„Für mich ist Kant der beste Türöffner in die Welt der westlichen Philosophie“
Xin Yin kam zur Hochphase der Corona-Pandemie mit einem Stipendium aus China an die Goethe-Universität. Die Doktorandin promoviert derzeit über Immanuel Kants Unsterblichkeit der Seele. Philosophische Gedanken haben sie schon immer umgetrieben. Den deutschen Philosophen sieht sie als Vorbild für philosophisches Denken und moralisches Leben. Ein Gespräch über westliche und asiatische Philosophie, den unstillbaren Durst nach mehr Wissen und die Liebe zu Kant, dessen Geburtstag sich 2024 zum 300sten Mal jährte.
Du bist im November 2020 aus China in Deutschland angekommen. Kurz vorher hatten die deutschen Behörden striktere Corona-Regelungen implementiert. Wie war Deine Ankunft?
Kurz nach meiner Ankunft, Mitte Dezember, wurde der harte Lockdown beschlossen. Das war schon schwer. Es war auch schwierig, ein Visum zu bekommen. Ich hatte kurz vorher, im Juni 2020, meinen Master abgeschlossen und musste für mein Stipendium viele Unterlagen vorbereiten – und das während der Pandemie. Aber ich habe es mit Mühe und der Hilfe von vielen Menschen geschafft, besonders dankbar bin ich meinem Betreuer Prof. Marcus Willaschek. Die letzten vier Jahre habe ich über mein Stipendium monatlich einen finanziellen Zuschuss erhalten. Das hilft mir dabei, mit den hohen Lebenshaltungskosten in Frankfurt zurechtzukommen.
Erinnerst Du Dich noch an diesen besonderen Semesterstart? Hattest Du überhaupt schon eine Unterkunft?
Wegen Corona wurde der Semesterbeginn auf November verschoben. Aufgrund des zweiten Lockdowns war auf dem Campus nicht viel los. Ich habe zwar online am Kolloquium meines Betreuers teilgenommen, hatte aber keine Gelegenheit, neue Kommiliton*innen oder Kolleg*innen kennenzulernen oder mich auf Deutsch zu unterhalten. Ich habe mich aber auf das Studium in Deutschland gefreut, weil ich mich sehr für meine Forschung und die deutsche Kultur interessiere.
Mit der Wohnung hatte ich Glück. Ich hatte von China aus ein WG-Zimmer gesucht, eine Online-Besichtigung gemacht und auf Anhieb die Zusage von einem sehr netten Vermieter bekommen. Alles in allem habe ich hier eineinhalb Jahre gewohnt, gemeinsam mit vier Mitbewohnerinnen aus unterschiedlichen Ländern. Inzwischen wohne ich in einer Ein-Zimmer Wohnung am Riedberg, auch unter ganz vielen internationalen Studierenden.
Du sprichst sehr gut Deutsch. Hast Du bereits vor Deiner Ankunft Sprachkenntnisse erworben?
Ja, seit meinem Master-Studium lerne ich Deutsch. Ich habe es mir selbst beigebracht und die Prüfung TestDaF bestanden. Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen und hatte vor meiner Ankunft in Deutschland China niemals vorher verlassen. Ich hatte in der Schule und an der Uni Englisch gelernt. Deshalb war zu Beginn mein Englisch besser als mein Deutsch. Ich habe mir sehr viel Mühe dabei gegeben, mein Deutsch zu verbessern. Natürlich wollte ich nach meiner Ankunft hier auch mit Menschen auf Deutsch reden, aber es ist mir sehr schwergefallen. Trotzdem habe ich alle Möglichkeiten genutzt, mit Menschen zu kommunizieren. Jetzt funktioniert es gut.
Wie bist Du auf die Philosophie gekommen?
Ich bin schon immer eine wissbegierige Person gewesen und denke gerne tiefgründig, vor allem was Grundsätze, Prinzipien und Werte angeht. Aber an mein Philosophie-Studium bin ich durch eine Mischung aus Zufall und Schicksal gekommen. Dazu muss man wissen, dass sich das Schulsystem und die Hochschulzulassung in China sehr anders gestalten als hier; die Zuordnungen sind nicht immer mit dem deutschen System gleichzusetzen. Ich habe am Anfang meines Studiums der Philosophie nicht sofort alles gut verstanden – die Konzepte waren mir zu tief und komplex, und dann ist da auch noch diese schwer zugängliche Sprache. Hinzu kam, dass mir die westliche Philosophie doch sehr fremd war. Meine Eltern sind keine Akademiker, sie hatten keine Chance, eine gute Ausbildung zu haben, und ich hatte nie Zugang zu einer solchen Sprache und solchen Inhalten. Nichtsdestotrotz haben mich philosophische Fragen schon immer beschäftigt und ich war aktiv in Kursen während meines Bachelor-Studiums. Nach meinem Bachelor-Studium habe ich weitere philosophische Bücher gelesen und philosophische Fragen und Begriffe besser verstanden, habe mich mit der Geschichte der westlichen und chinesischen Philosophie intensiv befasst, mir viele Notizen gemacht und nach und nach meine eigenen Ideen entwickelt.
