Wie Saatgutbanken helfen, die Evolution zu beobachten
von Andreas Lorenz-Meyer
Der Evolutionsökologe Niek Scheepens untersucht, wie sich Pflanzen an den Klimawandel anpassen. Dafür holt er Samen aus Saatgutbanken, die dort vor Jahrzehnten eingelagert wurden, und vergleicht Merkmale der daraus wachsenden Pflanzen.
Eine Reihe von Pflanzenarten sind akut vom Aussterben bedroht, durch Vernichtung ihres Lebensraus, durch Klimawandel oder Umweltverschmutzung. Um die biologische Vielfalt zu bewahren, wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt Saatgutbanken ins Leben gerufen, zunächst nur für Kulturpflanzen wie Getreide, Hülsenfrüchte oder Obstbäume. Später kamen solche für Wildpflanzen hinzu, damit die Arten nicht ganz verloren sind, sollten die natürlichen Populationen in der Zukunft wirklich aussterben. Mit den gelagerten Samen ließe sich die Art dann in der Natur wiederansiedeln. Oder man könnte sie vorbeugend in noch existierende, aber kleine und vom Aussterben bedrohte Populationen einsäen – in der Hoffnung, deren Überlebenschancen so zu vergrößern.
Mit solchen Samen aus Saatgutbanken hat der Pflanzenforscher Niek Scheepens ein Experiment gemacht, um die Folgen des Klimawandels zu beobachten. Es trug den vom gleichnamigen Hollywoodfilm inspirierten Titel »Back to the Future – Zurück in die Zukunft«. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Experiment zwar selbst keine Zeitreise gemacht, holten aber doch Forschungsobjekte aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinüber.
Scheepens und sein Forschungsteam nahmen Hunderte von Samen aus Saatgutbanken – vor allem dem belgischen Meise Botanic Garden und dem südfranzösischen Conservatoire Botanique National Méditerranéen de Porquerolles – und setzten sie in einem Gewächshaus an der Universität Tübingen in die Erde. Die Saatgutbanken-Samen waren 21 bis 38 Jahre alt und gehörten zu mehrjährigen Pflanzen von Standorten in Mitteleuropa, den französischen Alpen und dem südfranzösischen Mittelmeerraum. Zu diesen »Vergangenheitssamen« gesellten sich im Experiment die Samen der gleichen Art, nur eben solche aus der Gegenwart. Diese waren 2018 an den genau gleichen natürlichen Standorten der Pflanzen gesammelt worden. Beide, Vorfahren und Nachkommen, durchschritten nun die einzelnen Lebenszyklen von Keimung, Wachstum, Blüte und Fruchtbildung. »Dabei taten sich einige schwer«, berichtet Scheepens, der das Experiment mit seinem damaligen Doktoranden Robert Rauschkolb durchführte. Viele Pflanzen blühten gar nicht oder erst im dritten Jahr, einige Samen produzierten nicht einmal genügend Keime. Aber am Ende lieferten immerhin 13 Arten verwertbare Ergebnisse: Vergangenheits- und Gegenwartspflanzen unterschieden sich in ihrem Erscheinungsbild messbar. Genau darum ging es in dem Experiment.
Pflanzen blühen früher
Bei 5 der 13 untersuchten Arten blühten die Pflanzen von heute deutlich zeitiger als die Pflanzen von gestern, darunter der Pfriemenblättrige Wegerich Plantago subulata, der in mediterranen Küstengebieten auf felsigen Böden wächst. Seine winzigen schwefelgelben Blüten traten bei den Nachkommen deutlich früher hervor als bei den Vorfahren. Ähnlich war es bei dem Gemeinen Wirbeldost Clinopodium vulgare, der magere kalkhaltige Böden in gemäßigten Zonen bevorzugt und rosarote bis dunkelrosafarbige Lippenblüten ausbildet. Auch hier machten die Nachkommen gehörig Tempo und waren viel früher dran als ihre Vorfahren. Als Nächstes wurde die klimatische Entwicklung an den Ursprungsstandorten der Populationen analysiert. Ergebnis: Die Vorverschiebung der Blütezeit stimmte mit der lokal zunehmenden Trockenheit überein. Diese hatte die Pflanzen aus der Gegenwart zu Frühblühern gemacht.
