Marjan van den Akkers Haltung ist eindeutig: „Ich bin ein Fan davon“, sagt sie über die elektronische Patientenakte (ePA), deren allgemeine Einführung der Bundestag im Dezember 2023 beschlossen hat. „Wenn alle Beteiligten, sowohl Haus- als auch Fachärzte und Apotheker, auf die ePA zugreifen dürfen und wenn sie darin jedes verordnete Medikament sorgfältig vermerken, dann entsteht wenigstens ein vollständiger Überblick darüber, was ein Patient, eine Patientin einnimmt. Wenn jemand mit seiner Medikation Probleme bekommt – und das kann bis zu einem Krankenhausaufenthalt gehen –, dann liegt das in den allermeisten Fällen daran, dass niemand diesen notwendigen Überblick hat“, erläutert van den Akker. Und wer, wenn nicht sie, sollte das beurteilen können? – Die Gesundheitswissenschaftlerin und Epidemiologin van den Akker hat am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität schließlich die Professur für „Multimedikation und Versorgungsforschung“ inne.
„Von Multimedikation sprechen wir, wenn Patienten fünf oder mehr verschiedene Medikamente gleichzeitig einnehmen müssen“, erläutert sie, „dafür gibt es beliebig viele Beispiele: Eine 79-jährige Frau mit Herzinsuffizienz, Rheuma und der Lungenerkrankung COPD, die acht Dauermedikamente bekommt. Ein 45-jähriger Mann, der an Bluthochdruck, Diabetes Typ 2, Asthma und Depression leidet, dem sechs Dauermedikamente verschrieben werden. Und so weiter.“
„Multimorbidität“ werde zwar vor allem mit hohem Alter in Verbindung gebracht. In absoluten Zahlen sei allerdings die Altersgruppe unter 65 Jahren besonders betroffen. Van den Akker benennt Schwierigkeiten, die mit Mehrfacherkrankungen und der entsprechenden Multimedikation verbunden sein können: „Je mehr Medikamente verordnet wurden, desto höher sind die Anforderungen an die Kommunikation zwischen Haus- und Fachärzten: Sie wissen nicht immer, was ihre Kolleginnen/Kollegen verschrieben haben, und unter Umständen kommt es dann zu Doppelverschreibungen.“ Außerdem wachse mit der Zahl der einzunehmenden Arzneien auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Wechselwirkungen komme.
Satt schon vor dem Frühstück
„Und dann ist da die schiere Menge an Arzneimitteln“, fährt van den Akker fort, „wer gleich nach dem Aufstehen acht oder zehn Tabletten einnehmen muss und jede davon mit einem halben Glas Wasser herunterspült, fühlt sich schon vor dem Frühstück pappsatt – aus Hausarztpraxen höre ich immer wieder, dass Betroffene darüber klagen.“
Schließlich sei es für manchen Patienten, manche Patientin eine echte Herausforderung, mittel- und langfristig die Übersicht über die eigene Medikation zu behalten. Ihre Wiederholungsrezepte seien nämlich keine Garantie dafür, dass ihnen in der Apotheke immer das gleiche Medikament ausgehändigt werde: „Da heißt es dann zum Beispiel ‚Vergangenen Monat gab es für morgens, mittags, abends kleine blaue Kapseln der Firma XY, aber diesen Monat bekommen Sie für morgens und abends die weißen Filmtabletten des Herstellers YZ, weil sich die Rabattverträge der Krankenkassen geändert haben.‘ Zumal für ältere Patienten kann das ausgesprochen verwirrend werden“, sagt van den Akker.
Sie möchte herausfinden, wie sich die Versorgung von Patientinnen und Patienten verbessern lässt, wie man also erreichen kann, dass möglichst viele Patientinnen und Patienten tatsächlich die Medikamente einnehmen, die ihnen verschrieben worden sind. Dazu gehört nicht nur der Einsatz geeigneter Hilfsmittel wie etwa tageweise unterteilter Tablettendöschen mit Fächern für morgens, mittags und abends. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um van den Akker wollen zudem insbesondere die Kommunikation verbessern –, sowohl zwischen Haus- und Fachärzten soll die Information zügig und verlustfrei fließen als auch von Medizinerinnen und Medizinern zu ihren Patienten und umgekehrt. „Wir haben eindeutig festgestellt, in dem Maße, wie sich Ärzte die Mühe machen, die Gesundheitskompetenz ihrer Patientinnen und Patienten zu stärken und ihnen zu erklären, warum sie bestimmte Medikamente oder Behandlungen verordnen, verbessert sich auch die Therapietreue der Patienten.“
Kommunikation und Kooperation
Zudem hängt die Versorgung nicht nur von der Sorgfalt ab, mit der Patientinnen und Patienten die ärztlichen Anweisungen umsetzen; ebenso wichtig ist es, dass ihre Ärztinnen/Ärzte und Apothekerinnen/Apotheker gut kommunizieren und kooperieren, wenn sie komplexe medikamentöse Therapien planen und ausführen. „Damit sie das in ihrem Berufsleben beherrschen, müssen sie es als Medizin- und Pharmazie-Studierende lernen und üben“, betont van den Akker, die zu diesem Zweck das Wahlfach-Seminar „Umgang mit Multimorbidität und Multimedikation“ anbietet – in Kleingruppen übernehmen Medizinstudierende dabei die Rolle des Haus- oder Facharztes, Pharmazie-Studierende die Rolle des Apothekers/der Apothekerin und „behandeln“ Schauspielpatienten anhand ihrer fachspezifischen Expertisen.
Van den Akker, der das interprofessionelle Lernen von Medizinern, Pharmazeuten und Pflegekräften besonders am Herzen liegt, ist zuversichtlich, dass sich ein Schwerpunkt „Chronische Erkrankungen, Multimorbidität und Multimedikation“ in der geplanten neuen Approbationsordnung für das Fach Medizin wiederfinden wird. In ihrer Forschung will sie sich auch weiterhin der Frage widmen „Wie können wir Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, das Medikationsmanagement zu verbessern und gleichzeitig Patientinnen/Patienten und Angehörige unterstützen, damit die sich trauen, während einer Therapie Fragen zu stellen und auch mal ‚Nein‘ zu sagen?“
Autorin: Stefanie Hense