Hoffnung aus dem Stickstofftank

Noch immer werden Stammzellen eingefroren, um künftig ­Krankheiten zu heilen – trotz der niedrigen Erfolgsquote

Biologisches Material einzufrieren und dadurch haltbar zu machen für den Bedarfsfall in der Zukunft – dieser Gedanke steckt hinter den Stammzellbanken. Obwohl dieses Material zumindest in Deutschland selten zur Anwendung kommt, setzen noch immer viele Menschen ihre Hoffnung in diese Technologie. Im Rahmen des ERC-Grants Cryosocieties untersucht Ruzana Liburkina aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive heraus die Hintergründe.

Ein Kind kommt zur Welt – ein Ereignis, das vor allem für die Eltern mit einem ganzen Strauß von Hoffnungen verbunden ist. In Vorbereitung auf die Geburt steht oft auch eine Entscheidung an, die nicht nur mit Hoffnung zu tun hat, sondern auch mit Befürchtungen: Soll ich das Nabelschnurblut meines Kindes von einer kommerziellen Stammzellbank tiefgefrieren lassen für einen etwaigen therapeutischen Einsatz in der Zukunft? Soll ich das Blut an eine gemeinnützige Stammzellbank spenden, auf die Ärzte weltweit zugreifen können? Das Einfrieren für den Eigenbedarf kostet bei einem Anbieter in Leipzig zum Beispiel 3090 Euro für 18 Jahre Aufbewahrung, für 50 Jahre werden 5 190 Euro verlangt. Die Spende hingegen ist kostenlos.

Hoffnungsträger: Stammzellen aus dem Blut der Nabelschnur werden in Stickstoff tiefgekühlt, um sie in der Zukunft therapeutisch nutzen zu können. Foto: Veith Braun

Stammzellen aus dem Blut der Nabelschnur – sie sind eine Art genetische Allrounder. Wenn das Kind nach der Geburt abgenabelt wird, befindet sich ein Rest des Plazentablutes in der abgeschnittenen Nabelschnur. Schon seit mehr als 30 Jahren weiß man, dass dieses Blut reich an hämatopoetischen Stammzellen ist. Sie sind zum Beispiel dazu fähig, das blutbildende System wiederherzustellen. Stammzellen sind DER Hoffnungsträger für Menschen, die an Leukämie oder anderen Erkrankungen der Blutbildung leiden – und im Vergleich zu adulten Stamm­zellen aus dem Knochenmark sind Stammzellen aus dem Nabelschnurblut viel flexibler ein­setzbar.

Was liegt also näher, als diese Stammzellen zu sichern und aufzubewahren, um sie zur Heilung einer schweren Erkrankung einsetzen zu können? Kaum war das Potenzial der hämatopoetischen Stammzellen erkannt – zum Teil auch nur erahnt –, traten die ersten Stammzellbanken auf den Plan: Mithilfe von Kryotechnologien – also Technologien des Einfrierens – bewahren sie das wertvolle Material für die Zukunft auf. Besonders gut geeignet sind Stammzellen für die Therapie bei engen Angehörigen, denn hier ist die Kompatibilität am größten. Und so hat sich rasch ein Angebot an werdende Eltern etabliert, das Blut aus der Nabelschnur des Neugeborenen zu konservieren, um es bei Bedarf zur Hand zu haben, sollte ein Geschwisterkind zum Beispiel an Blutkrebs erkranken. Wegen der geringen Menge an Stammzellen reicht es für die Anwendung bei Erwachsenen meist nicht aus.

Doch genutzt wird dieser Schatz eher selten. Die anfängliche Euphorie in und um die Stammzellkonservierung ist einer großen Ernüchterung gewichen und einem Gefühl der Sinnlosigkeit. Dr. Ruzana Liburkina, Mitarbeiterin am ERC-Projekt »Cryosocieties: Suspended Life – Exploring Cryopreservation Practices in Contemporary Societies« von Prof. Thomas Lemke, nimmt in ihrem Teilprojekt die Ursachen und Hintergründe in den Blick. Sie beschreibt die Situation als »Nicht-Scheitern« – ein spezifisches Phänomen, das durch die spezifische Ausgangslage bedingt ist.

