(Nur) der Vollzeitjob ein Garant für soziale Teilhabe? Interview mit Carlotta Giustozzi

Die Soziologin Carlotta Giustozzi hat sich in ihrer Dissertation mit den Folgen von Marginalisierung auf dem Arbeitsmarkt für soziale Teilhabe beschäftigt. Aus den Ergebnissen ihrer Arbeit hat sich unter anderem die Frage ergeben, inwiefern ein gesellschaftlicher Fokus auf Vollzeiterwerbsarbeit schädlich für Individuum und Gesellschaft sein können.

UniReport: Frau Dr. Giustozzi, dass Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse Auswirkungen auf unser soziales Leben haben, würde wohl niemand bestreiten. Was hat Sie an dem Thema interessiert?

Carlotta Giustozzi: Ich habe vorher in einem Forschungsprojekt gearbeitet, das sich mit den Folgen von Arbeitslosigkeit nach der Finanzkrise in unterschiedlichen europäischen Ländern beschäftigt hat. Im Fokus meines Teilbereichs stand dabei, inwiefern sich diese auf die soziale Integration von Personen auswirkt. Dazu gehörte auch, ob sich Arbeitslosigkeit in Ländern mit einem gut funktionierenden Sozialstaat anders auswirkt als in Ländern mit wenig staatlicher finanzieller Unterstützung für Arbeitslose. Daran anknüpfend fand ich es interessant, nicht nur eine einmalige Arbeitslosigkeit zu betrachten, sondern mehr auf Prozesse zu schauen: Was macht es mit der Identität von Menschen, wenn sie immer wieder von Arbeitslosigkeit betroffen sind? Wie wirkt sich eine solche dauerhafte Prekarität auf das soziale Miteinander aus?

Dr. Carlotta Giustozzi ist seit November 2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im ERC-Projekt POLAR an der Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialstruktur und Sozialpolitik (Prof. Markus Gangl). Im Projekt erforscht sie die Folgen ökonomischer Ungleichheit für sozialen Zusammenhalt und gesellschaftliche Partizipation. Foto: privat

Materielle Sicherheit sei insgesamt ein überschätzter Faktor, sagen Sie an einer Stelle ihrer Dissertation.

Man könnte erst einmal denken: Eine Person, die auf Arbeitslosengeld angewiesen ist, verfügt erstmal über weniger finanzielle Ressourcen. Das kann sich dann auf die sozialen Kontakte auswirken. Sie kann sich z. B. nicht mehr leisten, jemanden zum Essen einzuladen oder muss umziehen, weil die Wohnung zu teuer geworden ist. Dann wird sie aus ihrem sozialen Netzwerk vor Ort gerissen. In meinen Analysen kam nun raus, dass sich das gesellschaftliche Engagement sicherlich reduziert, wenn man weniger finanzielle Ressourcen hat, wie im Falle einer Arbeitslosigkeit. Es spielen aber eben auch noch andere Faktoren, nicht nur materielle, eine Rolle. Gerade das hat mich an dem Thema interessiert.

Sie wollen also ganzheitlicher auf die Menschen schauen. Wie lassen sich denn soziales Engagement und Eingebundensein in Familie und Freundeskreis quantitativ erfassen?

Ich habe für meine Arbeit auf eine Längsschnittstudie, das Deutsche Sozio-oekonomischen Panel, zurückgreifen können und diese Daten mit Informationen zu den jeweiligen Regionen kombiniert, in denen die Menschen leben, die an der Studie teilgenommen haben. Die Studie wird seit 1984 durchgeführt und liefert viele verschiedene Informationen zum Arbeitsleben, aber auch zu Familienstatus und Einstellungen zu verschiedenen Themen. Allen Individuen werden wiederkehrend (fast) dieselben Fragen gestellt. Die Frage, ob die Identität einer Person von der Lage auf dem Arbeitsmarkt stark oder weniger stark betroffen ist, ist natürlich nicht so leicht zu beantworten. Eine Frage, die ich verwendet habe, lautet: Wie häufig treffen Sie Freunde und Familie, wie oft helfen Sie ihnen? Leben Sie mit Partner und mit Kindern im Haushalt? Man kann auch geschlechtsspezifische Effekte berechnen, weil diese Informationen im Datensatz vorhanden sind.

