Vakanz in der rechten Mitte

Konservative werden eigentlich dringend gebraucht in Europas Parteienordnungen

von Thomas Biebricher

Les Républicains in Frankreich, die Tories in Großbritannien, die österreichischen Christdemokraten: Parteien, die jahrzehntelang als feste politische Größe in ihren Ländern galten, haben einen rapiden Bedeutungsverlust erlebt, manche sind in Richtung des rechten Randes gerückt. Doch eine gemäßigt konservative Kraft rechts der Mitte ist notwendig für eine stabile und zukunftsoffene Demokratie.

Als Valérie Pécresse nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl 2022 vor die Presse trat, musste die Kandidatin der Mitte-rechts-Partei Les Républicains nicht nur eine Niederlage einräumen. Schlimmer noch, Pécresse hatte noch nicht einmal fünf Prozent der Stimmen erhalten und würde daher nicht in den Genuss einer staatlichen Erstattung der Wahlkampfkosten kommen. So musste sie vor laufender Kamera die Parteibasis um Spenden bitten, da die Partei und auch sie persönlich Schulden aufgenommen hatten, um die Kampagne zu finanzieren.

Profitiert von der Vakanz in der rechten Mitte: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der als postfaschistisch klassifizierten Partei Fratelli d’Italia. Im vierten Kabinett Silvio Berlusconis konnte sie als Ministerin schon mal üben.

Es war der vorläufige Tiefpunkt des schon zuvor dramatischen Niedergangs einer ehemaligen Volkspartei, die in ihren früheren Inkarnationen als Partei de Gaulles, Pompidous und Chiracs die Geschicke der V. Republik wie keine andere geprägt hatte und nun ums politische Überleben rang. Ein Absturz, der gewisser – maßen symptomatisch ist für eine Tendenz, die sich in fast ganz Europa beobachten lässt: Die Ordnung in den Parteiensystemen erodiert zusehends. Nun muss man sicherlich vorsichtig sein, wenn man von der Ordnung von Parteiensystemen spricht, die historisch gewachsen sind und sich aufgrund der zum Teil recht unterschiedlichen gesellschaftlichen Konfliktlinien und Wahlsysteme mitunter auch unterschiedlich entwickelt haben. Nichtsdestotrotz gehörte es zu den »Ordnungselementen« fast aller europäischen Parteiensysteme, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg (neu) formierten, dass in ihnen die rechte Mitte besetzt war, und zwar typischerweise von gemäßigt konservativen Akteuren, zu denen sich auch christdemokratische Parteien rechnen lassen. Und in diesem Sinn lässt sich in der Tat davon sprechen, dass die Ordnung der Parteiensysteme, wie wir sie in Europa kannten, in der jüngsten Vergangenheit gehörig in Unordnung gekommen ist.

Vorreiter in Sachen Populismus: Medienmogul Berlusconi warb mit seiner »Forza Italia« erfolgreich um die einstigen Wähler der skandalgebeutelten Democrazia Cristiana und beschleunigte damit den Umbau der italienischen Parteienlandschaft.

Von der Volkspartei zur Nischenexistenz

Denn der Fall der französischen Republikaner ist eben nur der jüngste und dramatischste Beleg für die flächendeckende Schwächung von gemäßigt konservativen Parteien, deren Folge nicht zuletzt darin besteht, dass die rechte Mitte zusehends verwaist. Bevor wir auf die Konsequenzen dieser Entwicklung für die liberale Demokratie eingehen, lohnt es sich aber, die unterschiedlichen Muster zu betrachten, in denen sich die Krise des europäischen Konservatismus manifestiert.

Das offensichtlichste Phänomen ist natürlich das Zusammenschrumpfen ehemals stolzer Volks – parteien der rechten Mitte zu Nischenexistenzen. Der Niedergang der französischen Republikaner, die noch 2007 mit Nicolas Sarkozy einen fulminanten Wahlsieg feierten, genau zehn Jahre später mit dem Kandidaten François Fillon dann aber den Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl verpassten, sticht hier natürlich hervor, ist aber nicht der einzige solchgeartete Fall. In Italien wurde die rechte Mitte nach der Implosion der christdemokratischen Democrazia Cristiana (CD) in den 1990er Jahren abgesehen von einigen post-christdemokratischen Splitterparteien noch am ehesten von der Forza Italia (FI) Silvio Berlusconis repräsentiert. Doch spätestens nach Berlusconis Tod ist es angesichts der extremen Personalisierung der FI, die komplett auf ihren Gründer ausgerichtet war, nicht ausgeschlossen, dass die Partei nun der politischen Bedeutungslosigkeit entgegentaumelt. Was beide Fälle zeigen: Das Schwächeln der Mitte-rechts-Parteien hat zur Folge, dass das Gravitationszentrum rechts der Mitte nun nach rechtsaußen gewandert ist: In Italien geben Fratelli d’Italia und La Lega den Ton an, in Frankreich ist es Marine Le Pens Rassemblement National.

