Judith Hermann übernimmt die nächste Frankfurter Poetikdozentur

Schon mit ihrem 1998 erschienenen Debüt „Sommerhaus, später“, das im Berlin der 1990er Jahre spielt und neun Erzählungen enthält, gelang Judith Hermann der große Durchbruch in die erste Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Die Erzählungen wurden als mentalitätsgeschichtliches literarisches Zeugnis einer Generation gefeiert. Weitere, inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzte Publikationen sollten folgen: die Erzählbände „Nichts als Gespenster“ (2003), „Alice“ (2009) und Lettipark“ (2016) sowie 2014 der kontrovers diskutierte erste Roman „Aller Liebe Anfang“. Für ihren aktuellen Roman „Daheim“ wurde ihr kürzlich der Rheingau Literatur Preis (2021) zuerkannt. Weitere Auszeichnungen: der Erich Fried Preis (2014), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2009) sowie der Kleist-Preis (2001). Foto: Andreas Labes

Judith Hermann übernimmt die nächste Frankfurter Poetikdozentur. Im Interview mit dem UniReport spricht Hermann über ihren Umgang mit der Pandemie, über ihren aktuellen Roman „Daheim“ und darüber, sich in einer Poetikvorlesung in die Karten schauen zu lassen.

Hinweis: Die für den 25. Januar, 1. und 8. Februar 2022 vorgesehenen Frankfurter Poetikvorlesungen mit Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt – vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ müssen leider wegen der Corona-Pandemie ins Sommersemester 2022 verlegt werden. Die neuen Termine werden zeitnah hier bekannt gegeben.

UniReport: Frau Hermann, die Corona-Pandemie hat das öffentliche Leben, dabei gerade das Kulturleben, sehr stark eingeschränkt. Wie sind Sie mit der vielen Zeit, die man „Daheim“ verbracht hat, umgegangen? Kann so was auch im künstlerischen Sinne etwas Inspirierendes sein?

Judith Hermann: Auf eine schwer zu begründende, etwas eigenartig gefühlte Weise vertragen sich die Worte „künstlerisch“ und „inspirierend“ nicht mit dem Wort „Pandemie“. Die Pandemie hat zumindest mich in keiner Weise künstlerisch inspiriert, von Anfang an und bis heute nicht, im Gegenteil, sie hat etwas Lähmendes und Deprimierendes, keine gute Basis für einen freien Geist. Ich führe seit dem Frühjahr 2020 kein anderes Leben, als in den Jahren zuvor – ich bin auch vor der Pandemie viel alleine gewesen, das bringt die Arbeit des Schreibens wohl mit sich. Ich sitze am Schreibtisch, ich verbringe den größeren Teil des Tages alleine, ich gehe gerne alleine spazieren, all das hat sich durch COVID-19 nicht geändert. Aber die Sorgen sind hinzugekommen, die Unruhe, die schwierigen familiären Verhältnisse, die ungewisse Lage, die offenen Fragen. Nichts, worüber ich schreiben wollen würde – schreiben kann man darüber vielleicht, wenn es vorbei ist. Die Bilder von Distanz und Isolation sind viel zu nah dran an dem, was literarisch gesehen für mich ein Auslöser für eine Geschichte sein kann.

In Ihrem neuesten Werk, dem Roman „Daheim“, führt die namenlose Protagonistin ein mitunter karg anmutendes, abgeschottetes und nur von wenigen Sozialkontakten unterbrochenes Leben an der Küste. Könnte man darin eine Existenzform erblicken, die das Leben mit der Pandemie kommentiert und reflektiert?

Das kann man machen, ja. Ohnehin kann man ein Buch ganz genau so lesen, wie man will und jede Assoziation, die einem dazu in den Sinn kommt, ist die richtige; es gibt wenig freiere Dinge als das Lesen auf der Welt. Möglicherweise ist das Leben der Protagonistin ein Kommentar zur Lage, eine Reflektion der Verhältnisse. Aber ich habe „Daheim“ vor Beginn der Pandemie geschrieben, mit Beginn der Pandemie beendet. Die Entsprechungen sind Zufall und im Grunde meines Herzens wünsche ich mir, es gäbe sie nicht.

