Expert*innen der Goethe-Universität bewerten den Koalitionsvertrag

„Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ ist der Koalitionsvertrag überschrieben, den die Ampelkoalition aus SPD, Grüne und FDP am 24. November veröffentlicht hat. Wie sind das Regierungsprogramm und die darin formulierten Vorhaben zu bewerten, was ist umsetzbar, wo sind Defizite zu konstatieren? Expert*innen aus Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaft, Pädagogik/Bildung, Politikwissenschaften, Soziologie, Drogenforschung und Klimaforschung haben sich einmal angeschaut, ob der Koalitionsvertrag seinem Anspruch, „mehr Fortschritt zu wagen“, auch gerecht wird.

Was die geplante Einführung der Kindergrundsicherung bedeutet, in welcher Hinsicht eine an den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen orientierte Sozialpolitik noch weiterzuentwickeln wäre, erläutert die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Sabine Andresen. Drogenforscher Dr. Bernd Werse erklärt, warum er die Legalisierung von Cannabis für gut erachtet. Maßnahmen im Bereich des Klimaschutzes und sozial-ökologische Transformationen wurden im Vorfeld der Verhandlungen von den Koalitionären in den Fokus gerückt, was ist daraus geworden? Der Atmosphärenforscher Prof. Joachim Curtius bemängelt, dass der Abbau von Subventionen und Steuervorteile für fossile Energieträger nicht entschlossener betrieben werde. Prof. Flurina Schneider, Professorin für Soziale Ökologie und Transdisziplinarität, fordert, dass das in der Forschung erarbeitete Wissen für den Wandel noch stärker in die politischen, ökonomischen und kulturellen Prozesse und Machtverhältnisse eingebunden werden müsse. Die Politikwissenschaftler*innen Prof. Nicole Deitelhoff und Prof. Christopher Daase beantworten gemeinsam die Frage, ob das außen- und sicherheitspolitische Programm der Ampel mehr Fortschritt wagt, mit einem „Jein“: Sie sehen viel Kontinuität und Pragmatismus, aber auch progressive Akzente. Der Soziologe Prof. Markus Gangl diskutiert in seinem Beitrag vorgesehene sozialpolitische Änderungen im Bereich des BAFöG und der Grundsicherung. Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Ute Sacksofsky begrüßt, dass das reproduktive Selbstbestimmungsrecht von Frauen gestärkt werden soll, unter anderem durch die Streichung des § 219a StGB, sieht aber noch weiteren Handlungsbedarf für eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Die Ökonomen Prof. Alexander Ludwig und Prof. Volker Wieland werfen einen kritischen Blick auf den Koalitionsvertrag im Hinblick auf Finanzen und Investitionen: Während Ludwig unter anderem bemängelt, dass die Ausführungen zur Rente sich „der Realität des demographischen Wandels“ verweigerten, das Ziel einer Generationengerechtigkeit verfehlt und mit einer weitergehenden Steuerfinanzierung die gesamtökonomische Effizienz verringert werde, betont Wieland in seinem Beitrag, dass die großen Herausforderungen Digitalisierung und Klimaschutz gestemmt werden können, wenn die Möglichkeiten der Marktwirtschaft effektiv genutzt werden; allerdings warnt er davor, dass die Regierung bei der Finanzierung der geplanten Maßnahmen nicht ein Vorgehen wähle, das „die Schuldenbremse möglicherweise in großem Stil umgeht“.

Sabine Andresen: Armut von Kindern und Jugendlichen realistisch bekämpfen

Es ist ein großes Vorhaben, das im Koalitionsvertrag der Ampelparteien vergleichsweise ausführlich formuliert ist: Die Einführung der Kindergrundsicherung. Seit vielen Jahren wird diese von unterschiedlichen Gruppierungen gefordert, ein so genanntes „Bündnis Kindergrundsicherung“ – getragen von großen Sozialverbänden und NGOs – hat eine intensive politische Lobbyarbeit betrieben.

