Zur Umsetzung der »dritten Option« an der Goethe-Universität
Radikal Neues kann nur entstehen, wenn Strukturen abgebaut werden – so lässt sich die Quintessenz von Jack Halberstams Vortrag mit dem Titel „After all: On Destitution and Dereliction“ zusammenfassen. Der sehr gut besuchte Vortrag fand am 15. Januar 2020 im Rahmen des Cornelia Goethe Colloquiums „Trans*Formationen“ an der Goethe-Universität statt. Er schloss an Halberstams aktuelle Arbeiten zu Trans*Anarchitecture an.
Der anspielungsreiche Begriff „Anarchitecture“ wird gemeinhin mit Arbeiten des US-amerikanischen Künstlers Gordon Matta Clark aus den 1970er Jahren assoziiert. Dessen Einschnitte in Gebäude, die dadurch produzierten Öffnungen und neuen Perspektiven können, so Halberstam, als eine Dekonstruktion traditioneller Konzepte von Heim/at und Raum sowie als Kritik am Immobilienmarkt und an neoliberalen Gesellschaften gelesen werden.
Ausgehend davon, dass sich Herrschaftsverhältnisse auch in der Gestaltung von Raum und insbesondere in Architektur ausdrücken, verbindet Halberstam architektonische De/Konstruktionen mit dem Dekonstruieren von vergeschlechtlichten Körpern. Trans*Körper stellten eine Metapher dafür dar, dass alle Körper „verkehrt“ und in einem rigide begrenzenden System situiert seien und sie irritierten binäres Denken. In dieser Perspektive sei das Ziel nicht, Anerkennung zu finden, sondern vielmehr das System, also die Struktur oder Grammatik aufzulösen, die für Zuschreibungen wie „richtig“ und „falsch“ verantwortlich sei.
Weil es nicht um Anerkennung gehe, seien neue visuelle, haptische, auditive und räumliche Codes notwendig, die Erfahrungen von Trans*Körpern und Personen figurieren können. Illustrationen architektonischer Arbeiten von Gordon Matta Clark, Alvin Baltrops Fotografien einer schwarzen schwulen Subkultur in den verfallenen New Yorker Piers der 1970er sowie Film Stills aus Lizzie Bordens Experimentalfilm „Born in Flames“ über eine feministische Guerilla-Armee, die gegen Rassismus und patriarchale Strukturen vorgeht, unterstrichen die zentralen Ideen des Vortrags:
Wenn subversive Konzepte entwickelt werden sollen, setzt dies einen Bruch mit der dominanten Rhetorik voraus; ein Gedanke, den Audre Lordes programmatisches Zitat „The master’s tools will never dismantle the master‘s house“ unterstrich. Was bedeuten nun diese radikalen und dystopischen wie auch inspirierenden Gedanken für das Nachdenken über die Umsetzung der sogenannten dritten Option auch an der Goethe-Universität? Mit welchen Maßnahmen wird hier der gelebten Geschlechtervielfalt begegnet?
Geplante Maßnahmen an der Goethe-Universität
Durch die Änderung des Personenstandsgesetzes im Dezember 2018 wurde für Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können, ermöglicht, keine Angabe oder die Angabe „divers“ ins Personenstandsregister einzutragen. Um nachträglich eine Anpassung des Personenstandes vornehmen zu können, muss jedoch eine ärztliche Bescheinigung der sogenannten „Variante der Geschlechtsentwicklung“ erbracht werden.
Diese Abhängigkeit von der ärztlichen Attestierung körperlicher Merkmale wird von vielen Inter*- und Trans*-Verbänden heftig kritisiert und fällt darüber hinaus hinter die vorausgehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (2017) zurück, nach der die Geschlechtsidentität selbstbestimmt ist. Im Zusammenhang mit dieser Neuregelung und der Umsetzung des 2006 in Kraft getretenen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) finden an vielen Hochschulen umfassende Um- und Neustrukturierungen statt, um den Bedarfen von trans*- und intergeschlechtlichen sowie nicht binär verorteten Menschen entgegenzukommen.
Im Gleichstellungsbüro der Goethe-Universität wurde 2019 eine Antidiskriminierungsstelle eingerichtet, die Mitglieder und Angehörige der Universität, die von Diskriminierung betroffen sind, berät und Maßnahmen zum Schutz vor Diskriminierung entwickelt. Nach Marcia Moser, Mitarbeiterin im Bereich Diversity Policies und Mitglied der Kommission Queere Gleichstellungspolitik der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen, stehen aktuell vier Handlungsfelder im Vordergrund:
- Mit der Einführung von All-Gender-Welcome- Toiletten auf den Campi der Goethe-Universität sei das Ziel verknüpft, diese in allen Gebäuden in erreichbarer Entfernung auszuweisen. Derzeit gibt es lediglich zwei Orte mit All-Gender-Welcome- Toiletten: das Gleichstellungsbüro und eine Toilette im IG-Farben-Gebäude, deren Kennzeichnung „all gender“ inzwischen geduldet wird.
- Bei Maßnahmen rund um das Identitätsmanagement geht es um Fragen des Geschlechtseintrags, insbesondere um die Einführung der Kategorie „divers“ und die Möglichkeit, in personenbezogenen Daten von einer Geschlechtskennzeichnung abzusehen (z. B. in SAP, HIS).