Scheepens erklärt den Mechanismus: »Hier geht es um Darwins Evolutionslehre. Variation in Merkmalen der Pflanzen entsteht zuerst mal zufällig, und wenn Merkmalsausprägungen vererbt werden, können diejenigen Pflanzen sich stärker durchsetzen, deren Merkmale besser zu einer veränderten Umwelt passen. Wird es trockener, überleben nur die Pflanzen, die früher blühen. Ihre Samen sind dann gereift, bevor die Trockenheit eine weitere pflanzliche Entwicklung unmöglich macht. So können sie weiter Nachkommen produzieren.« Einjährige Pflanzen haben für die Umstellung nur eine Saison Zeit, mehrjährige können sich auch mal ein schlechtes Jahr leisten. Ist die Veränderung genetisch verankert, wird die neue Eigenschaft an die nächste Generation übertragen. Die Nachkommen der Pflanze blühen auch wieder früher – es fand evolutive Anpassung durch Selektion statt.
Der experimentelle Ansatz, den Scheepens für seine Forschung wählt, nennt sich Resurrection Ecology. Eine passende Übersetzung für diese Disziplin gibt es nicht. »Wiederbelebungsökologie« wäre eher irreführend, da es nicht wie beim »de-extinction«-Ansatz um ausgestorbene Arten wie etwa den Magenbrüterfrosch geht, die wieder neu gezüchtet werden sollen.
Zusehen, wie Evolution passiert
Resurrection Ecology untersucht vielmehr Arten, die noch existieren: Tiere, Pilze, Bakterien oder eben Pflanzen. Sie zeigt, wie rasch sich Populationen evolutionär weiterentwickeln und wie gut oder schlecht sie sich anpassen. Der experimentelle Test geschieht dabei auf der Zeitebene: Man zieht Organismen, die in der Vergangenheit gesammelt wurden, zusammen mit frisch gesammelten Organismen vom gleichen Standort auf und untersucht sie auf Merkmalsunterschiede. Auf diese Weise, durch den Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart, lässt sich Evolution messen.
Scheepens Gewächshausexperiment hat dieses Ziel erreicht. »Das waren rasante evolutive Prozesse, die nicht einmal 40 Jahren brauchten«, so der Biologe. »Wir konnten fast zuschauen, wie Evolution passiert.« Allerdings hatte die Sache einen Haken: In einem Gewächshaus lässt sich nicht experimentell nachweisen, ob evolutive Anpassung hinter den Merkmalsveränderungen steckt. Das liegt an den »unnatürlichen Bedingungen«: Die Pflanzen werden regelmäßig gedüngt und gewässert, was in der Natur nicht passiert. Auch ist das Licht im Gewächshaus anders als an ihrem natürlichen Standort. Also lässt sich nicht sagen, ob die Pflanze auf die Umweltveränderungen reagiert hat oder ob zufällige Prozesse im Spiel waren, Mutationen zum Beispiel oder andere zufällige Änderungen der genetischen Ausstattung einer Pflanzenpopulation durch Einkreuzung neuer Genvarianten (Genfluss) oder dem zufälligen Verschwinden von Genvarianten (genetische Drift).
Anpassung oder Zufall?