Viele der Verheißungen, die die privaten Zellbanken ansprechen, sind immer noch Zukunftsmusik: die Verwendung zur Behandlung neurologischer Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer etwa, in der Therapie von Diabetes und Autismus oder zur Ausbildung von Ersatz­organen. Wer jedoch in Werbe­broschüren adressiert und aufgefordert wird, »persönliche Verantwortung für die Gesundheit der Familie zu übernehmen«, betreibt sicher selten eine Wahrscheinlichkeitsrecherche. Und so besteht eine gewisse Diskrepanz zwischen dem technischen und finanziellen Aufwand und den Hoffnungen der Eltern auf der einen Seite und der medizinischen Relevanz auf der anderen.

Bei den öffentlichen Stammzellbanken sieht die Situation nicht besser aus – wenn auch aus anderen Gründen. Während es in den ­meisten Ländern lediglich kommerzielle Anbieter gibt, beherbergt Deutschland eines der größten Stammzellspender­register der Welt und verfügt über ein umfangreiches Netzwerk und viel Know-how über regulatorische, logistische und technologische Anforderungen. Diese Banken genießen international ein hohes Renommee und verfügen über stabile Beziehungen zu Krankenhäusern und Universitäten. Trotz dieser guten Voraussetzungen sind die Verantwortlichen auch hier desillusioniert. Der Grund: Selten wird das Biomaterial von deutschen Kliniken angefordert. Auch die ­Studienlage zur Verwendung der gespendeten Stammzellen ist eher dürftig. »Deutschland ist ein Ödland, wenn es um die Behandlungen geht, für die die Stammzellbanken überhaupt gegründet wurden«, urteilt Liburkina. Da der letzte Arzt, der aktiv Stammzellen transfundiert (übertragen)  hat, seit 2007 nicht mehr tätig ist, werde diese Methode nur noch als letzte Option in generell hoffnungslosen ­Fällen eingesetzt. Häufiger ist die Nachfrage aus anderen Ländern.

Bei 170 Grad minus oder weniger werden die Stammzellpräparate in öffentlichen Zellbanken 23 Jahre aufbewahrt, in privaten sogar noch länger. Foto: Veith Braun

Wären andere Technologien bei einer derart mäßigen Nachfrage längst eingestellt worden, liegt der Fortbestand der Zellbanken in ihrer Bestimmung selbst: Mithilfe von Stickstoff auf 170 Grad minus oder weniger gekühlt, wird das biologische Material in öffentlichen Zellbanken derzeit bis zu 23,5 Jahre aufbewahrt, in kommerziellen bis zur gesamten Lebensspanne des Neugeborenen. Da es sich um klinisch wertvolles und aufwendig verarbeitetes menschliches Körpermaterial handelt, ist eine Vernichtung ohnehin keine akzeptable Option. Dieses Konstrukt setzt die Zell­banken einem gewissen Handlungsdruck aus. Um das Scheitern abzuwenden, werden auf Basis von vorhandenen Technologien und Expertenwissen neue Angebote ins Leben gerufen, neue Narrative formuliert.

Diesen Grenzzustand des »Nicht-Scheiterns« hat sich Ruzana Liburkina genauer angeschaut. Welche Folgen hat es, dass die Kryotechnologie hohe Erwartungen an die Zukunft weckt, die dann nicht erfüllt werden? Liburkina hat dabei nicht nur die werdenden oder gewordenen Eltern im Blick, sondern vor allem auch die ­Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Unternehmen, die das Einfrieren anbieten, und die­jenigen, die über die Geschicke des Unternehmens oder der Institution bestimmen. Seit dem Start der Stammzellbanken hat auf dem Feld der kommerziellen Nabelschnurblut­einlagerung ein großer Konzentrations­prozess stattgefunden. Von den anfänglich ­vielen kleinen Anbietern sind nur wenige übrig geblieben: Größere ­Konzerne haben die Bestände erworben und bewahren die Präparate weiter auf. Wobei es mit dem Aufbewahren nicht getan ist: Die beständige Qualitätskontrolle und Qualitäts­sicherung erfordern riesige personelle und infra­strukturelle Ressourcen.

Zur »teilnehmenden Beobachtung« hat Liburkina sich für 14 Wochen in die Praxis begeben und in zwei Stammzellbanken hospitiert, eine davon kommerziell, die andere öffentlich. Ähnlich einer Praktikantin half sie mit, wo sie konnte – und erfuhr dabei viel, was in einem offiziellen Interview sicher nicht zur Sprache gekommen wäre. Dabei hatte sie mit ganz unterschiedlichen Kategorien von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu tun. »Die Berufs­bilder in einer solchen Stammzellbank sind vielfältig. Es gibt dort MTAs und CTAs, Biologen, Medizinerinnen, Juristen, Technikerinnen, Kaufleute und Marketingexperten«, beschreibt Liburkina. Die Eindrücke aus ihren Gesprächen hat sie am Ende jedes Tages notiert. Dabei entstand ein sehr umfangreiches ­Protokoll, das abschließend in eine schlüssige akademische Erzählung münden soll. Liburkina besuchte aber auch Konferenzen und Messen zum Thema, ließ sich durch Newsletter von Dach­organisationen auf dem Laufenden halten.