Zu Kant bist Du also über die asiatische Philosophie gekommen?
Nein, um Kant kommt man beim Philosophie-Studium nicht herum. Philosophische Gedankenwelten waren während meines Bachelor-Studiums mein Hauptinteresse. Dabei besteht der Philosophie-Grundkurs an chinesischen Universitäten aus drei Modulen: Geschichte der westlichen Philosophie, Geschichte der chinesischen Philosophie und Marxismus. Ich habe mich am Anfang nicht für chinesische Philosophie interessiert. Aber ich hatte einen guten Dozenten an der Uni, von dem ich sehr viel über chinesische Philosophie und Metaphysik gelernt habe. Andererseits war ich schon immer an westlicher Philosophie und Kultur interessiert und wollte im Ausland studieren.
Mir war klar, dass ich nicht ins Ausland gehe, um chinesische Philosophie zu studieren. So bin ich zur westlichen Philosophie und zu Kant gekommen. Kant lieferte mir die Inspiration für meinen Master – für mich ist und bleibt Kant der beste Türöffner in die Welt der westlichen Philosophie. Dabei verbindet er nicht nur klassische Philosophie und moderne Philosophie, sondern legt auch seine tiefgründigen Gedanken klar und nachvollziehbar dar.
Weißt Du noch, wann Du Kant das erste Mal gelesen hast?
Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn schon im Bachelorstudium gelesen habe – bestimmt kam er im Grundkurs schon vor. Aber für meine Masterarbeit über die Möglichkeit des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie habe ich sehr viel von ihm gelesen, vieles in der chinesischen Übersetzung. Weil ich in Kants Philosophie promovieren möchte, war es selbstverständlich für mich, nach Deutschland zu kommen. Aber nicht nur wegen Kant, sondern weil ich die deutsche Philosophie allgemein hochinteressant finde – Hegel, Schelling, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger. Außerdem gibt es viele große deutsche Schriftsteller*innen, Musiker*innen und Wissenschaftler*innen.
Jetzt bist Du hier.
Ja, und ich bin immer noch sehr froh, dass es so gekommen ist – auch wenn ich weit weg von meiner Heimat bin. Ich bin seit jeher eine sehr eigenständige Person, mit einer eigenen Meinung. Am Anfang war meine Familie gegen mein Philosophiestudium, weil sie meinten, dass ich damit später nur schwer eine gut bezahlte Arbeit finden würde. Aber jetzt sind alle stolz auf mich. Meine zwei Geschwister haben auch studiert, aber ich bin die Einzige, die im Ausland ist.
Wie lange, meinst Du, brauchst Du noch für Deinen PhD – oder ist diese Frage zu philosophisch?
Nein, gar nicht. Wahrscheinlich noch zwei Jahre, auch weil das Thema und die Sprache sehr herausfordernd sind. Ich habe mich hierzu mit anderen chinesischen Studierenden ausgetauscht, die auch in Deutschland in Philosophie promoviert haben. Es gibt nur sehr wenige, die es in vier Jahren schaffen. Die meisten brauchen mindestens fünf, viele sechs Jahre. Es ist mir wichtig, meine Doktorarbeit sorgfältig fertigzustellen.
Umgekehrt vorgestellt wäre das wahrscheinlich nicht ansatzweise machbar: mit Basis-Chinesisch nach fünf Jahren vor Ort in der Landessprache einen chinesischen Philosophen zu verstehen und zu interpretieren.
Ich denke auch, dass dies nochmal um einiges schwieriger wäre, auch da die westliche Kultur einfach global so populär ist. Es ist relativ einfach für uns in China, Englisch zu lernen und von da die Brücke zum Deutschen zu bauen – auch aufgrund des gemeinsamen Alphabets.
Hast Du schon einen groben Titel für Deine Doktorarbeit? Mit welchen Themen befasst Du Dich genau?