Um diesen Punkt zu klären, führte Scheepens von 2021 bis 2023 mit seinem Promotionsstudenten Pascal Karitter ein weiteres Experiment durch, diesmal im Freiland. An vier Standorten in zwei Regionen in Belgien wurden die 23 bis 26 Jahre alten Vorfahren und die Nachkommen von vier Wildkräutern gemeinsam an deren Ursprungsstandort gepflanzt: die Bergminze Clinopodium vulgare, der Löwenzahn Leontodon hispidus, das Süßgras Melica ciliata und der Lein Linum tenuifolium. »In ihrem ursprünglichen Lebensraum wirken alle natürlichen Umwelteinflüsse auf diese Arten ein, alles, womit sie vertraut sind. Da sehen wir dann, wie fit sie sind, die Pflanzen von gestern und die von heute. So können wir herausfinden, ob die Veränderungen durch Selektion zustande kamen und ob wir es tatsächlich mit evolutiver Anpassung zu tun haben.«
Die Forscher waren die ersten, die Resurrection Ecology und die Verpflanzung im Freiland am Ursprungsort solcherart kombinierten. Leider fielen die beiden Sommer 2022 und 2023 sehr heiß und trocken aus, weswegen die Pflanzen von drei der vier untersuchten Arten noch vor der Blüte starben. »Hätten sie geblüht, hätten wir messen können, ob die Nachfahren mehr Samen produzieren als die Vorfahren. Dann wären alle drei klassischen Aspekte der Fitness zusammengekommen: Überleben, Wachstum und Reproduktion. Aber experimentelle Forschung im Freiland ist eben alles andere als einfach.« Einige aufschlussreiche Ergebnisse gab es dennoch. Zum Beispiel beim Gewimperten Perlgras, Melica ciliata. Die Nachkommen dieser zierlichen Süßgrasart zeigten sich in der heißeren, trockeneren Gegenwart viel fitter als ihre Vorfahren: Sie wurden größer und hatten mehr Blätter. Zudem lag ihre Sterblichkeitsrate niedriger.
Scheepens Schlussfolgerung: Diese höhere Fitness ist das Ergebnis evolutiver Anpassung durch Selektionsdruck. Dafür sprechen mehrere Gründe. »Einmal sind die Unterschiede zwischen Vorfahren und Nachfahren statistisch signifikant. Es ist unwahrscheinlich, dass diese durch Zufall entstanden.« Hinzu kommt die Kombination der Veränderungen bei Melica ciliata: weniger Mortalität UND besseres Wachstum. »Damit haben wir zwei Pflanzenreaktionen aus sehr unterschiedlichen Lebensphasen der Pflanze, die beide das Muster höherer Fitness aufweisen. Dies verleiht unserer Interpretation der evolutiven Anpassung Überzeugungskraft.«
Nicht zu vergessen: Mortalität an sich ist schon ein starker Indikator für Selektion, da es für die Pflanze ums Überleben geht. Auch bei Leontodon hispidus, dem der Pusteblume ähnelnden Steifhaarigen Löwenzahn, zeigte sich Interessantes. Die Samen der Nachkommen hatten eine höhere Keimrate als die der Vorfahren. »Dieses Ergebnis ist jedoch in punkto Anpassung nicht einfach zu interpretieren«, sagt Scheepens. Für Pflanzen könne es auch ein Vorteil sein, nur einen Teil der Samen keimen zu lassen. Radiert die nächste Hitzewelle diese Keime komplett aus, hat die Population immer noch welche in Reserve.
Wie geht es weiter mit dem noch recht jungen Forschungsfeld? Resurrection Ecology wird zu einem festen Bestandteil des Werkzeugkastens von Evolutionsökologen, da ist sich Scheepens sicher. Er skizziert, welche Erkenntnisse der Ansatz bringt: »Wenn sich eine Pflanzenpopulation bisher gut angepasst hat, dann wird sie es wahrscheinlich auch weiterhin können. Hat sich die Population dagegen schlecht angepasst, wird sie vielleicht nicht überleben. Solche Aussagen können wir sogar für die ganze Art treffen – sofern mehrere, örtlich voneinander getrennte Populationen die gleiche Unfähigkeit zur evolutiven Anpassung zeigen.« Dann ist klar: Diese Art ist auf Migration angewiesen. Sie muss sich zum Beispiel in kühlere Gebiete verbreiten, weil es am Ursprungsort zu heiß geworden ist. Mit den Ergebnissen der Resurrection Ecology lassen sich bessere Vorhersagen machen, wie globale Veränderungen – der Klimawandel, aber auch Landnutzungsänderungen oder der Rückgang der Bestäuber – die Evolution von Organismen beeinflussen. »Und zwar nicht nur, wie sie es tun könnten, was sich ja in Evolutionsexperimenten simulieren lässt, sondern wie sie es tatsächlich tun.«
