Die ukrainische Historikerin Svitlana Potapenko ist als Stipendiatin zu Gast an der Goethe-Universität

„Wir hätten nie gedacht, dass das wirklich passieren könnte!“ Dr. Svitlana Potapenko ist immer noch fassungslos, wenn sie vom 24. Februar 2022 spricht: dem Tag, an dem Russland den Krieg gegen die Ukraine beginnt. An diesem Tag lebt die ukrainische Wissenschaftlerin noch mit ihrem Mann, einem promovierten Physiker, und ihrem Sohn in einer Wohnung im Westen von Kiew. Potapenko, die an der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew lehrt und forscht, stammt aus der nordöstlich von Kiew gelegenen Kleinstadt Nizhyn. „Bis zur russischen Grenze sind es nur drei Stunden mit dem Auto, also wies ich meine Mutter an diesem Tag sofort an, den nächsten Zug nach Kiew zu nehmen.“ Wenn Svitlana Potapenko über „den Krieg“ spricht, denkt sie an das Jahr 2014, als die russische Armee die Halbinsel Krim besetzte. „Seitdem befand sich das Land bereits im Kriegszustand.“

Doch dieser Tag im Februar ändert alles. Potapenko und ihre Familie bleiben ein paar Tage in Kiew, doch dann beschließt sie, dass sie mit ihrem Sohn unter dem Eindruck des ständigen Beschusses Kiew verlassen muss. „Eine Kollegin aus Lviv bot uns an, in ihrem Haus zu wohnen.“ Die Fahrt nach Lviv erlebt sie als sehr dramatisch: überfüllte Züge mit Menschen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben steht. Potapenko bleibt dann vierzehn Tage lang mit ihrem Sohn im relativ sicheren Westen der Ukraine. Ein neuer Plan reift: Sie bewirbt sich auf ein von Prof. Birgit Emich ausgeschriebenes Stipendium im Rahmen der DFG-Kollegforschungsgruppe „Polyzentrizität und Pluralität vormoderner Christentümer“ (POLY). Die Bewerbung ist erfolgreich, Potapenko wird angenommen. Nun macht sie sich auf die beschwerliche Reise nach Westen, die insgesamt drei Tage dauern wird, inklusive eines nächtlichen Zwischenstopps am Berliner Hauptbahnhof. Potapenko muss allein mit ihrem Sohn reisen, da ihr Mann die Ukraine nicht verlassen darf; Männern im wehrfähigen Alter ist die Ausreise untersagt. „Ich hoffe, dass das ukrainische Parlament die Bestimmungen etwas lockert, damit Wissenschaftler zumindest für eine begrenzte Zeit ins Ausland reisen können, zum Beispiel um an einer Konferenz teilzunehmen.“

Svitlana Potapenko hofft, noch vor Ende August mit ihrem Sohn in die Ukraine reisen zu können, um zumindest für kurze Zeit mit ihrem Mann und ihrer Familie wieder vereint zu sein. Trotz der schmerzhaften Trennung ist sie froh, in Frankfurt ein Stipendium und eine Bleibe gefunden zu haben: „Ich bin Prof. Birgit Emich sehr dankbar für den herzlichen Empfang. Ihr Team hat eine Wohnung für uns gefunden. Nach den unruhigen Tagen im Februar können wir hier wieder ein normales und ruhiges Leben genießen. Mein Sohn kann hier den Kindergarten besuchen und am Unterricht der 1.Klasse teilnehmen. Das ist eine große Chance für ihn, viel zu lernen.“ Potapenko betont aber auch, dass der Aufenthalt ihr die Möglichkeit eröffnet, wieder zu forschen und ihre Projekte voranzutreiben. „In den ersten Wochen nach der russischen Invasion hatte ich überhaupt keine Ruhe, um mich auf meine Arbeit und Forschung zu konzentrieren.“ Potapenko arbeitet an „The Axis Kyiv-Lviv and Beyond: Community of Interaction of Ukrainian Ecclesiastic Elites in the Mid-Eighteenth Century“ im Rahmen des POLY-Projekts. Diese Studie, so erklärt sie, ist eine Weiterentwicklung ihrer früheren Forschungen über die Intellektuellen der ukrainischen Kirche in der Mitte des 18. Jahrhunderts und beleuchtet deren Einbindung in die umfassenderen europäischen Kulturnetzwerke der damaligen Zeit. Eingeflossen sind hier methodische Ansätze, die in der Arbeit von POLY eine große Rolle spielen. Aber auch umgekehrt, so Prof. Emich, profitiert die Forschungsgruppe stark von der Expertise ihrer ukrainischen Fellows: „Svitlana Potapenkos Arbeiten unterstreichen sehr eindrücklich, welche Vielfalt der ukrainische Raum mit seinen unterschiedlichen religiösen Formationen und Traditionen zu bieten hat. Für die historische Forschung zur religiösen Pluralität und ihren Dynamiken ist die Region eine Fundgrube – für uns alle bei POLY ist die Kooperation mit den Fellows eine große Bereicherung.“ 

Svitlana Potapenko ist der Meinung, dass die derzeitige Situation in der Ukraine immer noch sehr gefährlich ist. „Es gibt sicherlich viele Ukrainer, die jetzt in unser Land zurückkehren. Aber das kommt für uns im Moment nicht in Frage. Ich möchte vor allem meinen Sohn schützen, denn Kinder leiden besonders unter der ständigen Gefahr von Luftangriffen“, sagt sie.

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