Auf die Kritik an der bisherigen Vorgehensweise der Sozialgesetzgebung und den Leistungsansprüchen aus SGB II und XII, sich lediglich auf minimale Bedarfe von Kindern und Jugendlichen in Armutslagen und Haushalten mit niedrigem Einkommen zu beschränken, findet sich nun im vorliegenden Koalitionsvertrag eine Reaktion. Die Einführung einer Kindergrundsicherung könnte perspektivisch dazu führen, die institutionell etablierte Blindheit gegenüber den Besonderheiten der Lebensphasen Kindheit und Jugend zu überwinden. Nötig ist eine Sozialgesetzgebung durch die allen Kindern und Jugendlichen mindestens durchschnittlich gute Möglichkeiten und Ressourcen des Aufwachsens zur Verfügung stehen. Dazu gehört auch, die Bedarfe dieser Altersgruppen durch ein regelmäßiges Monitoring zu erheben und Leistungen entsprechend anzupassen.

Mit der Kindergrundsicherung sollen verschiedene Leistungen in ein Förderformat zusammengeführt werden, dazu zählen das Kindergeld, Leistungen aus SGB II und XII, Teile aus dem so genannten Bildungs- und Teilhabepaket und der Kinderzuschlag. Versprochen werden eine einfache Berechnung und eine unbürokratische Auszahlung. Das wäre durchaus eine Systemveränderung. Geplant ist die Auszahlung eines für alle gleich hohen einkommensunabhängigen Garantiebetrags, den volljährige Anspruchsberechtigte, zum Beispiel Studierende, direkt erhalten. Abhängig vom Elterneinkommen wächst die Höhe der Kindergrundsicherung, wenn Mütter und Väter etwa im Niedriglohnsektor tätig sind.

Bei der nun anstehenden Umsetzung werden sich verschiedene Fragen zu Schnittstellen wie der zur Klärung des Unterhaltsrechts bei getrennten Elternteilen oder des Bafögs ergeben, hier muss ressortübergreifend geplant werden. Auch die Verständigung über einen Einkommensbegriff ist zielführend. Kinder und Jugendliche sind auch in der derzeitigen Pandemie von Armut betroffen, ihnen mit einem „Sofortzuschlag“ zu helfen, ist mehr als notwendig.

Aus Sicht einer Kindheitsforscherin ist eine an den Bedarfen von Kindern und Jugendlichen orientierte Sozialpolitik weiterzuentwickeln. Was ein vierjähriges Kind, eine zehnjährige Schülerin am Ende der Grundschulzeit oder ein vierzehnjähriger Jugendlicher für ein gutes Aufwachsen benötigen, sollte eine zentrale Frage sein.

Prof. Dr. Sabine Andresen ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität. Kontakt: S.Andresen@em.uni-frankfurt.de | Website

Joachim Curtius: Klimaschutz zwar zentrales Thema, aber Verzicht auf fossile Energieträger nicht entschlossen genug

Der Koalitionsvertrag bedeutet einen großen Schritt hin zu einer klimaneutralen Industriegesellschaft. Die drei Koalitionspartner machen den Klimaschutz zu einem zentralen Thema dieser Legislaturperiode und weit darüber hinaus. Keinem anderen Thema wird so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Diese hohe Priorität ist angesichts des schnell voranschreitenden Klimawandels und der daraus erwachsenden Gefahren auch dringend notwendig, ja überfällig. Die vielen Maßnahmen zum Ausbau der Erneuerbaren Energien und zum Abbau von Hemmnissen bei der Genehmigung und Umsetzung begrüße ich sehr. Gleichzeitig wird sich die neue Regierung daran messen lassen müssen, wie groß die Erfolge dann tatsächlich sind. Hier zählen vor allem die nackten Zahlen: wie viele Millionen Tonnen CO2-Emissionen werden wie schnell vermieden und wie genau halten wir die Reduktionsziele und den Paris-Pfad ein.

In einigen Punkten greift der Koalitionsvertrag noch zu kurz oder er ist zu vage formuliert. Dies betrifft unter anderem den Abbau von Subventionen für fossile Energien. Um schnell von den fossilen Energieträgern wegzukommen, sollten die umfassenden Subventionen und Steuervorteile für fossile Energieträger deutlich entschlossener abgebaut werden. Hierzu zählen die fehlende Besteuerung von Kerosin oder die Pendlerpauschale, die auch für Verbrennermotoren gewährt wird. Diese Subvention mag zwar noch für geringverdienende Pendler notwendig sein, die sich den Umstieg auf ein Elektrofahrzeug derzeit nicht leisten können, nicht aber für Spitzenverdiener.

