Herr Professor Gerlach, wie schätzen Sie insgesamt den neuen Koalitionsvertrag ein, wie schneidet der Bereich Gesundheit und Pflege ab?
Ferdinand Gerlach: Es gibt in diesem Koalitionsvertrag viel Licht, aber auch einigen Schatten. Was uns als Sachverständigenrat besonders gefallen hat ist die Tatsache, dass es wohl noch nie einen Koalitionsvertrag gegeben hat, in dem so viele unserer Empfehlungen aufgenommen wurden. Das betrifft zum Beispiel den Bereich der Digitalisierung, das Konzept für eine umfassende Notfallreform, unsere Empfehlungen zur Krankenhausstruktur, zur sektorenübergreifenden Versorgung und Vergütung bis hin zur Entbudgetierung von Hausärzten – das sind fast alles Vorschläge des Sachverständigenrates. Damit sind wir sehr zufrieden. Kritisch sehen wir, dass die Frage, wie das, was ich gerade aufgezählt habe und auch noch einige Dinge darüber hinaus, finanziert werden soll, nicht beantwortet wird. Wir stehen in den nächsten Jahren vor enormen Herausforderungen. Die Ausgaben steigen deutlich schneller als die Einnahmen. Das Defizit, das wir für 2023 auf rund 15 Milliarden schätzen, kann mit den im Koalitionsvertrag genannten Maßnahmen nicht gedeckt werden. Da muss sehr bald etwas passieren! Auch bei der Bund-Länder-Koordination gibt es noch viele Fragezeichen; und letztlich auch bei der konkreten Ausgestaltung der Maßnahmen. Dieser Koalitionsvertrag lässt relativ viel Spielraum für Interpretation und damit auch für die Gestaltung durch den aktuellen Minister. In früheren Koalitionsverträgen gab es deutlich mehr präzise Festlegungen. Die Vorgabe der Arbeitsgruppe, die den Koalitionsvertrag verfasst hat, lautete wohl sich kurz zu fassen. Auf Präzisierungen oder konkrete Beispiele sollte verzichtet werden. Die grobe Benennung von Zielen und Maßnahmen ist also gut, aber es bleibt abzuwarten, wie das konkret umgesetzt und finanziert werden soll.
Ein Unterkapitel ist immerhin dem Thema Digitalisierung gewidmet.
Das ist ein Thema, das uns als Sachverständigenrat sehr beschäftigt. Wir haben in diesem Jahr dem Bundestag und dem Bundesrat ein Gutachten mit dem Titel „Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“ übergeben. Auch daraus sind einige unserer Empfehlungen 1:1 in den Koalitionsvertrag aufgenommen worden. Beispielsweise, dass alle (versicherten) Bürgerinnen und Bürger automatisch eine elektronische Patientenakte (ePA) bekommen. Das beinhaltet zwei Opt-out-Möglichkeiten: zum einen können die Patienten entscheiden, dass sie diese nicht nutzen möchten; zum anderen, dass sie bestimmte Inhalte für bestimmte Leistungserbringer ‚verschatten‘, damit sie nicht lesbar sind. Das begrüßen wir sehr; denn das wird dabei helfen, dass die elektronische Patientenakte in die Fläche kommt. Wir haben derzeit eine in der Bevölkerung kaum bekannte ePA, mit einem zu komplizierten, mehrfach gestuften und zeitlich begrenzten Opt-in-System. Wir befürchten, dass sich die elektronische Patientenakte so nicht durchsetzen wird. Wir begrüßen außerdem, dass ein „Gesundheitsdatennutzungsgesetz“ vom Bundestag verabschiedet werden soll; das ist ebenfalls eine explizite Formulierung, die direkt von uns angestoßen wurde. Wir sehen digitale Gesundheitsdaten als eine extrem wichtige Chance für bessere Diagnostik und Therapie. Gesundheitsdaten ermöglichen ein systematisches Lernen und eine gemeinwohldienliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung insgesamt. Unser Motto dazu lautet: „Daten teilen heißt besser heilen!“ Wir müssen in Deutschland dahinkommen, dass wir die Daten nicht nur gut schützen, sondern auch gut nutzen.
Sie sehen da einen großen Rückstand in Deutschland, richtig?