Jedoch brauchen die vergleichenden Studien auch eine solide Grundlage, also Saatgutbanken, die gutes, verlässliches Material bereithalten. Am Forschungsstandort Europa sieht Scheepens erheblichen Verbesserungsbedarf. »In den Saatgutbanken lagern meist nur Samen einer einzigen Population. So ist es unmöglich, Aussagen über die Evolution und Anpassung einer bestimmten Art als Ganzes zu treffen. Wir können nur etwas über die Evolution und Anpassung dieser einen Population sagen.« Zudem ist oft nicht bekannt, wie früh oder spät in der Saison die Samen gesammelt wurden. An einem Standort können Pflanzen zu unterschiedlichen Zeiten blühen, was Resurrection-Ecology-Studien berücksichtigen müssen. Und Saatgutbanken lagern die Samen auch nicht immer genau gleich, sodass Erscheinungsmerkmale unterschiedlich ausfallen können. Deswegen schlägt Scheepens ein europäisches Sammelprojekt vor, das sich am US-amerikanischen »Project Baseline« orientiert. In Colorado lagern in einem Gewölbe Millionen Samen, an Hunderten Standorten anhand klarer Vorgaben gesammelt, bei minus 18 Grad Celsius. Das Material ist für künftige Resurrection-Ecology-Studien gedacht, die klären sollen, wie Pflanzen auf Klimawandel und andere Umweltprobleme reagieren. Hätten wir so etwas in Europa auch, so Scheepens, stünde uns in Zukunft das beste biologische Material zur Verfügung.
Umwelt und Gene
Der Evolutionsökologe Niek Scheepens erforscht im Rahmen der Resurrection-Ecology-Studien auch Veränderungen im genetischen Code selbst. Hierzu untersucht Scheepens Einzelnukleotid-Polymorphismus-Marker (Single Nucleotid Polymorphism, SNP). SNP bezeichnet die Variationen einzelner Basenpaare in der DNA. Dabei haben die allermeisten SNPs keinen Effekt auf Merkmalsausprägungen, sie sind nur neutralen evolutionären Prozessen unterworfen. Aus vielen SNPs lässt sich der sogenannte FST-Wert bestimmen, der neutrale genotypische Unterschiede zwischen Populationen ausdrückt. Analog dazu kann anhand der direkt an Pflanzen gemessenen Merkmalsausprägungen der QST-Wert, ein Maß für phänotypische Unterschiede zwischen Populationen, berechnet werden. In Resurrection-Ecology-Studien werden diese zwei Werte in der zeitlichen Dimension miteinander verglichen. »Ist der QST-Wert größer oder kleiner als der FST-Wert, können wir herleiten, dass natürliche Selektion stattgefunden hat«, erklärt Scheepens. Ein größerer QST-Wert heißt: »divergent selection« – die Merkmalswerte gehen auseinander. Ein kleinerer QST-Wert heißt: »stabilizing selection« – Merkmalsausprägungen werden trotz neutraler evolutionärer Prozesse beibehalten. Bei den Gewächshauspflanzen wiesen zum Beispiel die Werte von »Leontondon hispidus« auf eine starke divergente Selektion hin. »Das stützt unsere Hypothese: Die Population hat sich über die Jahrzehnte hinweg immer wieder an das veränderte Klima angepasst.« Die Analyse der Werte aus dem Freilandexperiment folgt noch.
Zur Person
Seit 2020 ist der Evolutionsökologe Niek Scheepens als Professor an der Goethe-Universität Frankfurt tätig, wo er die Abteilung Evolutionäre Ökologie der Pflanzen am Institut für Ökologie, Evolution und Diversität leitet. Scheepens hat in Groningen, Niederlande, den Bachelor in Wissenschaftsphilosophie und den Master in Biologie gemacht. 2011 wurde er an der Universität Basel promoviert und arbeitete dort ein Jahr als Postdoc. Nach einem zweijährigen Forschungsaufenthalt an der Universität Turku in Finnland ging er 2014 als Alexander-von-Humboldt-Fellow an die Universität Tübingen, wo er 2017 bis 2020 Juniorgruppenleiter war.
Der Autor
Andreas Lorenz-Meyer, Jahrgang 1974, wohnt in der Pfalz und arbeitet seit 13 Jahren als freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit, Klimakrise, erneuerbare Energien, Digitalisierung. Er veröffentlicht in Tageszeitungen, Fachzeitungen, Universitäts- und Jugendmagazinen.