Volkssouveränität radikal gedacht. Ein Nachruf auf Prof. Dr. Ingeborg Maus (1937-2024)

Foto: privat
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Mit dem Tode von Ingeborg Maus, die am 14. Dezember im Alter von 87 Jahren verstarb, verlieren die Goethe-Universität und die Gemeinschaft der Forschenden eine der bedeutendsten politischen Theoretikerinnen unserer Zeit. Ihr Denken hat die Frankfurter und die nationale Politik- und Rechtswissenschaft auf eine besondere Weise nachhaltig geprägt – durch die radikalste Lesart des Prinzips der Volkssouveränität, die mit den Strukturen des modernen Staates vereinbar ist.

Ingeborg Maus, 1937 in Wiesbaden geboren, studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Frankfurt und Berlin. Die Promotion in Frankfurt 1971, von Carlo Schmid und Christian Graf von Krockow betreut, behandelte bereits ihr Lebensthema: die verfassungsgebende Gewalt aller Bürgerinnen und Bürger und wie sie in positives, demokratisches Recht umzusetzen wäre – im Unterschied zu Rechts- und Staatstheorien, die von Carl Schmitt bis in das Rechtsdenken der Gegenwart reichten. Die allgemeine Form des Rechts war für Maus streng zu bewahren, um die Freiheit und Gleichheit aller zu ermöglichen und gegen die Selbstautorisierung von Exekutiven und die juristische Überwölbung der Volkssouveränität zu verteidigen. Ihr Buch Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus von 1976 legte dies ebenso dar wie das spätere über Rechtstheorie und politische Theorie im Spätkapitalismus (1986).

Nach der Zeit als wissenschaftliche Assistentin und der Habilitation 1980 in Frankfurt lehrte sie an der Goethe-Universität sowie an verschiedenen Universitäten in Deutschland und Japan, bevor sie Mitglied in der von Jürgen Habermas mit Mitteln des Leibnizpreises gegründeten Arbeitsgruppe Rechtstheorie wurde. Dort konnte der Verfasser dieser Zeilen das Engagement erleben, mit der Ingeborg Maus an den Grundprinzipien des modernen demokratischen Verfassungsstaats festhielt. Besonders Rousseau und vor allem Kant lieferten die philosophischen Fundamente ihres Denkens, das elegant zwischen Ideengeschichte, Philosophie und aktueller Demokratie- und Rechtstheorie sich zu bewegen wusste. All dies floss in ihr Hauptwerk ein, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, das 1992 erschien und als unerreichbar gelten darf in der Konsequenz, mit der sie Kants politische Philosophie radikaldemokratisch auslegt und den bestechenden Gedanken verfolgt, dass die demokratische Selbstgesetzgebung des Volkes der gleichen Strukturlogik strikter Universalisierung folgt wie der kategorische Imperativ in Kants Moralphilosophie. So wird praktische Vernunft zu einer politisch-rechtlichen, institutionellen Realität.

1992 wurde Ingeborg Maus auf die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte in der Nachfolge Iring Fetschers berufen und entfaltete eine umfassende Lehrtätigkeit, die von der positiven Begeisterung für die Prinzipien recht verstandener Demokratie ebenso getragen war wie von der Kritik an den „Refeudalisierungen“ von Recht und Politik in entformalisierten sowie rechtlich überregulierten Herrschaftsordnungen.

Nach ihrer Emeritierung im Jahre 2003 publizierte sie eine Reihe wichtiger Werke, in denen sie ihre Konzeption der Volkssouveränität, der Menschenrechte und von Friedenspolitik sowie ihre Kritik an der Justiz als „gesellschaftliches Über-Ich“ ausführte. Diese Positionen runden das Bild einer umfassenden, von klaren Grundgedanken getragenen, stringent entfalteten politischen Theorie ab, die als Reinform der modernen Konzeption demokratischer Citoyenneté gelten darf.

Ingeborg Maus wird als ebenso großartige Theoretikerin wie auch als der wundervolle Mensch in Erinnerung bleiben, der sie war.

Prof. Dr. Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie

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