Für den schnelleren Ausstieg aus der Kohleenergie wäre auch eine klare Aussage zur schnelleren Löschung der damit verbundenen CO2-Zertifikate auf EU-Ebene wichtig, damit die Emissionen auch tatsächlich reduziert und nicht nur ins Ausland verlagert werden. Auch für den Agrarsektor hätte ich mir noch weitgehendere Schritte erwünscht, beispielsweise Programme für die Wiedervernässung von trockengelegten Mooren, die heute als landwirtschaftliche Flächen genutzt werden. Diese Flächen machen nur einen kleinen Teil der Anbauflächen aus, sie sind aber für etwa fünf Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland verantwortlich.

Prof. Dr. Joachim Curtius ist Professor für Experimentelle Atmosphärenforschung an der Goethe-Universität. | Kontakt: curtius@iau.uni-frankfurt.de; Website

Nicole Deitelhoff / Christopher Daase: Ein bisschen Fortschritt: Die Außen- und Sicherheitspolitik der Ampelkoalition

Da ist er nun also der neue Koalitionsvertrag der Ampel, an den schon im Vorfeld so große Erwartungen gerichtet wurden. Ganz folgerichtig wurde er unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ vorgestellt. Wagt das außen- und sicherheitspolitische Programm der Ampel denn mehr Fortschritt?

Die Antwort ist ein beherztes Jein! Nein, denn das außen- und sicherheitspolitische Programm der Ampelkoalition ist durch viel Kontinuität und Pragmatismus geprägt: Da ist von der Bekräftigung der transatlantischen Partnerschaft die Rede, der Stärkung des Multilateralismus und der Unterstützung der UN-Reformbemühungen. Auch das Bekenntnis zur Nato und zur Stärkung der Europäischen Union fügt sich in die Tradition deutscher Außenpolitik ein, die sich an transatlantischer Partnerschaft, Europäischer Union und Multilateralismus orientiert. Es gibt aber auch progressive Akzente: Das ist im Bereich der Europapolitik zu erkennen, in dem sich die Koalition zum föderalen Bundesstaat Europa bekennt und darauf hinarbeiten will, „dass die Konferenz (zur Zukunft Europas) in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen (sollte), der […] die Grundrechtecharta zur Grundlage hat.  (S. 131). Dazu passt das deutliche Signal Richtung Polen und Ungarn, dass die neue Regierung nicht bereit ist, ihre permanenten Verletzungen der EU-Verträge hinzunehmen.

Auch von einer feministischen Außenpolitik ist erstmals in einem Regierungsprogramm die Rede. Damit ist die gezielte Stärkung der Teilhabe von Frauen in Friedensprozessen im Besonderen aber auch in der Außenpolitik im Allgemeinen bezeichnet. Das reicht von der stärkeren Besetzung von Leitungsfunktionen in internationalen Organisationen und im Auswärtigen Dienst mit Frauen bis hin zur paritätischen Beteiligung von Frauen in Verhandlungen.  Allerdings fällt die merkwürdige Formulierung dazu auf, die von Politik im „Sinne einer feminist foreign policy“ spricht: Was nun: Feministische Außenpolitik oder doch nicht? Aber immerhin, der Begriff kommt vor.

Am progressivsten zeigt sich das Programm der neuen Regierung aber vielleicht im Bereich der Rüstungskontrolle. Das zeigt sich zum einen im Bestreben, einen Beobachterstatus beim Nuklearen Verbotsvertrag zu beantragen, ohne Mitglied zu werden, zum anderen im Bekenntnis zu einem nationalen Rüstungsexportkontrollgesetz, eine Forderung, die die Friedensforschungsinstitute seit Jahren, eher schon Jahrzehnten an die deutsche Politik gerichtet haben und die nun erstmals ihren Weg in einen Koalitionsvertrag gefunden hat. Beides birgt Konfliktpotenzial mit den europäischen und den Nato-Partnern. Der Beobachterstatus im Nuklearen Verbotsvertrag unterminiert die Ablehnung des Vertrags durch die Natostaaten, und das nationale Rüstungskontrollexportgesetzt könnte die gleichzeitigen Pläne für verstärkte Rüstungskooperation im EU-Kontext torpedieren, weil sie die Exportmöglichkeiten gemeinsamer Rüstungsprodukte deutlich beschneiden.