Im Osten der EU sind Ungarn und Polen lebendige Beispiele dafür, was geschehen kann, wenn sich gemäßigte Konservative radikalisieren. Doch während Viktor Orbán 2022 mit Zweidrittelmehrheit wiedergewählt wurde…

Radikalisierung im Konkurrenzkampf

Das zweite Muster ist das der Selbstradikalisierung von ehemals mehr oder weniger gemäßigt konservativen Parteien. In Mitte- und Osteuropa sind hier Viktor Orbáns Fidesz und die PiS unter der (indirekten) Führung von Jarosław Kaczyn´ski die wichtigsten Fälle. Das spektakulärste Beispiel für diesen Pfad im westeuropäischen Kontext liefern die britischen Tories, die sich im Zuge der Brexit-Kämpfe und angesichts der Rechts-Konkurrenz von Nigel Farages UKIP immer weiter von der politischen Mitte entfernten und spätestens unter der Führung Boris Johnsons nicht nur zur eigentlichen Brexit-Partei mutierten, sondern auch in Politikstil und kulturkämpferischen, migrationskritischen Themensetzungen UKIP zum Verwechseln ähnlich wurden. Auf den ersten Blick war diese Repositionierung sogar von Erfolg gekrönt: Man verdrängte UKIP, indem man gewissermaßen selbst zu UKIP wurde. 2019 erzielte Johnson eine Mehrheit für die Tories, wie es sie seit Margaret Thatchers Zeiten nicht mehr gegeben hat. Dafür musste man jedoch die rechte Mitte preisgeben, und der Radikalisierungsprozess brachte schwere innerparteiliche Konflikte und teils chaotische Regierungszustände mit sich, sodass damit zu rechnen ist, dass die Konservative Partei als Verliererin aus den nächsten Unterhauswahlen hervorgeht.

…hat sich Jarosław Kaczyński wohl auch wegen seiner Hassreden im Wahlkampf trotz Mehrheit ins politische Aus befördert.

Zuletzt gibt es noch ein grenzübergreifendes Phänomen, das ebenfalls sowohl auf eine Schwächung wie auch auf einen Rechtsdrift des Mitte-rechts-Lagers schließen lässt und das darin besteht, dass gemäßigt konservative Parteien auf die Unterstützung von teils rechtsradikalen Kräften angewiesen sind, um Regierungen zu bilden, und sich auch bereit zeigen, diese Unterstützung von rechtsaußen anzunehmen. Sowohl in Schweden als auch in Finnland ist dies der Fall, wo Schwedendemokraten beziehungsweise Wahre Finnen die Regierungsgeschicke mitbestimmen. Wenn Mitte-rechts-Parteien sich auf solche Kollaborationen einlassen, müssen sie den rechtsautoritären Kräften natürlich etwas bieten, womit die Politik solcher vermeintlicher »Mitte-rechts-Koalitionen« aber unweigerlich eine rechte Schlagseite erhält. In Schweden ist so umgehend das Migrationsregime verschärft worden, die Regierung selbst spricht von einem »Paradigmenwechsel«, zu dem die forcierte Ausweisung abgewiesener Asylbewerber und ein härteres Vorgehen gegen vermeintlichen »Asylbetrug« ebenso gehört wie erhöhte Anforderungen für den Erwerb der schwedischen Staatsbürgerschaft.

Bye-bye Boris: Lange Zeit wusste Boris Johnson die Klaviatur des Populismus geschickt zu bedienen. Dann aber stolperte er über seine Tricksereien und Unkorrektheiten während der Coronazeit.
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • Die Ordnung in Europas Parteiensystemen ist aus dem Lot geraten: Ehemals stolze konservative Volksparteien versinken in der Bedeutungslosigkeit oder wandern nach rechtsaußen.
  • In Frankreich und Italien etwa hat das Schwächeln der Mitte-rechts-Parteien dazu geführt, dass das Gravitationszentrum rechts der Mitte nun nach rechtsaußen gewandert ist.
  • Ein anderes Muster zeigt sich in Mittel- und Osteuropa und in Großbritannien: die Selbstradikalisierung von ehemals gemäßigt konservativen Parteien.
  • Liberale Demokratien sind darauf angewiesen, dass es stabile und vitale Mitte-rechts-Parteien gibt. Denn sie sind besonders in der Lage, gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu begleiten und die politischen Energien, die darin freigesetzt werden, in konstruktive Bahnen zu lenken.

