Soziologe, Gesellschaftstheoretiker und Querdenker: Niklas Luhmann gilt als schwierig und unzugänglich. Dass die Beschäftigung mit ihm aber überaus lohnenswert und sogar unterhaltsam sein kann, zeigte Jürgen Kaube mit seinem Vortrag im Rahmen der Biografienreihe der Bürger-Uni. Kaube, Journalist und Mitherausgeber der FAZ, brachte den über 100 Zuhörerinnen und Zuhörern in der Frankfurter Zentralbibliothek den Bielefelder Soziologen erfreulich unakademisch, aber kompetent und gewitzt näher.
Der 1927 geborene Luhmann studierte Jura und war zuerst in der öffentlichen Verwaltung tätig, bevor er sich der Soziologie zuwendete. Erst mit 31 Jahren begann er zu publizieren, doch bis zu seinem Tode im Jahre 1998 brachte er es auf sage und schreibe 50 Bücher. „Ein solch hoher Output verweist entweder auf Dilettantismus oder auf Genialität“, bemerkte Kaube trocken.
Keine Frage, dass Kaube, der als studierter Volkswirt erst recht spät mit dem Werk Luhmanns in Berührung kam, den Bielefelder für eine Ausnahmeerscheinung unter den deutschen Soziologen hält. Und das nicht nur hinsichtlich seiner Produktivität: Luhmann habe quasi „über alles“ publiziert, was er für konstitutiv für Gesellschaft gehalten habe: über Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst und viele andere Felder.
Mit seinem legendären Zettelkasten habe er Begriffe und Gedanken bewusst unsystematisch, aber mit Anmerkungen und Querverweisen gesammelt. Dieser analoge Vorläufer heutiger digitaler Hypertexte sei für Luhmann das passende Instrument gewesen, um eine moderne Welt, die komplex und vielschichtig sei, zu erfassen. Die Soziologie als recht junges Fach unter den Geistes- und Sozialwissenschaften habe er neu gedacht und mit einem begrifflichen und theoretischen Instrumentarium ausgestattet, das neue Einblicke und Erkenntnisse ermöglichte.
Denker einer kontingenten Welt
Über Luhmanns Kindheit und Jugend sei relativ wenig bekannt. Um seinen Werdegang als Wissenschaftler biografisch herzuleiten, bemühte Kaube den Begriff der „skeptischen Generation“, den der Soziologe Helmut Schelsky für die zwischen 1920 und 1940 Jahren Geborenen geprägt hat. Diese Generation habe in jungen Jahren die Erschütterungen des Krieges erlebt und sei daher skeptisch gegenüber Ideologien und politischen Experimenten gewesen.
Wie Kaube ausführte, hätten Krieg und Zivilisationsbruch bei Luhmann darüber hinaus das Bewusstsein für die Kontingenz, für die Zufälligkeit biografischer Erlebnisse, gestärkt. Dies sei in nicht unerheblichem Maße in seine soziologische Theorie eingeflossen, in der es keine zentrale Perspektive auf Gesellschaft mehr gebe. Gesellschaft werde bei Luhmann nicht als Einheit, sondern von der Differenz her gedacht.
Sein kritisch-distanzierter Blick auf moralisch-ethisch argumentierende Denker und emanzipatorische Gesellschaftskonzepte habe ihm den Vorwurf eingebracht, ein Technokrat zu sein; vom Frankfurter Jürgen Habermas wurde er sogar mal als „neo-liberal“ kritisiert. In der Öffentlichkeit sei Luhmann nicht als klassischer Intellektueller aufgetreten, den persönlichen Schlagabtausch mit anderen Denkern habe er nicht gesucht.
Dem Individuum gegenüber habe Luhmann ohnehin ein gewisses Desinteresse gezeigt, erläuterte Kaube, was mitunter zu bizarren Situationen im Wissenschaftsalltag geführt habe: Als der berühmte amerikanische Soziologe Erving Goffman einmal als Gast an der Bielefelder Universität weilte, habe Luhmann offensichtlich kein Interesse an einem Treffen mit dem einflussreichen Kollegen gezeigt. Dazu befragt, habe Luhmann nur lakonisch geantwortet: „Prominenz enttäuscht in der Interaktion.“
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Die Veranstaltungsreihe „Wie wir wurden, wer wir sind“ wird von Prof. Tilman Allert, Soziologe an der Goethe-Universität, kuratiert. Die Hauptreihe der Frankfurter Bürger-Universität im Sommersemester stellt an insgesamt sechs Abenden Lebensläufe berühmter Protagonisten deutscher Sozial- und Kulturgeschichte vor.
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