Andrea Kießling, Professorin für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Goethe-Universität, analysiert aus rechtswissenschaftlicher Perspektive die Corona-Zeit.

UniReport: Fünf Jahre liegt nun der Ausbruch der Pandemie zurück. Wie denken Sie, Frau Kießling, persönlich an die Zeit zurück, in welcher Form waren Sie damals davon betroffen?
Andrea Kießling: Zunächst war ich natürlich betroffen wie jede andere Person in Deutschland auch, die plötzlich ihren Alltag anders organisieren musste. Daneben habe ich mich aber von Anfang an mit den Rechtsfragen der Pandemiebekämpfung beschäftigt; ich habe erst kleinere Texte dazu veröffentlicht und dann innerhalb weniger Monate einen neuen Gesetzeskommentar zum Infektionsschutzgesetz konzipiert, der bereits im Sommer 2020 veröffentlicht wurde. Das hat dazu geführt, dass die Pandemie mich praktisch in jeder wachen Minute beschäftigt hat, das war streckenweise sehr anstrengend.
Was wären denn aus Ihrer Sicht die größten Kritikpunkte an dem Umgang mit der Corona-Pandemie, wo hat der Staat, wo haben Behörden und Gerichte unpassend, wenn nicht gar übergriffig reagiert? Und umgekehrt: Wo ist die Kritik daran falsch?
Gerade zu Beginn der Pandemie sind ein paar Maßnahmen über das Ziel hinausgeschossen; es wurden Verhaltensweisen verboten, die nicht wirklich die Ansteckungsgefahr erhöht haben. Das wurde aber schnell korrigiert. Falsch fand ich immer den Vorwurf, der Bundestag habe in der Pandemie zu wenig zu sagen gehabt: Der Bundestag hätte die Pandemiebekämpfung jederzeit durch detailliertere gesetzliche Vorgaben steuern können. Er hat sich selbst dazu entschieden, dies nicht zu tun.
Es konnte vor fünf Jahren nur auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes gehandelt werden. Was war das Problematische an der darin enthaltenen „Generalklausel“?
Nicht die Generalklausel selbst ist das Problem; eine solche braucht man im Gefahrenabwehrrecht – zu dem das Infektionsschutzrecht gehört –, um auf unvorhergesehene Situationen reagieren zu können. Dies gilt aber eigentlich nur für überschaubare Gefahrenlagen und Einzelmaßnahmen. Dass man auch für einen bevölkerungsweiten Lockdown auf diese Generalklausel zurückgreifen darf, ist sehr fraglich. Das Problem war, dass das Infektionsschutzgesetz nicht auf eine Pandemie vorbereitet war, dass es also keine besonderen Vorschriften gab, die durch das Aufstellen konkreter Voraussetzungen und die Nennung einzelner möglicher Schutzmaßnahmen den Handlungsspielraum der Behörde definiert hätten. Für den Lockdown im Frühjahr 2020 wurde also eine Vorschrift angewendet, die nur von „notwendigen Schutzmaßnahmen“ sprach und somit keinerlei Begrenzung enthielt. Erst im Herbst 2020 hat der Bundestag das Infektionsschutzgesetz in dieser Hinsicht angepasst.
Aufgearbeitet worden ist die Pandemie im Nachhinein nicht wirklich, im Augenblick geht es nur um den vom damaligen Gesundheitsminister initiierten Maskenkauf. Denken Sie, dass eine umfassende medizinische und gesellschaftliche Aufarbeitung notwendig wäre? Zum Ende der Pandemie hat sich bei vielen Bürgerinnen und Bürgern Skepsis breitgemacht, ob die Maßnahmen, darunter auch die Ausgangssperre im Frühjahr 2021, überhaupt notwendig gewesen sind.