Sie haben in Ihrer Untersuchung auch regionale Unterschiede festmachen können.

In bestimmten Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ist das gesellschaftliche Engagement insgesamt geringer. In Regionen mit geringer Arbeitslosigkeit ist wiederum die individuelle Situation von größerer Bedeutung, denn hier ist es schwerwiegender, selbst von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Weil man, so zumindest meine Deutung, im Vergleich zu den anderen schlechter dasteht, mehr von Stigmatisierung und Diskriminierung betroffen ist. Hingegen fällt in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit das Individuelle nicht so stark ins Gewicht. Was man ebenfalls noch feststellen kann: Frauen sind für ihre Erwerbslosigkeit mehr vom lokalen Kontext abhängig. Sie profitieren beispielsweise davon, wenn es eine gute Kinderbetreuung gibt. Männer sind wiederum weniger vom strukturellen Umfeld abhängig.

Auch Männer sind von der dominierenden Struktur der Vollzeitarbeit negativ betroffen, schreiben Sie.

Ja, auch Männer leiden darunter. Während die persönlichen Beziehungen von Männern durch die Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigt werden, ist dies bei Frauen nicht im gleichen Maße der Fall. Ich fand es interessant, das auch mal aus diesem Blickwinkel zu betrachten, nicht nur aus der Perspektive der Benachteiligung und Abhängigkeit von Frauen – die natürlich ein Faktum ist!

An einer Stelle sagen Sie, dass Menschen, deren Identität nicht allein an den Job und an die Vollzeiterwerbstätigkeit gekoppelt ist, weniger stark von sozialer Exklusion betroffen sind, wenn sie arbeitslos werden.

Ja, ich habe mir die nahen sozialen Bindungen angeschaut und das gesellschaftliche Engagement. Man kann sagen, dass für Personen, denen Familie und Partnerschaft wichtig sind, die sich gerne um andere kümmern, die negativen Effekte von Arbeitsmarktmarginalisierung abgefedert werden. Solche Menschen finden auch jenseits des Berufs Sinnstiftendes im Leben. Interessant ist in dem Zusammenhang: Bei Personen, denen Beruf und Karriere wichtig ist, führt eine lange Arbeitslosigkeit zu mehr sozialem Engagement. Ich hatte zunächst vermutet, dass die Gruppe sich im Falle einer Arbeitslosigkeit stärker zurückzieht.

Es fällt bei Ihnen auch der Begriff der »akkumulierten Marginalisierung«, bezogen auf Menschen, die sich dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt schwertun.

Wenn jemand nur drei Monate arbeitslos ist, wirkt sich das kaum auf die Identität aus. Aber ab einem halben Jahr verstärkt sich das deutlich und kann zum Beispiel mit einem Motivationsverlust einhergehen. Aber es lässt sich auch auf der anderen Seite des Spektrums etwas Interessantes beobachten: So hat eine lange und andauernde Vollzeitarbeit negative Effekte für das gesellschaftliche Engagement. Das kann damit zusammenhängen, dass die Menschen in ihrem Beruf sehr stark eingebunden sind und wenig Zeit haben, um sich gesellschaftlich einzubringen. Das habe ich bislang noch nicht weiter erforscht, würde mir das aber gerne einmal näher anschauen. Eine Gesellschaft, die sehr stark auf Vollzeitarbeit setzt, muss sehen, dass dies auch zu einem Mangel an sozialem Engagement führen kann. Nicht nur Vollzeitarbeit ist individuell und gesellschaftlich identitätsstiftend. Die Gesellschaft sollte sich die Frage stellen: Ist die Wertigkeit eines Menschen nur an seine Arbeitsmarktsituation gekoppelt? Es geht auch darum, wie man Leuten begegnet, die auf dem Arbeitsmarkt nicht so gut performen. Es wäre sicherlich gut, auch diesen Menschen einen würdevollen Platz in der Gesellschaft zuzugestehen.

Fragen: Dirk Frank

Carlotta Giustozzi
Social Consequences of Labour
Market Marginalisation in
Germany. Analysing the Impact
of Social Identities and Values

Budrich 2022, Leverkusen
268 Seiten, 36 Euro

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