Man darf gespannt sein, wie die neue Regierung diese Spannungen aufzulösen gedenkt. Nicht ohne Grund sind gerade in diesen progressiveren Ansätzen die Formulierungen vage gehalten: Man will sich bemühen. Aus Friedensforschungssicht kann man nur hoffen, das nach vier Jahren nicht nur im Zeugnis steht: Sie waren stets bemüht.

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen an der Goethe-Universität u. Geschäftsführende Direktorin des Leibniz Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) | Kontakt: deitelhoff@HSFK.deWebsite

Prof. Dr. Christopher Daase ist Professor für Internationale Organisationen an der Goethe-Universität.
| Kontakt: Daase@normativeorders.net; Website

Markus Gangl: Wichtige sozial- und gesellschaftspolitische Vorhaben

Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP verspricht einen klaren sozial- und gesellschaftspolitischen Aufbruch. Sicherlich hat im Wahlkampf selbst das SPD-Versprechen einer Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro einen besonders sichtbaren Platz eingenommen, aber auch darüber hinaus finden sich im Koalitionsvertrag nun eine ganze Reihe von wichtigen Vorhaben, die viel zu lange nicht angegangen worden sind. Die neue Koalition verspricht beispielsweise bildungspolitische Impulse durch eine Neufassung des BAFöG, die Förder- und Freibeträge regelmäßig erhöht, Förderregeln flexibilisiert und das BAFöG auch verstärkt aus der beruflichen Bildung zugänglich macht.

Das Prinzip investiver Sozialpolitik kommt zudem in einem neuen Lebenschancen-BAFöG, dem neuen Qualifizierungsgeld zur Unterstützung betrieblichen Strukturwandels oder auch mit der stärkeren Betonung der Weiterqualifizierung während des Arbeitslosengeld- oder Grundsicherungsbezugs zum Ausdruck, wodurch sich das Aufgabenprofil der Bundesagentur für Arbeit insgesamt stärker in die aktive Qualifizierungsförderung verschieben soll. Zudem soll die Grundsicherung (also „Hartz IV“) sehr grundlegend und problemorientiert reformiert werden, indem die Leistungsgewährung vereinfacht, die Regelsätze neu berechnet, und die Sanktionsverfahren evaluiert werden – während gleichzeitig die derzeit zersplitterten Leistungen für einkommensschwächere Familien zu einer einheitlichen Kindergrundsicherung zusammengeführt werden sollen.

Zu begrüßen ist ebenfalls, dass der Koalitionsvertrag die hohe sozialintegrative Bedeutung der Erwerbstätigkeit anerkennt, ob durch verstärkte Erwerbsanreize durch besser ausgestaltete Zuverdienstregelungen in der Grundsicherung, oder durch das große Projekt eines neu gestalteten Zuwanderungs- und Aufenthaltsrechts, in welchem Erwerbsintegration verlässliche Bleibeperspektiven schafft und mit dem hoffentlich die inzwischen 20 Jahre alten Impulse aus der Süssmuth-Kommission wieder aufgegriffen werden. Vor allem in der Rentenpolitik hätte man den Neu-Koalitionären aber etwas mehr Mut zur Klarheit wünschen mögen, da die angestrebte Reform der Riester-Rente zwar sicher sinnvoll, aber eben sicher auch nicht ausreichend sein wird, um einen generationengerechte und sozialpolitisch verantwortbare Antwort auf die zweifache Herausforderung einer stetig steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitig stetig zunehmender Differenzierung von Lebens- und Erwerbsverläufen zu geben.

Prof. Dr. Markus Gangl ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialstruktur und Sozialpolitik an der Goethe-Universität. | Kontakt: mgangl@soz.uni-frankfurt.deWebsite

Alexander Ludwig: Die Ampel und die Renten-Realitätsverweigerung

Der Vertrag der Ampel-Koalition sieht vor, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung alle Linien gehalten werden: Beitragssatz, Rentenniveau und Renteneintrittsalter sollen konstant bleiben. Die Rechnung kann aufgrund des demographischen Wandels nicht aufgehen. Dem zu entgegnen sollen entstehende Vorsorgelücken durch die Anlage von 10 Mrd. Euro in einem staatlich organisierten Fonds geschlossen werden. Da dieser Betrag viel zu klein ist und zugleich die Dynamik des demographischen Wandels zu früh einsetzt, ist der Fonds zur Lösung der drängenden Probleme nicht geeignet. Das heißt, dass die Rentenlücke über Steuern finanziert werden muss.