Dass es keine Aufarbeitung gab und gibt, würde ich so nicht sagen. Es gibt zum Beispiel mittlerweile viele Gerichtsentscheidungen zu ganz unterschiedlichen Sachverhalten aus der Pandemiezeit: Einzelne Personen aus der Querdenker-Szene wurden wegen Volksverhetzung verurteilt, der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung eines Familienrichters aus Weimar wegen Rechtsbeugung bestätigt, der völlig außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs Maßnahmen an Schulen für rechtswidrig erklärt hatte, das Bundesverwaltungsgericht hat einige Maßnahmen aus der Anfangszeit für rechtmäßig, andere für rechtswidrig erklärt, der Bundesgerichtshof hat Entschädigungsansprüche wegen Betriebsschließungen abgelehnt. Über die Ausgangssperre im Frühjahr 2021 wiederum hat das Bundesverfassungsgericht schon Ende 2021 entschieden: Das Gericht hat sie für verfassungsmäßig erklärt. Was wir meiner Meinung nach brauchen, ist eine zukunftsbezogene Aufarbeitung: Sind wir für die nächste Pandemie, die sicher kommen wird, vorbereitet? Dazu gehört für mich als Juristin auch die Frage, ob das Infektionsschutzgesetz mittlerweile für Pandemien gerüstet ist, und das ist meiner Meinung nach nicht der Fall, weil die Regelungen aus der Corona-Zeit entweder nur befristet waren oder sogar ausdrücklich nur für die Corona-Pandemie galten. In einer neuen Pandemie müssten wir wieder die Generalklausel anwenden.
Schaut man als Juristin eigentlich auch ins Ausland, wie man dort mit der Pandemie rechtlich umgegangen ist? Länder wie Schweden waren weniger streng. Oder sind für einen Vergleich die Rechtssysteme zu unterschiedlich?
Epidemiologisch macht ein solcher Vergleich natürlich Sinn, aber für einen Rechtsvergleich sind die Systeme in der Tat oft viel zu unterschiedlich, zum Beispiel wenn Länder besondere Regelungen für Krisen beziehungsweise Ausnahmezustände haben. In Deutschland kam das ganz normale Infektionsschutzrecht zur Anwendung; es wurde kein Ausnahmezustand oder Ähnliches erklärt, der zu Abweichungen im Rechtsrahmen geführt hätte.
Sie haben mit anderen Wissenschaftler*innen Empfehlungen für den Umgang mit der nächsten Pandemie erarbeitet. Was sind die zentralen Punkte in den Empfehlungen, welche Lücken haben Sie damit schließen wollen?
Wir wollten die Epidemiebekämpfung auf eine breite Grundlage stellen. Wir haben für denkbare Schutzmaßnahmen unterschiedliche Voraussetzungen aufgestellt und hierbei auch zwischen verschiedenen Lebensbereichen differenziert: Je nach Krankheitserreger müssen zum Beispiel Schulen anders behandelt werden als Pflegeheime und beide wiederum anders als Arbeitsstätten ohne Kundenkontakt. Wir haben dabei nicht nur Atemwegserreger, sondern auch andere bekannte Erreger berücksichtigt. Unser Vorschlag ist sehr detailliert geworden; wir hoffen, dass so in einer neuen Pandemie alle Interessen angemessen berücksichtigt werden könnten und dass das Vorgehen der Behörden für die Bevölkerung transparenter wäre.
Denken Sie, dass die Empfehlungen auch einmal von der Politik umgesetzt werden?
Eigentlich wollte schon die Ampel-Koalition das Infektionsschutzrecht reformieren, dazu kam es aber nicht. Der Koalitionsvertrag von Union und SPD stellt nun ausdrücklich einen Reformbedarf fest und kündigt eine Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes an – ob es dazu kommt und ob dann unsere Empfehlungen umgesetzt werden, kann ich nicht sagen. Wir halten unsere Empfehlungen auch nicht in jedem Detail für zwingend; es ist ein Vorschlag, den man als Grundlage für eine Überarbeitung nehmen kann, die dann im Ergebnis gegebenenfalls anders ausfällt. Aber gar nichts zu tun, ist meiner Meinung nach keine Option, das würde uns in der nächsten Pandemie auf die Füße fallen.