Ja. Zur Einordnung: Bei der elektronischen Patientenakte haben wir mehr als 15 Jahre Rückstand auf Länder wie Dänemark oder Estland. Wenn diese Maßnahmen jetzt nicht ergriffen würden, würden wir noch weiter zurückfallen. Man kann das durchaus mit dem Zustand der Digitalisierung in den Schulen vergleichen. Wir haben im Gesundheitssystem immer noch zu häufig Papierakten; dazu kommt eine völlig unzureichende Kommunikation zwischen Kliniken und Praxen, zwischen Ärzten und anderen Gesundheitsberufen. Wir beklagen ferner eine zu geringe Transparenz und Interoperabilität. Die Daten werden insbesondere völlig unzureichend für Forschungszwecke genutzt. Wir müssen da dringend aufholen. Dafür sind zumindest jetzt die Weichen gestellt. Jetzt kommt es auch hier darauf an, wie es konkret umgesetzt wird;
Der Bereich Pflege wird im Koalitionsvertrag im Kapitel zur Gesundheit an erster Stelle erörtert.
Das ist sehr begrüßenswert. Der angekündigte Pflegebonus für Pflegende reicht alleine ja nicht aus, ein einmaliger schon gar nicht. Wir brauchen hier unbedingt strukturelle Veränderungen. Das beginnt schon mit der zu hohen Zahl an Kliniken und den dort zum Teil unnötig durchgeführten Prozeduren. Wir verschwenden sehr viel ärztliche und pflegerische Arbeitskraft in unnötigen Kontakten und Vorgängen – in Praxen wie in Kliniken. Wir müssen zukünftig stärker zu einer bedarfsgerechten Versorgung kommen und die hochtourig drehenden Hamsterräder in Praxen und Kliniken, angetrieben durch falsche Vergütungsanreize, bremsen. Wir müssen also in verschiedenen Bereichen sowohl die Über- als auch die Fehlversorgung abbauen und Unterversorgung in anderen Bereichen, wie etwa der Langzeitpflege, kompensieren. Speziell im Hinblick auf die Pflege bedarf es einer Aufwertung und größeren Wertschätzung. Dazu gehört auch, dass es Qualifikationsmöglichkeiten und Aufstiegschancen gibt. In Kliniken und Pflegeheimen bedarf es generell einer stärkeren Teamorientierung durch bessere professionsübergreifende Zusammenarbeit. Die Arbeitsbedingungen müssen vor allem in der Akut- und Langzeitpflege deutlich verbessert werden, damit attraktivere Arbeitsplätze entstehen oder erhalten bleiben. Das ist zurzeit leider oftmals nicht gewährleistet.
Sie haben bereits das Thema Notfallversorgung genannt; welche Änderungen sehen Sie dort als besonders wichtig an?
Das Thema hatten wir in unserem Gutachten aus dem Jahre 2018 ausführlich behandelt. Auch im letzten Koalitionsvertrag wurde das schon adressiert. Die richtigen Elemente sind im neuen Koalitionsvertrag auch bereits skizziert. Es ist nun zu hoffen, dass jetzt mit den Ländern, die bisher verschiedentlich als Bremser aufgetreten sind, die notwendigen Schritte umgesetzt werden können. Dazu gehören zum einen „verschränkte Leitstellen“, in denen die 112, die Notrufnummer für Feuerwehr und Rettungsdienste, und die 116 117, die Notrufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst, mit den dahinterstehenden Strukturen eng miteinander verzahnt werden. Menschen, die ein akutes Problem haben, sollen möglichst zielgerichtet, ohne Umwege, an die richtige Stelle geleitet werden. Zum anderen sollen sogenannte „integrierte Notfallzentren“ aufgebaut werden: An einem gemeinsamen Tresen lenken Krankenhausärzte und niedergelassene Ärzte Patienten mit einem Problem in die richtigen Strukturen, also zum Beispiel entweder in die ambulante Versorgung oder in die Klinik. Diese Notfallzentren sollen an besonders dafür geeigneten Krankenhäusern etabliert werden und 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, eine bestmögliche Qualität der Notfallversorgung zur Verfügung stellen. Das soll noch flankiert werden durch mehrsprachige Patienteninformationen, die auf verschiedene Zielgruppen zugeschnitten werden.
Die Fragen stellte Dirk Frank