Die Ausführungen zur Rente verweigern sich so der Realität des demographischen Wandels und verwerfen sozialdemokratische Prinzipien in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird das Ziel einer Generationengerechtigkeit verfehlt, da die Haltelinien das Gerechtigkeitsprinzip der im Gesetz verankerten Rentenanpassungsformel unterlaufen. Zum anderen müsste sozialdemokratische Politik darin bestehen, die Effizienz eines Systems zu steigern – in diesem Fall durch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters –, um so den Ressourcenspielraum zur Erreichung von Umverteilungszielen zu erweitern. Schon jetzt sind die steuerfinanzierten Subventionen im Rentensystem erheblich; eine weitergehende Steuerfinanzierung wird die Transparenz des Systems und die gesamtökonomische Effizienz verringern.

Schließlich kann eine höhere Kapitaldeckung durch Stärkung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge erreicht werden. Natürlich ist es denkbar, dass der Staat zusätzlich die Rentenversicherung stützt, indem er zu günstigen Konditionen Kredite aufnimmt und dieses Kapital zu höheren Renditen investiert. Warum aber sollte eine staatliche Institution geschaffen werden, die zusätzlich gegen Staatseingriffe immunisiert werden muss, wenn wir über einen gut organisierten Versicherungsmarkt verfügen? Es ist sinnvoller, wenn der Staat jedem Erwerbstätigen einen über Schulden finanzierten Betrag auszahlt, der seitens der Privathaushalte in eine Kapitalanlage investiert werden muss. Ein Default-Produkt kann von einem Konsortium der deutschen Versicherungswirtschaft angeboten werden, und ein Umstieg auf eine standardisierte Alternative ist durch Wahl auf einer Internet-Plattform möglich. Transaktionskosten dieses Systems wären sehr gering, eine solche kapitalgedeckte Altersvorsorge wäre also sehr renditeträchtig.

Alexander Ludwig ist Professor für Public Finance and Macroeconomic Dynamics an der Goethe-Universität. | Kontakt: alexander.ludwig@econ.uni-frankfurt.deWebsite

Eine Langfassung des Beitrages ist abrufbar unter https://alexander-ludwig.com/

Ute Sacksofsky: Reproduktive Selbstbestimmung und Schwangerschaft

Der Koalitionsvertrag hat sich die Aufgabe gesetzt, das reproduktive Selbstbestimmungsrecht von Frauen zu stärken, unter anderem durch die Streichung des § 219a StGB. Dies ist uneingeschränkt zu begrüßen. Die Gießener Frauenärztin Kristina Hänel wurde kürzlich wegen eines Verstoßes gegen § 219a StGB verurteilt: In der Veröffentlichung rein sachlicher Informationen über die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen wurde eine „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ gesehen, weil ihr das ärztliche Honorar einen „Vermögensvorteil“ verschaffen würde. Die halbherzige Neuregelung im Jahr 2019 änderte an dieser unbefriedigenden Situation wenig. Das Strafrecht ist die ultima ratio, es setzt strafwürdiges Unrecht voraus. Es ist ein Skandal, sachliche Informationen über legales Verhalten für strafwürdig zu erklären. Die Streichung des § 219a StGB ist daher zwingend – und wenn der Gesetzgeber es nicht tut, ist damit zu rechnen, dass das Bundesverfassungsgericht ihn dazu zwingen wird: Die anhängige Verfassungsbeschwerde von Hänel ist mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgreich.

Die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs sollte aber noch weitergehen. Das restriktive deutsche Regime des grundsätzlichen Verbots des Schwangerschaftsabbruchs beruht auf zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1975 und 1993. Diese Entscheidungen nahmen Frauen im Wesentlichen als „Mutterleib“, als Umfeld für den Embryo, wahr. Das Gericht ignorierte die gravierenden Eingriffe in Frauenrechte, die mit der von ihm konstruierten „Austragungspflicht“ einhergehen. Es ist Zeit, dem Gericht die Chance zu geben, diese – in die Jahre gekommenen – Entscheidungen zu korrigieren. Doch dies kann es nicht aus eigener Initiative tun, sondern muss abwarten, bis es angerufen wird: Eine gute Gelegenheit für den Gesetzgeber auszuloten, ob das Gericht auch heute noch an diesen damaligen Fehlentscheidungen festhalten will.