Der »Kryowert« umfasst weit mehr als den potenziellen therapeutischen Nutzen

Innerhalb der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Forschung sei man sich einig: Der Wert, der für die Stammzellbranche und ihr Fortbestehen entscheidend ist, wird nicht allein durch die tiefgefrorenen Zellen definiert. Liburkina spricht von »Kryowert« und fasst darunter auch die Potenziale und Optionen, die durch die notwendigen Technologien und die Hand­habung des Zellmaterials erzeugt werden; Denn das riesige Potenzial, das in den aus Nabelschnurblut gewonnenen Zellen selbst steckt, konnte bislang nicht abgerufen werden, die Anwendungsmöglichkeiten liegen hinter den Versprechungen der kommerziellen Anbieter weit zurück, die fehlende Infrastruktur verhindert, dass das gespendete Blut in Deutschland nennenswert zum Einsatz kommt.

Schon in den 2010er Jahren zeichnete sich ein Scheitern ab, was sich auch auf die Beschäftigten in den Zellbanken auswirkte. Deren Äußerungen seien bis heute geprägt von einer Atmosphäre der andauernden Bedrohtheit, sagt Liburkina. Die Verantwortlichen in den Unternehmen indes überlegten sich immer neue wirtschaftliche Standbeine auf Basis der vorhandenen Geräte, der etablierten Abläufe und der Expertise der Belegschaft. So würden immer wieder neue Alltage etabliert und eingespielt.

Die Situation der kommerziellen Banken stellt sich durchaus etwas anders dar als die der öffentlich finanzierten Spendenbanken: Hier haben die Eltern für die Einlagerung bezahlt, aber auch für Qualitätskontrolle und Dokumentation. Es muss also irgendwie weitergehen. Um das System aufrechtzuerhalten, müssen ständig aufs Neue Eltern gewonnen werden, die das Nabelschnurblut ihres Neugeborenen konservieren lassen wollen. Diese Form der Quer­finanzierung erinnert an das deutsche Rentensystem und ist dementsprechend auf Dauer angelegt. Darüber hinaus loten private Banken die Möglichkeit aus, die vorhandene Expertise und Infrastruktur auch für Kryopräparate anderer Art zu nutzen. Beim Ausloten bleibe es bislang allerdings meist.

Die öffentlichen Banken stehen ebenfalls unter wirtschaftlichem Druck, da die einge­lagerten Zellen selten bis gar nicht abgerufen ­werden. »Wie mir einer der Geschäftsführer erzählte, stand die öffentliche Nabelschnurblutbank kurz vor der Schließung, als er und sein Geschäftsführerkollege beschlossen, die von ihnen aufgebaute Bankinfrastruktur für die Lagerung einer anderen Art von biomedizinischen Kryofakten zu nutzen. Anders als Nabelschnurblut, so ihre Überlegung, würden diese anderen Kryofakte von Transplantationszentren stark nachgefragt werden und somit das gesamte Unternehmen wieder rentabel machen«, berichtet Liburkina in einem Aufsatz. In der Folge überzeugten die Vertreter jener Nabelschnurblutbank den Vorstand ihrer Dachorganisation davon, dass ihre Kryo-Infrastruktur wertvoll sei für die öffentliche Gesundheit und Einnahmen bringe, wenn sie für Zwecke jenseits der Nabelschnurbluteinlagerung verwendet werden könne. Tatsächlich sei es dieser Bank gelungen, aus einer eher aussichtslosen Situation heraus einen beachtlichen Strom an Finanzierungsmitteln zu generieren.

