. In der Politikwissenschaft finde die normative Theorie viel Beachtung, für die u.a. Leibniz-Preisträger Prof. Rainer Forst stehe. Beispiele für weitere Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende Demokratieforschung sowie die – noch recht junge – politische Ökonomie.

Entsprechend groß ist die Bandbreite der Forschungsansätze und -methoden, die von hermeneutischer Textinterpretation über quantitative Survey-Analysen mit hohem Statistikanteil bis zu Narrativinterviews reicht. Leicht ist es aber nicht, den Status quo zu halten: Der Fachbereich sei an der Goethe-Universität von den Konsolidierungsmaßnahmen am stärksten betroffen, stellt die Dekanin klar.

Die Gesellschaftswissenschaftler arbeiten dabei eng vernetzt mit zahlreichen universitätsinternen und -externen Frankfurter Forschungseinrichtungen. Ein intensiver Austausch besteht unter anderem mit dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, mit der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), dem Cornelia-Goethe-Centrum für Geschlechterforschung (CGC), dem Institut für Sozialforschung (ISF), dem Sigmund-Freud-Institut (SFI) oder dem Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK).

Bei vielen der Institutionen sind die Wissenschaftler in Form von Doppelprofessuren tätig, engagieren sich in den jeweiligen Gremien oder diskutieren beispielsweise gemeinsam bei Kolloquien.

Die große Freiheit

Das breite Themenspektrum macht die Frankfurter Gesellschaftswissenschaften auch zu einem Magnet für viele Studierende. Während anderswo im Zuge der Bologna-Reform über die starke Verschulung gestöhnt wird, haben die Studierenden des FB 03 die große Freiheit – zumindest, wenn sie sich in der Einführungsphase bewährt haben.

In den ersten zwei Semestern werden die Studienanfänger „abgeholt“ und mit dem Basiswissen der Sozialwissenschaften vertraut gemacht, lernen die Arbeitsmethoden kennen. „Aber ab dem 3. Semester haben die Studierenden fast komplette Wahlfreiheit, während an anderen Universitäten nahezu das gesamte Studium vorgegeben ist“, erklärt Roßteutscher.

[dt_quote type=“pullquote“ font_size=“h4″ background=“fancy“ layout=“right“ size=“3″]„Das Klischee vom Taxi-fahrenden Absolventen stimmt nicht“[/dt_quote]

So vielfältig wie die Themen seien auch die späteren Laufbahnen der Alumni, so die Dekanin. Zwar sei der Journalismus ein häufig geäußerter Berufswunsch bei Studienanfängern, Gesellschaftswissenschaftler finden sich aber auch bei Survey-Instituten, Beratungsstellen, Gewerkschaften – oder in der Politik: Mit Minister Tarek Al-Wazir gibt es zum Beispiel aktuell einen prominenten Alumnus in der hessischen Landesregierung.

„Das Klischee vom Taxi-fahrenden Absolventen stimmt nicht“, so Dr. Karlheinz Kreß, der das Dekanat gemeinsam mit Dr. Susanne Braun leitet. Einblick in mögliche Karrieren gab es im Juli beim ersten Fachbereichstag, zu dem unter anderem ehemalige Absolventen eingeladen waren, um über ihre Werdegänge zu berichten.

Ein Fachbereich in Bewegung

[dt_quote type=“pullquote“ font_size=“h4″ background=“fancy“ layout=“left“ size=“3″]„Der Umzug hat zu einem besseren Zusammenhalt beigetragen“[/dt_quote]

Umbrüche und Veränderungen sind nicht nur das Thema des Fachbereichs; die Gesellschaftswissenschaftler haben sich auch selbst in den letzten zehn Jahren von innen heraus erneuert. In erster Linie durch den Generationenwechsel: Rund 80 Prozent der Professuren wurden neu besetzt; damit kamen auch neue Themen und Methoden an den Fachbereich. Durch den Umzug auf den Campus Westend ist auch atmosphärisch einiges in Bewegung gekommen. Wohl kein anderer Fachbereich wurde so stark mit dem mittlerweile gesprengten AfE-Turm in Verbindung gebracht.

Seit 2013 sind die Gesellschaftswissenschaftler genauso so wie ihre einstigen Turm-Mitbewohner der Fachbereiche 04 und 05 im PEG-Gebäude zuhause. „Der Umzug hat zu einem besseren Zusammenhalt beigetragen, schon allein, weil die Kommunikation viel einfacher geworden ist“, erzählt Kreß. „Im Turm waren wir auf viele Stockwerke verteilt, nun können wir vieles mit einem kurzen Gang über den Flur klären.“

Dennoch ist es für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Unialltag nicht immer leicht, Raum für den fachlichen Austausch zu finden. „Durch die Größe des Fachbereichs gibt es eigentlich ständig Veranstaltungen und Vorträge“, erklärt Roßteutscher. „Das macht es schwierig, alles wahrzunehmen.“

Die Identifikation finde daher auch eher auf Ebene der einzelnen Disziplinen oder Forschungsmethoden statt. Umso wichtiger ist es dem Fachbereich, auf der nicht-fachlichen Ebene das Wir-Gefühl zu stärken: Sommerfest und Weihnachtsfeier haben Tradition, bringen die Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen zusammen.

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FB 03 in Kürze

Die Geschichte der Frankfurter Gesellschaftswissenschaften ist mit vielen berühmten Namen verbunden: Franz Oppenheimer wurde auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie berufen, später prägten Intellektuelle wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Iring Fetscher die Diskussionen.

  • 44 Professuren, 125 wissenschaftliche Mitarbeiter, 37 administrative  Beschäftigte
  • 3.646 Studierende Hauptfach-Studierende, 5.825 Studierende mit Gesellschaftswissenschaften als Nebenfach
  • 10 Studiengänge (Bachelor, Master)

Interdisziplinäre Kooperationen innerhalb der Goethe-Universität unter anderem mit: Cornelia Goethe Centrum für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse (CGC), Exzellenzcluster Herausbildung normativer Ordnungen, Goethe Graduate Academy (GRADE), Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur (IWAK), Zentrum für interdisziplinäre Afrikaforschung (ZIAF), Interdisziplinäres Zentrum für Ostasienstudien (IZO), Zentrum für Nordamerika-Forschung (ZENAF).

Zu den außeruniversitären Kooperationspartnern in Frankfurt gehören insbesondere die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Sozialforschung (IfS), das Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) und das Sigmund Freud Institut (SFI).

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