Der finale Titel steht noch nicht fest, aber es wird definitiv zwei Teile geben. Während sich der erste mit der Unsterblichkeit der Seele in Kants Philosophie beschäftigt, möchte ich im zweiten Teil einen Vergleich ziehen zu der Auffassung eines Lebens nach dem Tod – dem Afterlife –, wie es der amerikanische Philosoph Samuel Scheffler beschreibt.
Dabei baut meine Doktorarbeit auf meinem Master über die Lehre des höchsten Guts auf. Um dieses zu erreichen, setzt Kant drei Postulate voraus: das Dasein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, und Willensfreiheit. Ich hatte bereits vorher ein paar Ideen zur Unsterblichkeit der Seele entwickelt, auch wenn mir ehrlich gesagt nicht bewusst war, wie aktuell das Thema ist und wie heiß es in den letzten Jahren unter dem Begriff „immortality of the soul“ akademisch diskutiert wurde.
Zum Thema der Unsterblichkeit der Seele bei Kant scheint es mir wenig Sekundärliteratur zu geben. Im Kolloquium habe ich zu dem Thema Unsterblichkeit der Seele einen Vortrag gehalten. Später gab mir Prof. Willaschek Samuel Scheffler’s „Death and the Afterlife“ zu lesen. Dieses Buch hat mir viele Denkanstöße gegeben. Nachdem ich hierzu auch ein Referat im Kolloquium gehalten hatte, haben mein Betreuer und ich gemeinsam entschieden, dass mein Schwerpunkt auf der Unsterblichkeit der Seele und dem Leben nach dem Tod liegen wird.
Wie ist Deine Beziehung zu Deinem Doktorvater?
Mein Betreuer Professor Marcus Willaschek ist sehr inspirierend, professionell und verantwortungsvoll. Er ist ein beeindruckender Supervisor meiner Arbeit und immer hilfsbereit, wenn ich Hilfe bei meiner Dissertation brauche. Außerdem ist er ein exzellenter Kant-Forscher, von dem man immer viel lernen kann. Philosophische Begriffe und Fragen erklärt er immer verständlich. Er ermutigt uns auch, mit ihm zu diskutieren. Er ist tolerant gegenüber unterschiedlichen akademischen Ansichten. Man kann in einer Frage anderer Meinung sein als er, wenn man gute Argumente vorbringen kann. Er stellt auch strenge akademische Anforderungen. Es freut mich sehr, dass ich von Professor Willaschek betreut werde und mit ihm zusammenarbeiten kann.
Hast Du ein persönliches Ranking von Philosophen, oder gibt es eine Top 5?
Das ist schwierig zu beantworten. Nicht nur ist jede*r wichtig, ich tue mich auch schwer damit, zwischen westlichen und östlichen Philosophen zu entscheiden. Hier sind nur meine persönlichen Bevorzugungen, keine Bewertung, wer der oder die Beste oder Wichtigste ist.
Meine Nummer eins in westlicher Philosophie ist Platon, obwohl es mir wirklich schwerfällt, zwischen ihm und Kant zu wählen. Aber ich finde Platons Schreibstil tatsächlich noch besser als den von Kant – seine Worte sind nicht nur interessant, sondern auch sehr elegant gewählt und auch zugänglich für nicht-Akademiker*innen. Das bedeutet aber nicht, dass Platon einfach zu verstehen ist. Dann natürlich Kant. Kants Werke sind schwierig zu lesen. Aber durch Studium und akademische Ausbildung können wir ihn immer besser verstehen. Seine philosophischen Überlegungen zu vielen Themen inspirieren uns bis heute.
Ich bin der Auffassung, dass Philosophie für jeden ist und deswegen klar, einfach und verständlich geschrieben sein sollte. Das ändert nichts an der Komplexität der Konzepte, aber die Sprache und Ausdrücke könnten einfacher – verständlicher für alle – sein. Und obwohl gerade Ethik so viel mit unserem alltäglichen Leben zu tun hat, findet man wenige Menschen, die in ihrer Freizeit über Ethik lesen, um bessere Menschen zu werden. Solche Gedanken haben mich dazu gebracht, über das Verhältnis zwischen Philosophie und Praxis, zwischen Idealen und Realität nachzudenken. Ich würde gerne einen Beitrag leisten, Menschen Ethik und Philosophie im Alltag näherzubringen – eine Aufgabe, die mich reizt und zu meinem Hintergrund passt.
