Die Diskrepanz könnte nicht größer sein: Wenn der Mathematik-Professor Thorsten Theobald Übungs- oder Klausuraufgaben stellt, denkt er zum Beispiel an „Ein Viereck kann man auf zwei Arten durch eine ‚Diagonale‘ in zwei Dreiecke zerlegen. Für die Zerlegung eines Fünfecks in Dreiecke mittels Diagonalen gibt es schon fünf Möglichkeiten. Wie viele Möglichkeiten gibt es beim 7-Eck und beim 20-Eck? Welche Gesetzmäßigkeit verbirgt sich dahinter?“ In seiner eigenen Forschung beschäftigt er sich sogar mit ganz allgemeinen beziehungsweise abstrakten Fragen wie etwa: „Hat ein gegebenes System von Gleichungen und Ungleichungen nur endlich viele Lösungen mit gewissen Eigenschaften, und falls ja, wie viele solche Lösungen gibt es?“ – Mit seinem Spezialgebiet „diskrete Mathematik“ stößt Theobald oft erst einmal auf überraschte Gesichter. „Diskrete Mathematik beschäftigt sich mit diskreten Objekten, das heißt mit Objekten, die voneinander getrennt und somit unterscheidbar sind“, definiert er und betont dabei insbesondere, dass das Wort „diskret“ hier nicht etwa das Gegenteil von „indiskret“ meint, also das Gegenteil von „geschwätzig“ oder „plump-vertraulich“, sondern dass „diskret“ vielmehr das Gegenteil von „kontinuierlich“ bezeichnet.
Wenn Theobald allerdings erläutert, wie viel diskrete Mathematik in den Anwendungsprogrammen („Apps“) eines Smartphones oder Tablets steckt, wird klar: Diskrete Mathematik hat ihren festen Platz in unserem Alltag – so zum Beispiel, wenn ein Smartphone auch im Gebirge, fernab von Mobilfunknetzen den eigenen Standort bestimmt und dazu mithilfe des Global Positioning System (GPS) die Signale von typischerweise acht bis zehn Satelliten auswertet. „Oder betrachten Sie QR-Codes“, fährt Theobald fort, „sie enthalten in einer quadratischen Matrix aus schwarzen und weißen Pixeln verschiedenste Arten von Informationen, zum Beispiel das Zertifikat einer COVID-19-Impfung, einen Fahrplan des öffentlichen Nahverkehrs, einen Internet-Link oder ein Flugticket.“
Herausforderungen des Alltags
Flugtickets oder Impfnachweise sollten auch dann noch lesbar sein, wenn das Papier mit dem aufgedruckten QR-Code zerknüllt sei oder ein Stück fehle, oder wenn der Code von einer Kamera mit verunreinigter Linse gescannt werde. Deshalb müssten QR-Codes so generiert werden, dass sich aus nur einem Teil der Pixel die gesamte Information rekonstruieren lasse. „Um fehlertolerante QR-Codes zu erzeugen, müssen Sie diskrete Mathematik anwenden“, sagt Theobald, „und das fasziniert mich so an diesem Forschungsgegenstand: Sie haben es mit vergleichsweise einfachen, konkreten Fragestellungen zu tun, die oft von Problemen des täglichen Lebens aufgeworfen werden. Deren Lösungen sind jedoch alles andere als klar; vielmehr sind sie mit großen Herausforderungen verbunden, und sie können nur mithilfe von Algorithmen beziehungsweise Computern bestimmt werden.“
Besonders interessant wird es für ihn, wenn verschiedene mathematische Teilgebiete zusammentreffen. „Das ist in meiner eigenen Forschung oft der Fall“, betont Theobald, „da kann ich Fragestellungen nicht immer in separate Schubladen sortieren, sondern ich habe es oft mit einem Kontinuum von Begriffen zu tun, die immer wieder eine Rolle spielen, ‚Geometrie‘ oder ‚Optimierung‘ zum Beispiel, oder etwa ‚Computeralgebra‘.“ Zuordnungen, also das Erkennen und Erforschen von Strukturen, hätten ihn schon als Fünft-oder Sechstklässler fasziniert, berichtet Theobald und schildert, wie er damals, in den frühen 1980er-Jahren, an dem populären Drehpuzzle „Zauberwürfel“ herumknobelte. „Den Dingen auf den Grund zu gehen, das hat mich schon immer gereizt, und frühzeitig habe ich meine ersten Programmier-Erfahrungen gemacht. Da war es eigentlich ganz natürlich, dass ich mich gegen Ende meiner Schulzeit dafür entschied, Mathematik und Informatik zu studieren“, sagt Theobald.
Pflicht und Privileg
In Lehrveranstaltungen sein Wissen und seine Fähigkeiten an Studierende weiterzugeben, betrachtet der Hochschullehrer Theobald bei Weitem nicht nur als Verpflichtung, sondern auch als Privileg. „Auf diese Weise kann ich für die Studierenden als Ideengeber fungieren und darf meine mathematischen Zugänge und Blickwinkel an angehende Mathematiker und Mathematikerinnen weitergeben“, betont er und fügt hinzu: „Gleichzeitig hoffe ich, dass ich meinem Ausbildungsauftrag in angemessener Weise gerecht werde“ – von ihm sollten sowohl die Studierenden profitieren können, die nur die Pflichtvorlesungen in diskreter und in computerorientierter Mathematik belegten, als auch die Spitzenstudierenden, die weiterführende Spezialveranstaltungen besuchten und das Potenzial hätten, die mathematische Forschung ein Stück voranzubringen.
Ihn selbst hatte die mathematische Forschung kreuz und quer durch Deutschland geführt, später auch in die USA, unter anderem an die Elite-Universitäten Yale und Berkeley. Aber als er 2006 den Ruf an die Goethe-Universität erhielt, „war das für mich eine ausgesprochen attraktive biographische Wendung“, erinnert sich Theobald. Das habe nicht nur am wissenschaftlichen Renommee der Goethe-Universität gelegen, sondern auch, weil er damit in zweifacher Hinsicht zu seinen Wurzeln zurückgekehrt sei: „Zu meinen fachlichen Wurzeln, weil ich hier studiert habe, und zu meinen familiären Wurzeln, weil ich in Frankfurt-Höchst geboren, also gewissermaßen mit Ebbelwoi getauft bin.“
Stefanie Hense