Ein Meilenstein auf dem langen Weg der Empedokles-Exegese

Eine Veranstaltung der Gräzistik erinnerte an die einflussreiche Edition des Straßburger Papyrus vor 25 Jahren, die ihren Ursprung auch in Frankfurt hat. Die beiden Herausgeber haben bereits eine neue Edition zu Empedokles in der Mache.

Empedokles im IG-Farben-Haus.

W er das IG-Farben-Haus betritt, für den ist Empedokles quasi ein alltäglicher Bekannter (s. Abbildung). Doch wer war dieser Philosoph, was lässt ihn uns heute noch wichtig erscheinen? „Er ist erstens ein Teil der Geschichte der Naturwissenschaft, hat er doch die Theorie von den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft aufgestellt. Mögen das auch nicht die Elemente unseres Periodensystems sein, so hat der Begriff des Elements die neuzeitliche Naturwissenschaft doch maßgeblich beeinflusst“, erklärt Prof. Hans Bernsdorff vom Institut für Klassische Philologie, der gerade bei der Night of Science am naturwissenschaftlichen Campus Riedberg einen Vortrag über Empedokles gehalten hat. Bei Empedokles, sagt er, finde sich neben anderen Grundsätzen der physikalischen Welterklärung auch die quantifizierende Beschreibung verschiedener Objekte, wie wir sie noch in chemischen Formeln nutzen. Zum Zweiten habe Empedokles aber auch Stellung bezogen zu philosophischen Problemen seiner Zeit, die dann für die Philosophiegeschichte sehr wichtig wurden. Besonders habe Empedokles versucht, Parmenides, der wie er ein philosophisches Lehrgedicht geschrieben hat, etwas entgegenzusetzen und damit dessen radikale Ablehnung der Sinneswahrnehmung als Mittel zur Wahrheitserkenntnis zu überwinden. Drittens sei für die allgemeine Kulturgeschichte die Vier-Elemente-Lehre außerordentlich einflussreich gewesen. So ließen sich zahllose Gemälde der Kunstgeschichte finden, in denen auf die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft angespielt werde. „Diesen Hintergrund benötigt man also, um viele Erzeugnisse der europäischen Kultur überhaupt zu verstehen.“

Belgisch-deutsches Forschertandem

Alain Martin (Mitte r.) u. Oliver Primavesi neben Hans Bernsdorff (2. v. l.) und Studierenden des Hauptseminars: Julian Kaiser, Beer Albers, Helena Gerl (von links nach rechts).

Die Erstherausgeber des Straßburger Papyrus, Alain Martin (Brüssel) und Oliver Primavesi, damals Wissenschaftlicher Assistent am Frankfurter Institut für Klassische Philologie, leisteten wesentliche Teile ihrer Arbeit an dem spektakulären Neufund in Frankfurt. Primavesi habilitierte sich 1997 hier mit einer Arbeit zum Thema: „Empedoklesstudien: Ein unveröffentlichter Papyrus und die indirekte Überlieferung“. Wegen dieser Verbindungen nach Frankfurt entschieden sich Martin und Primavesi anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Edition des Straßburger Papyrus dazu, kurz vor der Drucklegung die Edition eines weiteren neugefundenen Empedokles-Papyrus an der Goethe-Universität in einer öffenlichen Sitzung des Hauptseminars von Prof. Hans Bernsdorff zur Diskussion zu stellen.

Was war nun das Revolutionäre an der Edition des Straßburger Papyrus? „Bis dahin war die gesamte griechische Philosophie vor Platon, also das, was wir gewöhnlich die vorsokratische Philosophie nennen – Heraklit, Parmenides, Anaximander, Anaxagoras und eben Empedokles –, in der Weise überliefert, dass wir nur Fragmente hatten, die meist aus Zitaten späterer Autoren bestanden, also in der Regel nur aus ein paar Versen. Oder dass sich andere Philosophen über die Lehre dieser Philosophen in längeren Referaten und in der Kritik dieser Positionen äußerten, wie beispielsweise Aristoteles in seiner ‚Metaphysik‘. Das ist natürlich ein erbarmungswürdiger Überlieferungszustand, da man die Texte der Philosophen sozusagen nur aus zweiter Hand kennt. Vor diesem Hintergrund war der Straßburger Papyrus von immenser Bedeutung, weil wir jetzt plötzlich Fragmente erhielten, die Martin und Primavesi mit bereits bekannten Zitaten erstmals zu längeren zusammenhängen Partien (bis zu 99 Versen) aus dem Lehrgedicht des Empedokles kombinieren konnten. Davon konnte man vor dem Papyrusfund nur träumen.“

Beigabe einer Mumie

Gefunden wurde der Papyrus auf durchaus abenteuerliche Weise: Einer der beiden Herausgeber, der Belgier Alain Martin, entdeckte ihn 1990 in der Straßburger Universitätsbibliothek. Erworben wurde er zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den deutschen Archäologen Otto Rubensohn von einem Antiquitätenhändler in Oberägypten. Hans Bernsdorff beschreibt, wie der Papyrus gewissermaßen recycelt wurde und damit vor dem Verfall geschützt war: „Er bildete die Unterlage für ein Schmuckamulett, das einer Mumie angelegt worden war.“ Dieser philologische Schatz blieb aber in Straßburg unentdeckt, erst Martin erkannte die Überlappung mit einigen Versen von Empedokles. Er sprach dann den jungen Oliver Primavesi, der damals frisch promovierter Assistent an der Goethe-Universität war, an, um gemeinsam den Text zu edieren. „Es handelt sich sicherlich um einen der bedeutendsten Papyrusfunde im Bereich der Gräzistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, schätzt Bernsdorff.