Prof. Dr. Dr. h.c. Ute Sacksofsky, M.P.A. (Harvard) ist Professorin für Öffentliches Recht und Rechtsvergleichung an der Goethe-Universität. | Kontakt: Sacksofsky@jur.uni-frankfurt.de; Website

Flurina Schneider: Für Erreichung der Nachhaltigkeitsziele bedarf es eines transdisziplinären Wissens für den Wandel

Die Koalitionsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP signalisieren in ihrem Vertragswerk „Mehr Fortschritt wagen“, dass sie die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) und damit auch das 1,5-Grad-Ziel beim Klimaschutz ernst nehmen und „zur Richtschnur“ ihrer Politik machen wollen. Nie zuvor ist die Notwendigkeit zur Eindämmung der Klimakrise und auch der Biodiversitätskrise so deutlich als Regierungsauftrag formuliert worden. Der Koalitionsvertrag postuliert auch, dass die notwendigen sozial-ökologischen Transformationen nicht nur technologische, sondern auch soziale Innovationen benötigen – also beispielsweise veränderte Alltagspraktiken. Hier bleibt der Vertrag aber oft recht vage.

Die sozial-ökologische Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass es für die Erreichung der SDGs in der Tat an vielen Stellen in unseren politischen und ökonomischen Prozessen Innovationen bedarf, welche technische und soziale Aspekte verbinden. Hier braucht es schnell kluge und mutige Konzepte. In unserer Forschung arbeiten wir an solch einem Wissen für den Wandel. Dieses Wissen muss in die politischen, ökonomischen und kulturellen Prozesse und Machtverhältnisse eingebunden werden. Und es braucht ein Verständnis dafür, wie sich Wissen in Handeln übersetzen lässt. Hier steht die Forschung noch am Anfang, denn die bewusste Gestaltung von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in diesem Ausmaß ist historisch einmalig.

Das bedeutet auch, dass wir in unserem Wissenschaftssystem Veränderungen brauchen. Zentral ist es, zusätzlich zur disziplinären Forschung auch die transdisziplinäre Forschung weiter zu etablieren und kontinuierliche Lernprozesse zwischen den verschiedenen involvierten Akteuren zu ermöglichen. Grundlagenforschung und anwendungsbezogene Forschung müssen sich wechselseitig befruchten, um – wie von den Koalitionspartnern gewünscht – einen Beitrag zur Lösung der Nachhaltigkeitsprobleme zu leisten. Dazu bedarf es einer Veränderung der akademischen Anreizsysteme und Strukturen. Diese erschweren aktuell noch die Zusammenarbeit über Disziplinen hinweg sowie das gemeinsame Forschen von Wissenschaft und Praxis, das deutlich über die im Koalitionsvertrag angesprochenen Citizen Science oder mehr Partizipation hinausgeht. Schließlich brauchen wir zukünftig auch stärkere Bündnisse zwischen Universitäten und Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen.

Prof. Dr. Flurina Schneider ist Professorin für Soziale Ökologie und Transdisziplinarität an der Goethe-Universität sowie wissenschaftliche Geschäftsführerin des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung. | Kontakt: neugart@isoe.de; https://www.isoe.de/

Bernd Werse: Kontrollierte Abgabe von Cannabis ist zu begrüßen

„Wir führen die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften ein. Dadurch wird die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet. Das Gesetz evaluieren wir nach vier Jahren auf gesellschaftliche Auswirkungen.“

Diese drei Sätze stehen im Koalitionsvertrag der drei Ampel-Parteien –wenige Zeilen mit großer Wirkung: voraussichtlich wird Deutschland das erste Land in Europa sein, das Cannabis legalisiert. Wer an dieser Stelle anführt, dass dies in den Niederlanden schon längst der Fall sei: Produktion und Import wurden dort nie legalisiert, weshalb die Belieferung der Coffeeshops weiterhin in krimineller Hand ist: nur der Verkauf geringer Mengen wird toleriert. Daher wird Deutschland einen Weg gehen, der bislang nur in Uruguay, Kanada und 18 US-Bundesstaaten erprobt wurde, indem auch die Produktion auf legale Füße gestellt wird.

