Wie schlägt sich die Demokratie unter Corona – der Frankfurter Philosoph Rainer Forst im Forum Bellevue

Wie schlägt sich die Demokratie unter Corona – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lud zum „Forum Bellevue“ neben der Autorin Hertha Müller und dem Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt auch den Frankfurter Professor für Politische Theorie und Philosophie Rainer Forst. 

9. Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie: „Testfall Corona – Wie geht es unserer Demokratie?“ – Diskussion mit Rainer Forst, Herta Müller und Daniel Ziblatt

Wenn unsere Welt Kopf steht, wenn etwa Schule- und Elternbesuchen nicht gut ist, Immer-zu-Hause-Bleiben dagegen schon, dann ist hinter dieser Umkehr quasi eherner Gesetze ein enormer „Kraftakt“ zu vermuten. Der, so formulierte der Philosoph Rainer Forst, allerdings verschieden gedeutet werden kann: als autoritärer Akt eines quasi-absoluten Staates oder als gerechtfertigter, rationaler Akt der Freiheit, aus Einsicht in die Gefahr des Virus bestimmte demokratische Rechte vorübergehend nicht wahrzunehmen. 

„Wir müssen diesen Kraftakt als demokratischen Kraftakt deuten“, insistierte der Frankfurter Wissenschaftler. Eine Deutung, die nicht nur Bestandsaufnahme einer „vermutlich gelungenen Krisenbewältigung“ ist, sondern durchaus auch als Auftrag – auch für die handelnden Politiker – zu verstehen ist. Als eine Lesart, die sich selbst zur Demokratie verpflichtet. „Lockerung“ bedeute dann eben nicht, so Forst, aus oktroyiertem „Hausarrest“ in die grenzenlose Freiheit entlassen zu werden. Lockerung bedeute dann, gemeinsam allgemein gerechtfertigte und überprüfte Schritte aus dem Lockdown zu gehen und sie persönlich zu verantworten. 

Was der Philosoph Rainer Forst politiktheoretisch ausführte, ist für die rumäniendeutsche Schriftstellerin Hertha Müller biographisch verbürgte Gewissheit. „Diktatur ist ganz anders“. „Jeden Tag“ spüre sie diesen Unterschied, den die Autorin hellsichtig und sprachsensibel an Worten durchdekliniert. „Öffentlicher Raum“: unverzichtbar für Individuen im demokratischen Meinungsstreit sei er in einer Diktatur vom Staat lückenlos besetzt. Zum „Individuum“ werde man in einer Diktatur nur in der Verfolgung. Und „Kompetenz“, für die eine öffentlich informierende, nach Erkenntnis suchende Wissenschaft stehe, gebe es in der Diktatur erst gar nicht. „Die Diktatur ist die Sternstunde der Inkompetenz und der Korruption.“ 

Auch der US-amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt attestiert der „resilienten“ Demokratie in Deutschland im Vergleich zur „polarisierenden“ Demokratie der USA, gut durch die Pandemie zu steuern. Wo wie in den USA unter extremer sozialer Ungleichheit und Polarisierung Meinungsgegner zu Feinden werden, könne es keine gemeinsame „Rechtfertigung“ geben, demokratische Rechte zeitweise auszusetzen. „In einer polarisierten Gesellschaft wird nichts mehr geglaubt, also ist auch kein Konsens möglich“. Wo dagegen auch Verschwörungstheoretiker ihre Meinung im öffentlichen Raum kundtun könnten, liege Demokratie keineswegs im Sterben. 

So ist denn in Deutschland alles gut gegangen? Es wollte sich, obwohl Steinmeier souverän moderierend auch provozierende Fragen in die Runde warf, kein Dissens einstellen. Im Vergleich zu Diktaturen oder sich Diktaturen annähernden Ländern, im Vergleich auch zu polarisierenden Demokratien wie die USA (in der, so Ziblatt, immerhin die Black life matters-Bewegung als Gegentendenz etwas ausgleichend wirke), sei man in Deutschland live dabei in der Werkstatt der Politik. „Politik ist kein Spiel, sondern ein ernstes Geschäft.“ (Ziblatt).

Und die Zukunft mit und nach dem Virus? Nicht streitbar vorgetragen, aber dennoch deutlich wurden am Ende Befürchtungen, dass die Demokratie über den heutigen Tag hinaus doch Schaden nehmen könne. Was ist, gab Forst zu bedenken, wenn nicht mehr das Virus das Andere ist, vor dem es sich solidarisch zu schützen gilt, sondern der Rumäne, der Fleischarbeiter, die Italiener? Wenn je nach Viruslage neu verhandelt werde, „wer nicht dazu gehört“? 

Heinz Bude, anwesender Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, warnte vor der „Angst vor dem Mut, den Kredit, den wir uns selbst gegeben haben, auch zu unterschreiben, für ein Europa, das vor kurzem noch als maroder Verein gegolten hat“. Wie sehe etwa die „Idee einer glaubhaften Zukunft“ aus? Und die Journalistin Elisabeth von Thadden äußerte die Sorge, dass wir weiterhin eine berührungslose, eingefrorene Gesellschaft bleiben könnten. Eine Gesellschaft, „ohne das Vergnügen, Fremde kennenzulernen und uns freiwillig nahe zu kommen“.

„Der Virus ist leider kein Gleichmacher“: Als Schirmherrin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung fiel Elke Büdenbender schließlich die Aufgabe zu, auf die sozialen Brennpunkte in Familien hinzuweisen, die der staatliche Krisenmodus wie im Zeitraffer hat sichtbarer werden lassen. Sie war es, die eindringlich auf die Orte hinwies, wo die Pandemiekrise nicht gestaltet werden konnte. Sondern wo sie nur erlitten wurde. Und wo es Not tut, dass Menschen wieder handeln können.

Pia Barth

Die gesamte Aufzeichnung des 9. Forum Bellevue zum „Testfall Corona – Wie geht es unserer Demokratie?“ können Sie hier ansehen. Die Diskussionen der Reihe „Forum Bellevue“ können unter www.forum-bellevue.de eingesehen werden.

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