Sicher Auto fahren trotz Epilepsie: Risikoeinschätzung für das „Gewitter im Gehirn“

Ein Auto zu steuern, stellt für Menschen mit Epilepsie oft eine Herausforderung dar. Die plötzlichen epileptischen Anfälle können zu Unfällen führen und sowohl das eigene als auch das Leben anderer Verkehrsteilnehmender gefährden. Gleichzeitig bedeutet ein Fahrverbot für die Betroffenen eine erhebliche Einschränkung ihrer Mobilität und Unabhängigkeit. Unter welchen Bedingungen an Epilepsie erkrankte Menschen sicher Auto fahren können, ohne ein erhöhtes Risiko einzugehen, hat eine Studie am Universitätsklinikum Frankfurt untersucht.

Menschen mit Epilepsie, die trotz ihrer Erkrankung Auto fahren, können potenzielle Risiken für sich selbst und andere darstellen. Zahlreiche Studien haben das Unfallrisiko bei dieser Gruppe untersucht. Als Ergebnis wurden nationale und internationale Richtlinien entwickelt, die bestimmte Zeiträume ohne Anfälle definieren, die für den Erwerb und die Aufrechterhaltung einer Fahrerlaubnis erforderlich sind. Für das Führen eines PKW gilt beispielsweise, dass die Fahrerin oder der Fahrer nach mehreren Anfällen ein Jahr lang anfallsfrei sein muss oder dass ein einmaliger Anfall sich nach sechs Monaten nicht wiederholt haben darf. Ein Fahrverbot kann für Betroffene eine erhebliche Einschränkung bedeuten, insbesondere in ländlichen Gebieten, wo der Individualverkehr oft die einzige Möglichkeit ist, zur Arbeit zu gelangen, einzukaufen oder Arzttermine wahrzunehmen.

Epileptische Anfälle sind normalerweise zeitlich begrenzt. Allerdings können zwischen den Anfällen sogenannte interiktale epilepsietypische Entladungen (Interiktale Epilepsietypische Potentiale=IEP) auftreten. Diese sind viel häufiger als die eigentlichen Anfälle, werden in der Regel von den Betroffenen nicht wahrgenommen und können nur in einer Elektroenzephalografie (EEG) nachgewiesen werden. Der Schweregrad der Beeinträchtigung durch IEP kann von einer vernachlässigbaren Einschränkung bis hin zur Unfähigkeit reichen beispielsweise ein Stoppschild zu erkennen, und dadurch einen Unfall zu verursachen. Eine aktuelle Studie des Epilepsiezentrums Frankfurt Rhein-Main mit Kooperationspartnern, veröffentlicht in der amerikanischen Fachzeitschrift Neurology, hat die Folgen von IEP auf die Fahrtüchtigkeit von Epilepsie-Patientinnen und -Patienten untersucht und Methoden zur Einschätzung dieser Auswirkungen überprüft. Die Erkenntnisse sollen Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, die Fahrtüchtigkeit von Menschen mit Epilepsie zu beurteilen.

Entscheidend für die Risikoeinschätzung ist der Zusammenhang zwischen Unfallwahrscheinlichkeit und IEP-assoziierter Reaktionszeitverlangsamung

Die Studie zielt darauf ab, das Verständnis von IEP und ihren Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit zu vertiefen, und die Kriterien für die Beurteilung zu verbessern. Wichtig ist, dass die Autorinnen und Autoren keine einzelnen IEP (z.B. Spike-Entladungen) untersuchten, die bei Epilepsie sehr häufig sind. Die Latenzzeiten ihres Versuchsaufbaus mit manueller oder automatischer Triggerung waren zu lang, um einzelne spontane Spikes zu erfassen. In dieser Studie untersuchten sie daher stattdessen IEP-Serien, d.h. zwei oder mehr IEP in Serie.