Fachleute und interessierte Laien haben in den letzten Wochen gespannt auf die tatsächliche Formulierung im Koalitionsvertrag gewartet; zur Diskussion stand u.a., dass zunächst Modellprojekte mit registrierten Teilnehmer*innen durchgeführt werden sollten oder dass Apotheken als Abgabestellen fungieren sollten. Es ist sehr zu begrüßen, dass dies nicht eingetroffen ist – Fachgeschäfte mit geschultem Personal, zu denen potenziell jeder bzw. jede Erwachsene Zugang hat, sind der beste Ort, um eine kontrollierte Abgabe zu ermöglichen und den Schwarzmarkt weitgehend zu verdrängen. Modellprojekte sind angesichts der Erfahrungen aus den genannten Ländern nicht notwendig.

Bei der Umsetzung des Beschlusses ist einerseits darauf zu achten, dass Cannabisprodukte nicht übermäßig kommerzialisiert werden, andererseits, dass der Zugang niedrigschwellig bleibt und der Schwarzmarktpreis zumindest nicht wesentlich übertroffen wird. Dann fällt nicht nur die nutzlose und schädliche Kriminalisierung von Millionen Staatsbürger*innen weg; es bieten sich auch weitaus bessere Aussichten für Verbraucher- und Jugendschutz, Prävention und Therapie.

Dr. Bernd Werse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Drug Research (CDR) der Goethe-Universität. | Kontakt: werse@em.uni-frankfurt.deWebsite

Volker Wieland: Einschätzung zum Koalitionsvertrag – Investitionen und Finanzen

Die großen Herausforderungen Digitalisierung und Klimaschutz sollen laut Koalitionsvertrag mit einer neuen Strategie angegangen werden, die auf eine schnellere Modernisierung von Staat und Wirtschaft, Innovationen und Investitionen setzt. Das ist schon mal die richtige Ansage. Die Kunst liegt in der Umsetzung. Häufig wird – durchaus zurecht – gefragt, wer soll das alles finanzieren, geht das überhaupt, und kann der Staat das alles stemmen?  Meine Antwort: Transformation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ist nichts Neues. Das fand in der Vergangenheit vielfach und vielerorts statt. Marktwirtschaft und Wettbewerb haben in vielen Staaten wiederholt ungeheure Investitionen mobilisiert, bahnbrechende technologische Innovationen ermöglicht und großen Wohlstand geschaffen. Staaten haben dafür entscheidende Rahmenbedingungen wie Eigentumsrechte, Wettbewerbsordnung, öffentliche Güter und Dienstleistungen, Steuern, Regulierung und Verwaltung gesetzt. 

Wir können also die neuen Herausforderungen stemmen, wenn wir die Möglichkeiten der Marktwirtschaft effektiv nutzen. Staatliche Rahmenbedingungen setzen Anreize für private Investitionen in neue Technologien. Preise signalisieren Knappheit und Renditemöglichkeiten. Konkret: wenn die Klimapolitik einen Preis für Treibhausgasemissionen ins Zentrum rückt und dieser CO2-Preis die Kosten der globalen Erwärmung signalisiert, entsteht ein großer Druck, das Verhalten zu ändern sowie umfangreiche Investitionen und technische Innovationen auszulösen. Ein internationaler Klimaclub sowie ein sektor- und länderübergreifendes Emissionshandelssystem und ein Mindestpreis für CO2-Emissionen, wie sie im Koalitionsvertrag benannt werden, können hier helfen.

Ebenso spielen die im Koalitionsvertrag genannten öffentlichen Investitionen in Forschung und Infrastruktur eine bedeutende Rolle, um die Transformation voranzubringen.  Aber wer mit Praktikern der Haushaltspolitik spricht, hört immer wieder: „Es lag nicht am Geld. Wir haben ausreichend Mittel für öffentliche Investitionen zur Verfügung gestellt. Aber sie wurden nur zum Teil abgerufen. Der verbliebene Spielraum wurde für andere Zwecke genutzt.“ Deshalb ist es so wichtig, dass die Koalitionäre die Ziele, die sie sich für eine Beschleunigung von Verwaltungs-, Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie die Digitalisierung der Verwaltung gesetzt haben, tatsächlich erreichen. Sowohl öffentliche also auch private Investitionen scheitern genau daran.