Zugleich betont er, dass beide Forscher sich nicht auf ihren Lorbeeren ausgeruht hätten, sondern neben anderen bedeutenden Forschungsvorhaben aktuell eine weitere wichtige Publikation auf den Weg bringen werden. Es geht wieder um ein neugefundenes Fragment, das wohl vom selben Schreiber wie der Straßburger Papyrus kopiert wurde und vielleicht sogar aus derselben Rolle stammte. Daher ist Bernsdorff froh, dass er beide Forscher für einen Vortrag vor seinem Hauptseminar gewinnen konnte, in dem es um Übungen zu unpublizierten Papyri und Inschriften ging. „Für die Studierenden war es außerordentlich lehrreich. Sie hatten natürlich schon einiges an griechischer Literatur in ihrem Studium gelesen; durch diesen von Martin und Primavesi präsentierten Neufund wurden sie gewissermaßen herausgefordert, dieses Wissen anzuwenden und sich zu fragen: Sind die Ergänzungsvorschläge, die Primavesi und Martin gemacht haben, überzeugend?“

Grenzen von KI

Welche Kompetenzen sind überhaupt vonnöten, um fragmentarisch überlieferte Texte zu ergänzen und zu vervollständigen, wie viel Kreativität fließt in eine solche Arbeit ein? Hans Bernsdorff weist zuerst einmal darauf hin, dass die eigenen Ideen sich in das Gedankengebäude des Empedokles einfügen müssen: Es handele sich in dem Fall um einen speziellen Bereich seiner Philosophie, die Wahrnehmungstheorie. „Die Phantasie muss sich ferner am Versmaß, dem Hexameter, dem typischen Metrum der homerischen Epen, orientieren. Es sind insgesamt also sprachliche und philosophische Kompetenzen gefordert. Was die Studierenden daran aber besonders fasziniert: Sie sind bei der Arbeit daran einmal an der Spitze der Forschung, können etwas beitragen, so wie das gesamte Hauptseminar der Verbindung von Forschung und Lehre diente.“ Mithilfe der Digitalisierung konnten auch außerhalb der Straßburger Sammlung – der Papyrus muss aus konservatorischen Gründen immer dort im Archiv bleiben – nicht nur die Funde hochauflösend an die Wand geworfen werden; ebenso konnten die beiden Forscher auch sehr anschaulich ihre textlichen Ergänzungen einblenden.

An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwiefern die Künstliche Intelligenz in diesem Forschungsgebiet angekommen ist. Hier ist Prof. Hans Bernsdorff eher etwas skeptisch: „Dieses Zusammenspiel aus der Kenntnis von Sprache, poetischen Konventionen und der Philosophie kann momentan wohl noch keine Künstliche Intelligenz. Und ich denke nicht, dass sie das irgendwann auf zufriedenstellende Weise können wird. Wir benutzen natürlich Datenbanken, in denen die gesamte griechische Literatur erfasst ist. Damit können wir überprüfen, ob bestimmte Wendungen, von denen wir annehmen, dass sie ergänzt werden müssen, anderswo belegt sind, beispielsweise bei Homer. Wir können das Altgriechische selber nicht sprechen und müssen uns also dadurch immer vergewissern, ob eine bestimmte Wendung möglich ist.“

Bernsdorff erläutert aber ein ebenso spannendes Gebiet, auf dem KI bereits gewinnbringend zum Einsatz kommt: nämlich bei der Rekonstruktion von verkohlten Textrollen, die man in der bei Pompeji gelegenen Stadt Herculaneum gefunden hat:

„In der Bibliothek der Villa dei Papiri hat sich eine Vielzahl von Rollen erhalten, die verkohlt sind. Das Problem: Wenn man diese Rollen öffnet, dann zerfallen sie. Jetzt kann man aber mithilfe der Mikrocomputertomographie ein exaktes dreidimensionales Bild einer solchen geschlossenen Rolle herstellen und dann mittels Algorithmen die beschriebene Oberfläche sichtbar machen. Da gab es in letzter Zeit erhebliche Fortschritte, davon versprechen sich die Papyrologie und die Gräzistik ganz neue Einblicke in versunkene unbekannte Texte.“ Bernsdorff ist sich aber sicher, dass die eigentliche Textexegese weiterhin von „realen“ Wissenschaftler*innen übernommen werden muss. Und es gebe noch jede Menge zu tun, betont er: Manche antiken Texte, die bereits vor über 100 Jahren geborgen wurden, warten immer noch darauf, dass sie endlich ediert werden. „Das wird ein wichtiges Gebiet der griechischen Philologie bleiben – das es im Übrigen in dieser Weise auch nicht in der Latinistik gibt, also der anderen Disziplin der Klassischen Philologie, weil lateinische Papyri generell seltener sind.“ Allerdings profitiert die Latinistik von Neufunden auf dem Gebiet der griechischen Literatur, wie auch der vorliegende Fall zeigt: Hans Bernsdorff und Julian Kaiser (einer der Hauptseminaristen) konnten wahrscheinlich machen, dass der römische Lehrdichter Lukrez in einer Passage seines Werks De rerum natura den neugefundenen Empedokles-Text imitiert.

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