Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Stefan Kadelbach über den Krieg gegen die Ukraine und die Standfestigkeit der Völkerrechtsordnung.
UniReport: Herr Prof. Kadelbach, die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine, die ja umschrieben wurde als »militärische Spezialoperation «, wurde von Putin gewissermaßen mit rechtlichen Argumenten begründet, mit der »Entmilitarisierung und Entnazifizierung des ukrainischen Volkes«. Ist das nicht absurd, dass die Völkerrechtsordnung von jemandem aufgerufen wird, der sich anschickt, diese zu zerstören?
Stefan Kadelbach: Man könnte es auch als eine Art von entfernter Referenz an diese Ordnung verstehen, dass versucht wird, vor dem Hintergrund ihrer Denkkategorien solche Aktionen zu rechtfertigen. Auf eine verdrehte und komplizierte Weise verbirgt sich dahinter vielleicht doch so etwas Ähnliches wie eine Anerkennung der völkerrechtlichen Ordnung. Sieht man es so, könnte man aus Putins Begründung für den Krieg drei Rechtfertigungsversuche ableiten. Der erste richtete sich auf eine antizipierte Selbstverteidigung: Man sei einem Angriff auf Russland zuvorgekommen. Theoretisch gibt es so etwas, allerdings nur unter sehr strengen Voraussetzungen, wenn ganz unmittelbar ein Angriff bevorsteht; das war hier sehr offensichtlich nicht der Fall. Die zweite Konstruktion wäre eine Art humanitärer Intervention, eine Schutzverantwortung für russischstämmige Ukrainer oder solche, die sich dem russischen Volk zugehörig fühlen. Immer wieder hat Putin den Kosovo-Einsatz der NATO als argumentative Folie verwendet. Aber von den Voraussetzungen her stimmt es nicht, dass es im Donbass um die Verhinderung eines Völkermords gegangen wäre; deswegen ist die Ukraine auch vor den Internationalen Gerichtshof gezogen. Und der dritte Rechtfertigungsversuch war, dass man zu Hilfe gerufen worden sei. So etwas nennt man „Intervention auf Einladung“. Diese muss aber von der legitimen Regierung eines anerkannten Staates ausgehen, was bei den sogenannten Donbass-Republiken nicht der Fall ist.
Beim Thema Waffenlieferung gab es in Deutschland eine schwierige Diskussion auch innerhalb der neuen Regierung. Was sagt das Völkerrecht denn dazu, ob es rechtens ist, die Ukraine mit Waffen zu beliefern?
Es gibt da in der Bewertung verschiedene Ansätze. Letztlich laufen aber die meisten von ihnen darauf hinaus, dass es zwischen aktiver Kriegsbeteiligung und Neutralität auch noch einen Zwischenraum gibt. Man bewegt sich da zwischen zwei Polen. Am einen Ende steht das humanitäre Völkerrecht, früher Kriegsvölkerrecht genannt, dem zufolge in einem bewaffneten Konflikt Partei ist, wer selbst mit Truppen, sei es zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, in Kampfhandlungen eintritt. Am anderen Ende steht das Neutralitätsrecht, wie es vor dem Ersten Weltkrieg erdacht worden ist und auf eine der Haager Konventionen von 1907 zurückgeht; danach darf man noch nicht einmal Geld geben, das eine Konfliktpartei für Waffenkäufe verwenden kann, ohne den neutralen Status zu riskieren. Aber das wird in dieser Striktheit heute nicht mehr so gesehen. Einige Völkerrechtler sagen, dass die Unterstützung legitimer Selbstverteidigung nicht notwendigerweise militärisch sein muss, sondern auch politisch oder wirtschaftlich gewährt werden kann, ohne dadurch Kriegspartei zu werden. Ein anderer Ansatz besagt, dass es noch gar keine Beteiligung an der militärischen Selbstverteidigung eines Staates ist, solange man nicht selbst militärisch aktiv der angegriffenen Partei beisteht; erst dann spräche man überhaupt von kollektiver Selbstverteidigung. Beide Ansichten gehen davon aus, dass, wer nicht selbst an Kampfhandlungen teilnimmt oder zu diesen auf eine sehr unmittelbare Weise beiträgt, auch nicht Partei des bewaffneten Konfliktes wird.
Die Bundesregierung hat an vielen Stellen gesagt, dass man Putin mit bestimmten Maßnahmen nicht provozieren wolle, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Weiß man aber, welche Art der Unterstützung Russland überhaupt als »Kriegseintritt« bewertet?
Es ist berechtigt, das zu fragen, weil die rechtlichen Kategorien aus einer anderen, nämlich der normativen Welt stammen und die politische Einschätzung darüber, mit wem ein Staat in Kampfhandlungen eintritt, dem allein, wenn überhaupt, nicht folgt. In der politischen Öffentlichkeit werden die Fragen, ob man Waffen liefern darf und inwieweit und auf welchen Wegen man es auch tatsächlich tun sollte, manchmal nicht auseinandergehalten. Natürlich darf man sich nicht einschüchtern lassen. Aber es ist klug, sich die Beantwortung dieser Fragen nicht zu leicht zu machen.