Sie sind mit Erzählungen bekannt geworden – ein Genre, das in Deutschland nicht besonders beliebt zu sein scheint. „Daheim“ ist zwar ein Roman, beruht aber auch auf einer Erzählung oder Kurzgeschichte, die Sie bereits vor Jahren veröffentlicht haben. Was fasziniert Sie an der kurzen beziehungsweise kürzeren Erzählform?

Und an welcher Stelle des Schaffensprozesses entscheidet es sich bei Ihnen, ob es eine kürzerer Erzähltext oder ein Roman wird? Es gibt einen schönen Satz von Katja Lange-Müller zur Länge von Geschichten – nicht der Autor entscheidet über die Länge des Textes, der Text entscheidet das selbst. In „Daheim“ gab es erst die Kurzgeschichte – eine klare Short Story mit einem knappen Verlauf und einem offenen Ende und es ist sicher das Knappe und das Offene, das mich am Schreiben und am Lesen von Kurzgeschichten glücklich macht. Eine Art zurückgehaltene Energie, etwas Dichtes und Konzentriertes, das schwer zu fassen ist, die enigmatische Tatsache, dass das eigentliche Geschehen erst nach dem Ende der Geschichte beginnt. Diese gewisse Unruhe, die ich am Ende einer Erzählung empfinde, Ahnung von was, exquisite Ratlosigkeit. Aber nachdem ich diese Geschichte – sie hieß „Die Falle“ und das war auch der Arbeitstitel des Romans, eigentlich mein Wunschtitel – zu Ende geschrieben hatte, ließ sie mich nicht richtig los. Anders als sonst, wusste ich nicht, wie es dieser Erzählerin geht, in was für einer Verfassung sie ist, wo sie steht. Wenn sie nicht nach Singapur gegangen ist – was hat sie dann gemacht? Die Geschichte wollte – so hat es sich angefühlt – so nicht stehen bleiben, sie war noch nicht vorbei. Ich konnte sie so nicht zurücklassen, es war offenbar noch nicht „alles gesagt“

Sie haben einmal in einem Interview gesagt, dass Sie mit jedem Buch etwas lernen und zugleich etwas verlieren würden, also immer wieder von Neuem beginnen. Wie wirkt sich dieser ständige Erneuerungsprozess aus, wenn Sie im Rahmen einer Poetikvorlesung eher theoretisch über Ihr Schreiben dozieren?

Das wird sich zeigen, oder? Ehrlich gesagt fürchte ich mich vor dem Ergebnis, aber ich habe auch das Gefühl, dass ich jetzt eine Zäsur machen kann. Über das eigene Schreiben zu dozieren ist ein wenig so, als zeige ein Zauberer seinen Trick – ich lasse mir in die Karten sehen und das bedeutet natürlich einen Verlust. Aber es bedeutet eben auch etwas Neues, etwas Anderes. Ich wünsche mir das.

Hatten und haben die Poetiken von Dichterkolleginnen und -kollegen für Ihr eigenes Schreiben eine gewisse Bedeutung?

Nein – ich würde sagen, das haben sie eher nicht. Es gibt diese gewisse Angst auch vor den Vorlesungen der anderen, dieselbe Furcht vor dem Schlaglicht, der Entzauberung.

Eine letzte Frage: Worauf dürfen sich die Zuhörerinnen und Zuhörer Ihrer Poetikvorlesung freuen (sofern Sie das schon verraten möchten)?

Tja. Das kann ich wirklich nicht beantworten. Vermutlich können sie sich an und für sich auf eine Poetikvorlesung freuen. Ob sich diese Freude dann einstellen – bestätigen wird, darüber können wir dann später noch einmal sprechen.

Die Fragen stellte Dirk Frank

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 6/2021 (PDF) des UniReport erschienen.

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