Beiden – öffentlichen und privaten Zellbanken – gemeinsam sei, dass sie sich nicht einfach zurücklehnen und abwarten könnten. Sie müssten sich im Gespräch halten, müssten Forschung initiieren und ermöglichen, Hoffnungen nähren. Ein mühsames Geschäft. Ihre Beobachtungen sind für Liburkina durchaus typisch für unsere Zeit: »In der heutigen Marktwirtschaft sind Versprechen nicht mehr die vorherrschende Form der Zukunftsorientierung. Die hohen Erwartungen sind der Notwendigkeit gewichen, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen.«

In einem weiteren Teil der Studie will ­Liburkina nun auch die Situation der Eltern beleuchten. »In der Literatur kommen oft sehr bewusst reflektierende Personen zu Wort, die sich die individualisierte Verantwortung zu eigen machen«, sagt Liburkina. Sie habe jedoch den Eindruck, dass viele der Eltern, die das Nabelschnurblut ihres Säuglings einfrieren lassen, gar nicht so lange nachgedacht hätten. »Die Zellbanken leben von einem Mangel an Reflexion«, vermutet die Anthropologin. Oft spiele auch das diffuse Gefühl eine Rolle, dass es gerade dann zu einer Erkrankung kommen könnte, wenn man sich gegen die Konservierung entschieden hat. Wobei sich die Entscheidung für die Kryotechnik ohnehin nur Menschen mit einem gewissen Einkommen leisten könnten. Die Suche nach Gesprächspartnerinnen oder Interviewpartnern gestalte sich bislang schwierig: Die Zellbanken dürfen keine Daten herausgeben, außerdem sind junge Eltern nach der Geburt eher mit anderen Dingen beschäftigt. Den Abwägungs- und Entscheidungs­prozessen aufseiten werdender Eltern geht Liburkina daher aktuell mittels einer Online-Umfrage auf den Grund.

Leben, auf Eis gelegt / Im Projekt »Cryosocieties: Suspended Life – Exploring Cryopreservation Practices in Contemporary Societies«, das von der EU als ERC-Advanced Investigator Grant gefördert wird, untersuchen Prof. Thomas Lemke, Soziologe an der Goethe-Universität, und sein Team die Auswirkungen der Kryokonservierung auf unser Verständnis des Lebens. Die Kryobiologie hat in den vergangenen ­Jahrzehnten einen enormen Aufschwung erfahren. Immer mehr Arten von Gewebe und zelluläres Material können eingefroren, gelagert und wieder aufgetaut werden, ohne einen nachweisbaren Verlust an Vitalität. Diese kryobiologischen Praktiken ermöglichen neue medizinische Anwendungen und biowissenschaftliche Innovationen – und sie bringen eine spezifische Form »aufgeschobenen Lebens« hervor. Das Projekt ist in drei Teile gegliedert, von denen einer das Einfrieren von Nabelschnurblut zum Thema hat. Die anderen beiden Teilprojekte befassen sich mit der Kryokonservierung von Eizellen zu Reproduktionszwecken sowie mit dem Aufbau von Kryobanken für den Erhalt bedrohter oder bereits ausgestorbener Tierarten.

Foto: Merielli Da Rosa

Zur Person / Ruzana Liburkina hat ­Sozial- und Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Berlin studiert und wurde im Fach Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie an der Humboldt-Universität promoviert. Sie forscht ethnographisch an der Schnittstelle von sozialwissenschaftlicher Wissenschafts- und Technikforschung und Wirtschaftsanthropologie. Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am ERC-Projekt »Cryosocieties« am Institut für Soziologie der Goethe-Universität. Im Oktober 2024 tritt sie eine Juniorprofessur für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Hamburg an.
liburkina@soz.uni-frankfurt.de

Dr. Anke Sauter, Foto: Uwe Dettmar
Photo: Uwe Dettmar

Die Autorin / Anke Sauter, Jahrgang 1968, ist promovierte Germanistin und arbeitet als Referentin für Wissenschaftskommuni­kation und Redakteurin von Forschung Frankfurt an der Goethe-Universität.
sauter@pvw.uni-frankfurt.de

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen

Relevante Artikel

1822-Preis für innovative Lehre vergeben: (v.l.) Dr. Ingo Wiedemeier, Vorstandvorsitzender der Frankfurter Sparkasse, die Preisträger der Kinder- und Jugendmediziner Dr. Boris Wittekindt, der Chemiker Prof. Alexander Heckel, die Professorin für Romanische Sprachwissenschaft Romana Radlwimmer, der Hebräischdozent Dr. Johannes Friedrich Diehl sowie die Vizepräsidentin der Goethe-Universität für Studium und Lehre Prof. Viera Pirker (v.l.; Foto: Moritz Reich)

Innovative Lehre in Zeiten von KI

Goethe-Universität und Stiftung der Frankfurter Sparkasse verleihen 1822-Preis an einen Mediziner, eine Romanistin, einen Theologen und einen chemischen Biologen Der

Öffentliche Veranstaltungen

You cannot copy content of this page