Auch für die Wirtschafts- und Finanzsanktionen gibt es völkerrechtliche Vorgaben. Hat sich Europa nach Ihrer Einschätzung daran orientiert?
Auf völkerrechtlicher Ebene werden zwei verschiedene Typen von Sanktionen unterschieden: Das eine sind die, die für sich gesehen rechtmäßig sind. Wenn ein Land ankündigt, dem anderen Land künftig kein Gas mehr abzukaufen, dann ist das noch kein Rechtsbruch, solange es damit nicht bestehende Verträge bricht. Der andere Typ von Sanktionen, die für sich gesehen bestehendes Recht verletzen, ist dann möglich, wenn der Staat, dem gegenüber Maßnahmen ergriffen werden, seinerseits das Völkerrecht verletzt hat; man spricht dann von Gegenmaßnahmen. Sie sind allerdings nicht, wie das Wort „Sanktion“ es nahelegt, eine Strafe, sondern sollen ein Mittel sein, um den betreffenden Staat zu rechtmäßigem Verhalten zurückzubringen.
Davon zu trennen ist aber die Frage der Verwendung von Vermögenswerten russischer privater oder regierungsnaher Personen?
Ja. In letzter Zeit wird vorgeschlagen, damit den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren. Theoretisch wäre das möglich. Aber zunächst einmal bewirkt das Einfrieren von Vermögenswerten noch keinen Wechsel des Eigentümers. Wenn es zu Enteignungen kommt, sind im Völkerrechtsverkehr eigentlich Entschädigungen geschuldet. Man kann prüfen, ob es kriegsbedingt auch entschädigungsfreie Enteignungen geben kann. Letztlich ist das aber vielleicht nicht entscheidend. Nehmen wir an, die USA, die EU und andere Staaten enteignen russisches Vermögen und es würde eine Entschädigung geschuldet, dann wäre Russland theoretisch zwar in der Lage, solche Ansprüche für eigene Staatsangehörige zu erheben, wenn deren innerstaatlicher Rechtsweg erfolglos bleibt. Dann würde es konstruktiv aber auch denkbar, dass eine Gegenrechnung aufgemacht wird mit den Schäden, die die Russische Föderation in der Ukraine angerichtet hat. Es gibt historische Beispiele für friedensvertragliche Regelungen dieser Art.
Viele Menschen denken: Was nutzt einem die Völkerrechtsordnung, wenn doch ein Aggressor sich über alles hinwegsetzen kann. Ist das Völkerrecht durch den Krieg gegen die Ukraine jetzt erschüttert, ist es potenziell in seiner Existenz gefährdet?
Das Völkerrecht gibt es seit Jahrhunderten und hat schwerste Konflikte erleben und überleben müssen. Es gibt zwei Gründe dafür: Zum einen muss es Foren geben, auf denen Konflikte wieder beendet werden können. Das können nur rechtliche Institutionen sein. Zum anderen besteht das Völkerrecht nicht nur aus einzelnen Verträgen, sondern stellt eine sehr alte, wenn auch sich ständig ändernde Praxis dar, die etwas darüber aussagt, wie groß die Spannbreite des Vertretbaren ist. Man kann innerhalb bestehender Prinzipien und Begriffe natürlich zu verschiedenen Einschätzungen kommen, was konkrete Situationen betrifft. Aber es ist nicht alles erlaubt. Wenn sie der Ansicht wären, sie dürften alles, würden sich Kriegsparteien auch nicht gegenseitig Verletzungen vorhalten oder sie abstreiten. Das Völkerrecht mag schwach erscheinen in solchen Krisen. Die Ordnung als solche stellen sie aber nicht in Zweifel, genauso wenig, wie ein Verbrechen die Strafrechtsordnung infrage stellt.
Völkerrechtliche Konflikte sind ja meistens undramatischer als der aktuelle in der Ukraine. Ist das für Sie selber auch eine große Herausforderung?
Dass einem solche Ereignissen nahegehen, geht ja nicht nur Völkerrechtlern so; den meisten Menschen ist das Schicksal anderer nicht egal, auch nicht das in anderen Teilen der Welt, wenn wir auch seit Beginn des Ukraine- Krieges vielleicht etwas den Blick dafür verloren haben, was im Jemen, in Myanmar oder anderswo passiert. Man könnte fragen, wer als Experte oder Expertin im Völkerrecht besser aufgehoben ist: die Optimisten oder die Pessimisten? Es sieht erstmal so aus, als wären das die Pessimisten, die, belehrt durch die Geschichte, immer auch an das Schlimmste denken und dafür nach Antworten suchen müssen. Man kann im Völkerrecht aber auch – etwas optimistischer – die Möglichkeit erkennen, die Welt so zu sehen, wie sie sein müsste. Dafür bietet es die Mittel und auch oft die Antworten. Deswegen halte ich das Völkerrecht auch für eine Disziplin, die in Deutschland zu Unrecht kein Pflichtfach in der juristischen Ausbildung ist, anders als in anderen Ländern Europas. Es betrifft uns alle, wir merken es halt nur selten. Wir alle auf der Welt sind voneinander abhängig. Und neben den internationalen Beziehungen ist das Völkerrecht wahrscheinlich die Disziplin, die uns das am deutlichsten zeigt.
Fragen: Dirk Frank