»Viele Japaner sind an Überarbeitung gestorben«

Der japanische Mediziner Michiko Kinoshita forscht seit August vergangenen Jahres als Gastwissenschaftler in Frankfurt. Die harten Arbeitsbedingungen in seiner Heimat machen es schwer, Familie und Beruf miteinander zu vereinen.

Michiko Kinoshitas Tag in Japan ist lang. Gegen acht, manchmal auch schon sieben Uhr morgens bringt er seine vierjährige Tochter in den Kindergarten, danach geht es ins Labor. Dort wird er die nächsten 10-12 Stunden an seinen Projekten sitzen, menschliche Gehirne analysieren und Genforschung betreiben. Gegen 19, manchmal auch erst 20 Uhr geht es nach Hause. Dann hat Kinoshita Zeit, kurz durchzuschnaufen, bevor es weitergeht: Das Abendessen muss gekocht, die Kinder ins Bett gebracht werden.

Am Wochenende ist es das Gleiche, Kinoshita hat Bereitschaftsdienst und Konferenzen, kommt samstags erst spät nach Hause. Zeit für die Familie ist da kaum, nur der Sonntag bleibt für gemeinsame Unternehmungen mit seiner Frau und den beiden Töchtern. Für japanische Verhältnisse hat Kinoshita einen entspannten Arbeitsalltag: „Viele meiner Landsleute arbeiten 12 Stunden oder mehr“, erzählt er, „in den letzten Jahren sind viele Japaner sogar an Überarbeitung gestorben.“

Der übermäßige Arbeitseifer sei ein großes soziales Problem, meint Kinoshita: „Die meisten arbeiten so viel, dass kaum mehr Zeit für Hobbies oder die Familie bleibt.“ Er selbst kann dem Ehrgeiz seiner Landsleute wenig abgewinnen, muss sich jedoch nach den Erwartungen der japanischen Arbeitswelt richten. Spurlos geht der Druck nicht an ihm vorbei, oft kommt er gereizt und übermüdet von der Arbeit nach Hause. „Den Stress hat auch meine Familie abbekommen“, bekennt er.

Von Fernweh geplagt

Als Arzt und Forscher arbeitet Kinoshita in Tokushima. Die Stadt mit knapp 250.000 Einwohnern liegt etwa zwei Autostunden von Osaka entfernt und ist im Vergleich zur Megacity Tokio mit mehr als 20 Millionen Einwohnern ein Dorf. Kinoshita ist hier im Landesinneren großgeworden, hat Medizin studiert und promoviert. Seit nunmehr fünf Jahren arbeitet er am dortigen Universitätsklinikum. Seit seiner Jugend jedoch ist er von Fernweh geplagt:

„Eigentlich wollte ich schon immer woanders studieren. Die asiatischen Länder sind allerdings alle nicht so weit entwickelt wie Japan, und Europa war mir damals noch zu weit weg“, erinnert er sich. Deshalb bleiben er und seine Frau zunächst in Tokushima. Beide sind Ärzte, sie im Krankenhaus bei den Patienten, er hauptsächlich im Labor bei seinen Forschungen. Das menschliche Gehirn fasziniert Kinoshita, er möchte herausfinden, wie Halluzinationen entstehen.

Dazu untersucht er die Gehirne von Toten, führt Tests und Experimente mit ihnen durch. Und noch etwas treibt ihn um: Er beschäftigt sich mit den Ursachen von Schizophrenie. Kinoshita will die Krankheit verstehen, ihre Entstehung erforschen und sie, wenn möglich, bekämpfen. Seit August vergangenen Jahres betreibt Kinoshita seine Forschungen am Lehrstuhl von Professor Andreas Reif an der Goethe-Universität.

Eine befreundete Kollegin macht ihn auf Reif und seine Forschungen aufmerksam. Als Kinoshita sie auf einer Konferenz in Japan über Reif ausfragt, antwortet sie schlicht: „He’s a good guy.“ Diese Referenz genügt Kinoshita, gemeinsam mit seiner Familie zieht er kurz darauf nach Frankfurt. Während er und seine Frau sich gut in Deutschland zurechtfinden, ist sich Kinoshita bei seiner vierjährigen Tochter nicht so sicher:

„Ich weiß nicht genau, wie es ihr mit dem Umzug geht. Sie redet nicht viel darüber“, sagt er. Ihre einjährige Schwester würde sich kaum an Japan erinnern. Doch wie ist es für eine Vierjährige, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen und in ein Land zu ziehen, dessen Sprache und Kultur sie nicht kennt? Diese Fragen beschäftigen Familienvater Kinoshita:

„Ich weiß, dass es nicht einfach für sie ist. Aber sie hat viele neue Freunde gefunden. In Frankfurt leben zum Glück viele Japaner, das macht es einfacher“, meint er. Nach Düsseldorf und Berlin sei Frankfurt die Stadt mit den meisten Japanern in Deutschland, deshalb gäbe es für seine Tochter auch einen japanischen Kindergarten.

Mehr Zeit für die Familie

Trotz der vielen Herausforderungen, vor denen die Familie während ihres Auslandsaufenthaltes steht, gefällt es Kinoshita gut in Frankfurt. Das große Arbeitspensum in seiner Heimat, von ihm als soziales Problem angeprangert, gibt es in Deutschland nicht. Dadurch hat Kinoshita mehr Zeit für seine Familie und bisher unbekannte Möglichkeiten. Ein Wochenendausflug mit Frau und Kindern? Kein Problem, wenn man samstags frei hat.

Und auch über die vergleichsweise vielen Urlaubstage freut sich Kinoshita: „Wenn es hochkommt, kann man in Japan maximal fünf Tage pro Jahr freinehmen.“ Auch an das deutsche Essen hat sich Familie Kinoshita gewöhnt. Auf die Frage nach seinem Lieblingsessen kommt die Antwort des Forschers wie aus der Pistole geschossen: „Ich liebe deutsche Wurst“, strahlt er.

Obwohl in seiner Heimat wieder der 12-Stunden-Tag auf ihn wartet und es keine Schinken- oder Fleischwurst gibt, möchte Michiko Kinoshita nach seinem Aufenthalt in Frankfurt wieder nach Japan. Er wird noch mindestens ein Jahr in Frankfurt forschen, vielleicht werden es auch zwei. Spätestens im Jahr 2020 möchte Kinoshita wieder zurück sein. Seine ältere Tochter soll in Japan eingeschult werden. Es gibt aber noch einen zweiten Grund: „2020 sind in Tokio die olympischen Spiele“, erklärt er lachend. Alle Wettkämpfe wird Kinoshita nicht verfolgen können. Dafür reichen seine Urlaubstage nicht aus.

[Autor: Linus Freymark]

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 6.17 (PDF-Download) des UniReport erschienen.

Mehr Infos zum Fachbereich Medizin: www.med.uni-frankfurt.de

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