Natürlich fasziniert mich auch chinesische Philosophie, aber seit meinem Master-Studium habe ich kaum Zeit dafür. Auch ist sie sehr weitreichend und umfassend, da vieles mit unserer Kultur und dem Leben verbunden ist – beispielsweise Medizin oder Kampfkunst, die beide auch eine philosophische Komponente haben. Zwar finde ich diese Art von Verbindung auch in westlicher Philosophie, aber sie ist vielleicht nicht so stark ausgeprägt wie in chinesischer Philosophie. Es gibt durchaus ähnliche Gedanken in westlicher und chinesischer Philosophie, die dennoch bei näherer Betrachtung voneinander abweichen. Genau diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen westlicher und östlicher Philosophie finde ich so faszinierend.
Hast Du auch eine Lieblingsphilosophin?
Eine berechtigte Frage, immerhin glauben auch heute noch viele Nicht-Akademiker*innen, dass es keine großen Philosophinnen gab; manche vertreten sogar extrem patriarchale Ansichten, und behaupten, Frauen seien nicht so klug wie Männer oder ungeeignet für Philosophie. Das ist natürlich falsch und berücksichtigt auch nicht, dass es in der Vergangenheit weder Wahlrecht für Frauen und für viele auch keine Bildung gab, von dem Recht zu arbeiten ganz zu schweigen. Obwohl sie in der Geschichte viel zu lange – teilweise mit Absicht – unterdrückt wurden, haben Frauen so viel Tolles geschafft und bewegt.
Eine Philosophin, die ich erwähnen muss, ist Simone Weil. Was für eine faszinierende Persönlichkeit, die viel zu früh starb, weil sie nach ihren Idealen lebte. Eine andere Frau, die zur gleichen Zeit lebte und deren Gedanken mich bis heute beeindrucken, ist Simone de Beauvoir. Dann ist da selbstverständlich noch die deutsche Philosophin Hannah Arendt. Von ihr habe ich leider bisher nur wenig gelesen, aber die Bücher sind gekauft und stehen bereits daheim. Was mir fehlt, ist die Zeit.
Hast Du einen Lieblingssatz oder Gedanken von Kant?
Ich habe einige, die ich in ihrer chinesischen Überlieferung auswendig kenne…
Der erste Satz ist wohl der bekannteste: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Dieser Satz hat sich mir eingeprägt und mich beeinflusst.
Als Vertreter der Aufklärung spricht Kant auch die Massen an. In dieser Hinsicht mag ich seinen Aufruf in seiner Abhandlung „Was ist Aufklärung“: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Kants Philosophie steht exemplarisch für den Geist der Aufklärung.
Und dann ist da noch der Satz: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ Daran orientiere ich mich auch in meinen Interaktionen mit anderen – etwas, was ich vor allem in der heutigen Zeit sehr wichtig finde.
Was uns wieder zurück bringt zum Thema, warum ich Kant liebe und mich seine Philosophie so inspiriert – und das bis heute: Er hat sich mit so vielen großen philosophischen Fragen beschäftigt, und seine Fragestellungen und Antworten sind heute noch relevant. Natürlich gibt es auch einiges in Kants Werken, das wir kritisieren können. Aber meiner Meinung nach wird Kant auch manchmal missverstanden. Deswegen ist es umso wichtiger, dass wir ihn und seine Aussagen zuerst wirklich verstehen.
Was möchtest Du machen, wenn Du mit Deinem Studium fertig bist?
Das ist einfach: Ich möchte Philosophin und Schriftstellerin werden. Ich habe schon ein paar Ideen, die ich gerne weiterentwickle, und Pläne für zukünftige Projekte.
Ich denke darüber nach, ein Buch für die breite Öffentlichkeit über Themen und Ideen auf Englisch zu schreiben, die ich in meiner Doktorarbeit nicht unterbringen konnte. Ein möglicher Titel wäre – Between Extinction and Immortality: The Possibility of Our Future in Uncertain Times. Es soll wissenschaftlich und philosophisch sein. In der Zwischenzeit werde ich mich weiter mit philosophischer Forschung beschäftigen. Ich habe seit meinem Masterstudium auch andere Schreibprojekte entwickelt, z. B. zwei Philosophiebücher. Aber ich hatte keine Zeit, mich ihnen zu widmen, weil ich mich auf mein Studium konzentriert habe. Meine Promotion ist eine gute Ausbildung und ein guter Start für mich, ich schätze diese Gelegenheit. Und nach meiner Promotion würde ich gerne Möglichkeiten finden, diese Pläne zu verwirklichen.
Trotzdem ist es immer besser, einen Plan B zu haben. Ich kann mir auch einen Job außerhalb der Wissenschaft vorstellen, falls ich dort keine passende Stelle finden würde. Aber ich möchte meine Schreibprojekte unbedingt umsetzen.