Konservative Parteien wichtig für gesellschaftlichen Wandel

Insgesamt bietet das europäische Panorama damit ein eher besorgniserregendes Bild, und zwar nicht nur aus gemäßigt konservativer Perspektive. Schließlich sind liberale Demokratien in gewisser Weise darauf angewiesen, dass es stabile und vitale Mitte-rechts-Parteien gibt. Diese sind im besonderen Maße in der Lage, gesellschaftliche Wandlungsprozesse und die politischen Energien, die darin freigesetzt werden, zu binden und in halbwegs konstruktive Bahnen zu lenken. Konservative Parteien entscheiden mit darüber, ob Veränderungen in erster Linie als Bedrohungen erscheinen, die Verlustängste provozieren, worauf die rechtsautoritären Kräfte in vielerlei Hinsicht ihr Geschäftsmodell gründen, oder ob sie auf produktivere Art und Weise gesellschaftlich verarbeitet werden können, indem moderiert und für Akzeptanz geworben wird – auch und gerade in Milieus, die etwa für Grüne und linksliberale Kräfte schlechterdings nicht (mehr) ansprechbar sind.

Wird die Union in Deutschland weiterhin die rechte Mitte in der deutschen Politik besetzen können? Parteichef Friedrich Merz sucht offenbar noch nach der richtigen Rezeptur.

CDU/CSU in der Ära nach Merkel

Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die CDU/CSU weiterhin willens und in der Lage ist, die rechte Mitte zu besetzen und eine entsprechende Politik zu betreiben oder auch nolens volens nach rechts driftet. Der Aufstieg der AfD wie auch die inner- und zwischenparteilichen Querelen und Konflikte der Post-Merkel-Ära deuten darauf hin, dass dies keine triviale Frage ist. Denn immer klarer kristallisiert sich heraus, dass sich in der CDU zwei Lager einander gegenüberstehen: Das eine wird von Parteichef Merz und Generalsekretär Linnemann repräsentiert; hier ist man der Meinung, die Union müsse wieder ein klarer konservativ-wirtschaftsliberaleres Profil haben und dürfe auch nicht vor Kulturkampf-Debatten zurückschrecken. Das eher dem politischen Zentrum zuneigende zweite Lager wird vor allem von den Ministerpräsidenten Wüst und Günther repräsentiert und warnt davor, dass mit diesem Kurs die Abgrenzung zur AfD zusehends infrage stehe und die Partei die Milieus der Mitte im Auge behalten müsse, die die Union in der Vergangenheit vor allem wegen Merkels ultrapragmatischen Kurses gewählt hätten. Ob es gelingt, einen Ausgleich zwischen beiden Lagern zu finden, oder ob eines der beiden sich durchsetzt, und welche Folgen dies für die innere Stabilität der CDU und der Union insgesamt hat, wird vermutlich erst nach den Europaund Landtagswahlen im nächsten Jahr beantwortet werden können. Für den Moment scheint man sich als rudimentäre Strategie darauf festgelegt zu haben, auf maximalen Abstand zu den Grünen zu gehen und diese als Verbots- und Bevormundungspartei zu attackieren – auch deshalb, weil das am ehesten den ostdeutschen Landesverbänden in die Karten spielt, die 2024 eine Wahl bestreiten müssen (Thüringen, Sachsen, Brandenburg): Hier spielen die Grünen praktisch keine Rolle und die CDU sieht sich vor allem mit einer AfD auf Augenhöhe konfrontiert. Wenn dann einmal die Regierungen in Erfurt, Dresden und Potsdam stehen, wird zunächst Bilanz gezogen werden – und dann die strategischen und personellen Konsequenzen.

Der Autor

Prof. Dr. Thomas Biebricher, Jahrgang 1974, ist seit 2022 Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie. Nach Studium und Promotion im Fach Politikwissenschaft in Freiburg im Breisgau war er sechs Jahre als DAAD-Gastdozent an der University of Florida tätig, bevor er 2009 eine Stelle als Nachwuchsgruppenleiter am Frankfurter Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« antrat. Nach mehreren Vertretungsprofessuren an der Goethe-Universität und einem Forschungsaufenthalt an der University of British Columbia in Vancouver wurde er 2020 als Associate Professor an die Copenhagen Business School berufen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich kritischer Theorien, der Analyse des Neoliberalismus in Theorie und Praxis sowie der Krise des Konservatismus.

biebricher@soz.uni-frankfurt.de

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