- Damit zusammenhängend, aber ungleich schwieriger zu lösen, ist die Frage der Namensänderung (z. B. für die Goethe-Card), für die bisher ein relativ hürdenreiches Verfahren vorgesehen ist: Benötigt werden ein Ergänzungsausweis mit den selbstgewählten personenbezogenen Daten, ausgestellt durch die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti), sowie ein Nachweis der Eröffnung des Namensänderungsverfahrens beim Amtsgericht.
- Im Handlungsfeld Beratung und Sensibilisierung wird individuelle Unterstützung mit der Entwicklung institutionell wirksamer Maßnahmen verbunden. Gleichzeitig wird an einer Broschüre mit Empfehlungen zu einer geschlechterinklusiven Anrede in E-Mails sowie Vorschlägen zum Umgang mit Pronomina in der in/formellen Kommunikation gearbeitet.
Neben diesen Maßnahmen gibt es Beispiele dafür, wie bereits jetzt auf einer mittleren Handlungsebene eine anerkennende Auseinandersetzung mit Geschlechtervielfalt zum Ausdruck gebracht werden kann. So macht ein Brief des Fachbereichs Neuere Philologien auf Anliegen von Trans*Studierenden aufmerksam und bittet Lehrende, diese aufzunehmen und Wünschen bezogen auf Namens- und Geschlechtsbezeichnung in Lehrveranstaltungen und auf Anwesenheitslisten zu entsprechen.
Working with the master’s tools or dismantling the master’s house?
In diesen geplanten Maßnahmen zeigen sich Öffnungen der binären Geschlechterordnung. Deren symbolischer Ausdruck in Grammatiken wie etwa den verzweigeschlechtlichten Toiletten oder in sprachlichen Artikeln und Pronomina wird entweder um eine dritte Option oder um geschlechtsneutrale Optionen erweitert. Die damit verbundene Absicht, Trans* und Inter*Geschlechtlichkeit in den Alltag einzuführen und Diskriminierung entgegenzuwirken, kann in Anbetracht zunehmender antifeministischer und antigenderistischer Diskurse als eine couragierte Positionierung der Goethe-Universität bewertet werden.
Diskutiert man solche Gleichstellungsmaßnahmen im Lichte der Ausführungen von Halberstam, wird schnell deutlich, dass sie Anerkennungspolitiken verhaftet bleiben; das Haus bleibt nach Audre Lordes Metaphorik bestehen. Jedoch helfen Halberstams Überlegungen, Gleichstellungspolitiken sowie Forschung und Lehre zu befragen und zukunftsweisend weiterzuentwickeln. Die Vorträge in unserer Reihe wiesen insgesamt darauf hin, dass die Einführung einer Kategorie „divers“ bei Weitem nicht die einzige Lösung sein kann, um der Diskriminierung und Prekarisierung von inter*, trans* und nicht binär lebenden Menschen entgegenzuwirken.
Vielfach wäre der generelle Verzicht auf (Geschlechts-)Zuordnungen bei gleichzeitiger Berücksichtigung von individuellen Lebenslagen, Ungleichheitsverhältnissen und daraus resultierenden Benachteiligungen (aufgrund von z. B. Rassismus, Klassismus oder Cis*Normativität, d. h. der normativen Erwartung, dass das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht kontinuierlich angenommen und gelebt wird) möglicherweise die bessere Option. Grundsätzlich ist zu fragen: Welche Geschlechtsidentitäten profitieren von den Gleichstellungsmaßnahmen und welche nicht?
Inwiefern werden neue Sichtbarkeiten erzeugt, die die Angreifbarkeit von gender-nonkonformen Personen erhöhen? Welche weiteren im universitären Alltag relevanten Ungleichheit(sordnung)en rücken durch die Fokussierung von Trans* und Inter* in den Hintergrund? Inwiefern zeigt sich die Berücksichtigung ihrer Lebenslagen in Forschung und Lehre?
Die Entselbstverständlichung der Zweigeschlechtlichkeit eröffnet einen Raum für Lern- und Bildungsprozesse. Halberstam argumentiert in seinem Buch „The Art of Queer Failure“ mit Rancières‘ „Unwissendem Lehrmeister“. Demnach lernen Menschen nicht durch die Vermittlung von Kenntnissen in einer hierarchisch strukturierten Lehr- Lern-Situation, sondern indem sie selbst Neues erkunden und erkennen, wobei Umwege, Fehler und Irrwege für Lernprozesse von hoher Bedeutung seien.
Wenn sich Lernende also verlaufen müssen, um ihren Weg (zur Toilette… Anm. BK/MS) zu finden, lägen kleine Transformationsmöglichkeiten jetzt doch zumindest in der Irritation, die architektonische oder sprachliche Umbauten in Bezug auf Geschlechterwissen auslösen können sowie in der performativen Einführung und im Erkennen einer veränderten Geschlechterordnung. Prof. Dr. Bettina Kleiner ist Professorin für Gender Studies und Qualitative Methoden am Fachbereich Erziehungswissenschaften.
Bettina Kleiner und Marianne Schmidbaur
Prof. Dr. Bettina Kleiner ist Professorin für Gender Studies und Qualitative Methoden am Fachbereich Erziehungswissenschaften.
Dr. Marianne Schmidbaur ist Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Cornelia Goethe Centrums.
Webseite des Cornelia Goethe Centrums: www.cgc.uni-frankfurt.de
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.20 des UniReport erschienen.