IEP-Serien treten häufig bei primärer generalisierter Epilepsie auf, können aber auch bei fokaler Epilepsie beobachtet werden. Daher haben die Autorinnen und Autoren die IEP-Serien in drei Kategorien eingeteilt: generalisierte typische, generalisiert-atypische und fokale Entladungen. Priv. Doz. Dr. med. Heinz Krestel, Erstautor der Studie und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Epilepsiezentrums Frankfurt Rhein-Main am Universitätsklinikum Frankfurt, erklärt: „In unserer Studie mit 95 Menschen mit verschiedenen Formen von Epilepsie führten IEP-Serien fast immer zu Reaktionszeit(RZ)-Verlängerungen. Virtuelle Unfälle wurden in allen drei Tests während eines 20-minütigen Routine-EEGs nur selten gemessen, können aber schwerwiegende Folgen für die Aktivitäten des täglichen Lebens, einschließlich des Autofahrens, haben. Wir haben einen Weg gefunden, die kumulative Fehlerrate bzw. die kumulative Wahrscheinlichkeit für virtuelle Unfälle aus den gemessenen RT-Verlängerungen vorherzusagen, indem wir eine kumulative Verteilungsfunktion für virtuelle Unfälle aus den IEP-assoziierten RZ-Verlängerungen berechnet haben. Wir haben eine RZ-Verlängerung ab 90 Millisekunden als klinisch relevante Auswirkung einer IEP-Serie vorgeschlagen, weil sie zu einem virtuellen Unfallrisiko von 20 Prozent oder mehr führen würde. Die Auswirkungen von lEP-Serien, die zu verpassten Reaktionen im Simulator im Versuchslabor führten, haben wir mit Schläfrigkeit und Alkohol am Steuer auf realen Straßen verglichen. Bei einer sehr konservativen Schätzung sind die Häufigkeitsraten der mit IEP-Serien verbundenen verpassten Reaktionen im Simulator vergleichbar mit den Wahrscheinlichkeitsquoten für einen nicht-tödlichen Unfall bei selbstberichteter Schläfrigkeit und einer erhöhten Blutalkoholkonzentration von 0,035 Prozent (0,35 Promille).“ Schließlich haben die Forschenden eine Tabelle mit den zu erwartenden RZ-Verlängerungen und Wahrscheinlichkeiten für verpasste Reaktionen je nach Typ und Dauer der IEP erstellt, um es auch nicht in der Fahreignungsprüfung geschulten Neurologinnen und Neurologen zu ermöglichen, klinisch relevante IEP-Serien im Routine-EEG zu identifizieren und im Zweifel einen Reaktionstest anzuordnen.

Welcher Testtyp ist am besten?

Es wurden drei Reaktionstests eingesetzt, um IEP-bedingte Reaktionszeitverlängerungen und fehlende Antworten zu messen. Beim Flash-Test reagierten die Patientinnen und Patienten mit geschlossenen Augen auf einen einzelnen Lichtblitz per Knopfdruck, während das EEG aufgezeichnet wurde. Einzelne Blitze wurden manuell ausgelöst, sobald vom medizinischen Personal eine IEP im EEG erkannt wurde, und in zufälliger Weise während des normalen EEG.

In einem Autofahrvideospiel auf einem Laptop erschien ein Hindernis in der Fahrspur des Autos, und den Probanden blieb nur eine Sekunde Zeit, durch Knopfdruck die Spur zu wechseln, andernfalls fuhr das Auto in das Hindernis. Wie beim Flash-Test wurden Hindernisse ausgelöst, sobald eine IEP im EEG sichtbar wurde und zufällig während Abschnitten mit normalem EEG.

In einem realistischen Fahrsimulator wurde auf einer leeren Autobahn bei Nacht gefahren, und rote Stoppschilder wurden während normalem EEG und automatisch unter Verwendung einer patentierten Amplitudenschwellen-Erkennungsmethode vor den Fahrerinnen und Fahrern projiziert. Patientinnen und Patienten reagierten mit dem rechten Fuß auf die Bremse. „Bei der umschriebenen Aufgabe, als Reaktion auf einen visuellen Reiz einen Druckknopf zu betätigen oder mit dem rechten Fuß zu bremsen, bietet der realistische Simulator keinen Vorteil gegenüber dem Videospiel oder dem Flash-Test, weil sich die IEP-assoziierten Unfälle oder Reaktionszeitverlängerungen nicht signifikant zwischen den drei Testtypen unterschieden. Wir fanden auch keine Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen mit Epilepsie hinsichtlich IEP-induzierter Defizite“, erklärt Prof. Dr. Felix Rosenow, Leiter des Epilepsiezentrums Frankfurt Rhein-Main und Co-Autor der Studie. Selbst mit einfachen Reaktionstests kann also ermittelt werden, ab welchem Punkt anfallsfeie Menschen mit Epilepsie ein Verkehrsrisiko darstellen, oder ob sie trotz EEG-Veränderungen gefahrlos am Straßenverkehr teilnehmen können.

Die Studienergebnisse können dazu beitragen, dass bisher als risikoreich eingestufte Menschen mit Epilepsie wieder eine Fahrerlaubnis erhalten und somit ein Stück Lebensqualität zurückgewinnen – nicht zuletzt deshalb, weil die Empfehlungen Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, den Einfluss klinisch relevanter IEP-Effekte auf die Fahrtüchtigkeit einzelner Betroffener besser einzuschätzen. Andererseits könnten auch Patientinnen und Patienten erkannt werden, bei denen das Autofahren gefährlich ist, obwohl keine vom Patienten bemerkten Anfälle bestehen. 

Publikation:
Krestel, H., Schreier, D.R., Sakiri, E., von Allmen, A., Abukhadra, Y., Nirkko, A., Steinlin, M., Rosenow, F., Markhus, R., Schneider, G. Jagella, C., Mathis, J., Blumenfeld, H.; Predictive Power of Interictal Epileptiform Discharges in Fitness-to-Drive Evaluation. Neurology, August 29, 2023 (first published July 6, 2023). https://doi.org/10.1212/WNL.0000000000207531

Editorial zur Publikation in derselben Neurology-Ausgabe:
Kleen, J.K, Davis, K.A.; Is It Reasonable to Drive When There Is a (Spike) Train? Neurology. August 29, 2023 (Epub July 6, 2023). https://doi.org/10.1212MNL.0000000000207651

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