Wolfgang Meseth sprich im Interview über die Veranstaltungsreihe »Diversität und Diskurs / Antisemitismus. Erinnerungskultur. Demokratie. / Wie (un-)politisch ist die Universität?«, die in Kooperation mit der Jüdischen Akademie am 28. Mai gestartet ist. Heute findet die zweite Vorlesung der Reihe statt.
UniReport: Herr Prof. Meseth, wie ist die Idee für diese Reihe entstanden, was erhoffen Sie sich persönlich davon?
Wolfgang Meseth: In den letzten Jahren konnten wir immer wieder beobachten, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen, von der COVID-19-Pandemie über die Themen Flucht, Migration oder Geschlechterordnung bis zum Klimawandel und dem Krieg in der Ukraine, an Universitäten gleichsam doppelt verhandelt werden: als Themen der Forschung und als Themen der politischen Forderungen und Positionierung. Das ist nicht ungewöhnlich, zumal in den Sozial- und Geisteswissenschaften, deren Gegenstände immer auf Gesellschaft verweisen, in die diese Gegenstände eingebettet sind. Sie sind damit unhintergehbar in die Aushandlung der großen politischen Frage nach Gerechtigkeit verstrickt. Es gehört zu den vornehmsten wissenschaftstheoretischen Herausforderungen, stets aufs Neue und für jeden Gegenstand im Einzelnen zwischen wissenschaftlichen und politischen Aussagen, zwischen Tatsachen und Werten, zwischen Deskription und Präskription zu unterscheiden. Wir wissen, dass es eine „wertfreie“ Wissenschaft nicht gibt, doch gerade deshalb besteht die Aufgabe der Wissenschaft darin, diese Differenzen zu ziehen, sich reflexiv auf die normativen Implikationen ihrer Gegenstände zu beziehen und öffentlich darauf aufmerksam zu machen, dass es einen Unterschied macht, ob ich wissenschaftliche oder politische Sätze formuliere. Genau das ist das Anliegen der Ringvorlesung: zunächst und ganz basal an diesen Unterschied zu erinnern, ihn wissenschaftstheoretisch stark zu machen und am Beispiel der aktuellen Themen Antisemitismus, Erinnerungskultur und Demokratie zu diskutieren. Persönlich erhoffe ich mir, dass diese anspruchsvolle Aufgabe gelingt und wir in der Sache zu Differenzierungen gelangen, die uns helfen, die aktuellen Konflikte in ihren Spannungsfeldern besser zu verstehen.
Die Analyse des auch in Deutschland neu aufgeflammten Antisemitismus spielt in der Vortragsreihe eine zentrale Rolle. Wo sehen Sie bei diesem Thema die besonderen Herausforderungen?
Unter dem Eindruck des erstarkten Antisemitismus in Deutschland im Gefolge des immer noch kaum in Worte zu fassenden Entsetzens über das Massaker durch Mitglieder der Hamas im Süden Israels, den Krieg in Gaza und die vielen zivilen Opfer, steht die Universität vor einer Aufgabe, die sie nicht nur als Forschungseinrichtung im Sinne der oben bereits beschriebenen Herausforderungen betrifft. Als Organisation steht sie auch in der Verantwortung, ihre Mitglieder zu schützen und ihnen zu ermöglichen, ohne Angst vor Übergriffen und Beleidigungen studieren und arbeiten zu können. Zudem steht sie vor der Herausforderung, zu entscheiden, welche politischen Positionierungen auf dem Campus noch durch das Gebot der Meinungsfreiheit gedeckt sind, wann der Wertbezug der Menschenwürde durch antisemitische und rassistische Positionen verletzt wird und mit welchen (rechtlichen) Maßnahmen darauf dann zu reagieren ist. Die Ereignisse an den amerikanischen Universitäten, aber auch an deutschen Universitäten und jüngst auch auf dem Campus der Goethe-Universität, haben gezeigt, dass diese Fragen oft nicht einfach zu entscheiden sind und es vor allem keine Verfahren gibt, die eine schnelle, sichere und angemessene Reaktion ermöglichen.
In welchem Zusammenhang stehen hier die Themen Erinnerungskultur und Demokratie?
Erinnerungskultur und Demokratie sind für sich genommen zunächst Themen des Politischen. Sie verweisen auf grundlegende Fragen des menschlichen Zusammenlebens und kollektiv geteilter Werte, die durch den Bezug auf eine als gemeinsam verstandene Vergangenheit kommunikativ hergestellt werden. In Deutschland ist dieser Wertbezug eng mit den Fragen der Singularität und Vergleichbarkeit der Shoah verknüpft. Es ist dieses Selbstverständnis, das mit Blick auf aktuelle Geschehnisse und sich dadurch rapide verändernde gesellschaftliche Konstellationen des Erinnerns irritiert wird. Beredte Beispiele hierfür sind transnationalisierte erinnerungskulturelle Konflikte, wie sie sich in Deutschland etwa in aktuellen Debatten zum Verhältnis von Antisemitismuskritik und Rassismuskritik, zum Verhältnis Holocaust und Kolonialverbrechen oder auch in Bezug auf rechtspopulistische Inanspruchnahmen von Erinnerungskultur und durch den Konflikt im Nahen Osten zeigen. Uns ist es mit dieser Ringvorlesung wichtig, Differenzierungen vorzunehmen und Deutungsangebote für diese erinnerungskulturellen Transformationsprozesse zu machen, in die wir selbst unhintergehbar verstrickt sind. Wenn ich von „uns“ spreche, dann meine ich das Team des Lehr- und Forschungsforums „Erziehung nach Auschwitz“, insbesondere aber die Jüdische Akademie mit ihrem Leiter Prof. Dr. Doron Kiesel. Dass wir uns mit der Jüdischen Akademie auf den gemeinsamen Weg der Differenzierung und Reflexion dieser drängenden Aufgaben machen, freut mich sehr.
Die Fragen stellte Dirk Frank
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