Was die Finanzierung angeht, bin ich froh, dass die Koalition die Schuldentragfähigkeit betont hat und die nötigen Ausgaben im Rahmen der deutschen Schuldenbremse realisieren will – und zwar ohne die Steuern zu erhöhen. Höhere Steuern würden die private Investitionstätigkeit schädigen. Der Staat kann sich verschulden, insoweit er mit Wachstum und höheren Steuereinnahmen in der Zukunft rechnen kann. Die Einhaltung der Schuldenbremse sorgt dafür, dass die Schuldentragfähigkeit in diesem Sinne gewährleistet bleibt. Die Schuldenbremse wirkt einer übermäßigen Schuldenneigung – etwa, weil es so leichter ist, schwierige politische Auseinandersetzungen zu vermeiden – entgegen. Die Staatsquote lag im letzten Jahr bereits über 50%.  Staatliche Ausgaben und Transferleistungen sind also bereits sehr umfangreich.

In seiner mittelfristigen Finanzplanung hat der Bund bereits 50 Milliarden Euro jährlich für öffentliche Investitionen eingeplant. Das sind 30 Prozent mehr als für das Jahr 2019. Die Investitionen der Länder, Kommunen und der öffentlichen Unternehmen kommen zu diesem Betrag noch dazu. Daneben hat die Regierung die Möglichkeit, umweltschädliche Subventionen, die heute auf bis zu 65 Milliarden Euro geschätzt werden, zu streichen. Insbesondere sollte die Regierung alle Ausgaben auf den Prüfstand stellen und eine strikte Neu-Priorisierung durchführen. Außerdem müssen nicht alle Ausgaben automatisch mit der Wirtschaftsleistung zunehmen. 

Tilgungsverpflichtungen, die sich aus der erhöhten Schuldenaufnahme in der Corona-Krise infolge der Anwendung der Notlageklausel der Schuldenbremse ergeben, können durchaus weiter in die Zukunft verschoben werden.  Außerdem hat die Regierung einen gewissen Spielraum für zusätzliche Kreditaufnahme bei Sondervermögen wie der Deutschen Bahn und der KfW, ohne die Schuldenbremse zu verletzen. Problematisch sind jedoch diverse Umgehungsversuche der Schuldenbremse, die im Koalitionsvertrag angelegt sind, aber deren Größenordnung noch nicht beziffert ist. So will die Koalition ungenutzte Kreditermächtigungen für 2021 und 2022 (also wenn die Corona-Notlagenausnahme noch gilt) einsetzen, um ein Sondervermögen – den Energie- und Klimafonds – möglicherweise in sehr großem Umfang zu befüllen. Ab 2023 sollen dann wieder die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten werden. Aber die zukünftigen Ausgaben der Sondervermögen sollen dann an der Schuldenbremse vorbeigeleitet werden.  Damit werden möglicherweise in sehr großem Umfang Schulden, die mit Begründung durch die Corona-Notlage aufgenommen werden, zweckentfremdet. Verfassungsrechtler warnen bereits, dass dies der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse widerspricht und voraussichtlich vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird.

Fiskalregeln wie die Schuldenbremse und die entsprechenden europäischen Vorgaben müssen nachvollziehbar, vermittelbar und glaubwürdig sein. Die Bindungswirkung ist letztlich entscheidend für ihren Erfolg. Sie ist unverzichtbar für die Glaubwürdigkeit der institutionellen Rahmenbedingungen und die Stabilität der europäischen Währungsunion. Deshalb sollte die Regierung bei der Finanzierung der geplanten Maßnahmen nicht ein Vorgehen wählen, das die Schuldenbremse möglicherweise in großem Stil umgeht.

Prof. Dr. Volker Wieland ist Stiftungsprofessor für Monetäre Ökonomie an der Goethe-Universität und Direktor des Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS) | Kontakt: wieland@wiwi.uni-frankfurt.deWebsite

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