Rund 300 Zuhörer*innen aus aller Welt waren am Freitagvormittag des 22. Januar vor ihren Bildschirmen dabei, um das Gespräch zwischen der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy und Dr. Pavan Malreddy vom Institut für England- und Amerikastudien der Goethe-Universität zu verfolgen.
In seiner offiziellen Eröffnung betonte der Präsident der Goethe-Universität, Prof. Dr. Enrico Schleiff, die weitreichende Bedeutung von Roys Arbeit gegen soziale Ungerechtigkeit, denn diese „ist überall anzutreffen und kann sich unabhängig von Kultur oder sozialer Struktur ausbreiten“. Prof. Dr. Frank Schulze-Engler, Dekan des Fachbereichs 10, ergänzte in seiner Begrüßung, dass seit der Veröffentlichung von Roys erstem Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ „die Auseinandersetzung mit Roys Werk fester Bestandteil kritischer Diskussion an der Fakultät“ sei. Dr. Pavan Malreddy beschreibt in seiner anschließenden Einführung das Werk der Schriftstellerin als gekennzeichnet durch „Intelligenz, Detailreichtum, Scharfsinn und makellose, fast musische Prosa“.
„The Syntax of Everyday Injustice“ – so der Titel der Veranstaltung – diskutierte die vielen Erscheinungsformen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse sowohl in Indien als auch weltweit. Sprache als System menschlicher Ausdrucksform wurde dabei als nur eine Erscheinungsform von Unterdrückung herausgestellt. Roy betonte, dass Sprache zur Marginalisierung verschiedener Gruppen innerhalb der indischen Gesellschaft beitrage und Unterschiede in Bezug auf Klasse, Geschlecht, Religion, Ethnie und Kaste manifestiere. Sie hob sprachliche Verunglimpfung als Wegbereiter für Ausgrenzung und Genozid, nicht nur in Indien, hervor und zeigte auch auf, dass die Erfahrung bestimmter Lebenswirklichkeiten Eingang in die Alltagssprache der Menschen findet. Anhand des „Kashmiri English Alphabet“ aus ihrem Roman „Das Ministeriums des äußersten Glücks“ legte sie dar, wie sich die politische Situation Kaschmirs im neu gewonnenen Wortschatz der Bevölkerung widerspiegelt.
In ihrem Gespräch ließen Roy und Malreddy die Rolle der Medien in diesem Zusammenhang nicht aus. Vielmehr warfen sie einen kritischen Blick auf die globale Medienlandschaft im Allgemeinen. Während Roy die Beteiligung öffentlicher und privater Medien an Ausgrenzung und Hetze anprangerte, stellte Malreddy heraus, dass die Behandlung jeder noch so kleinen Neuigkeit als breaking news den Blick auf die wesentlichen und dringlichsten Probleme einer jeden Gesellschaft verschleiere und ihre Bearbeitung unmöglich mache. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Rolle der sozialen Medien, welche die Verbreitung von Gerüchten und fake news beschleunigen. Diese begünstigten gleichzeitig, dass sich Menschen in „hermetisch abgeschlossenen Universen“ zusammenfinden und sich Unwahrheiten und Vorurteile verfestigen können, ergänzte Roy. Ihre Rolle als Schriftstellerin bestehe im Gegenzug darin, „vollständige Universen“ zu schaffen, in denen nicht nur marginalisierte Menschen Platz finden, sondern in denen Machtstrukturen und gesellschaftliche Komplexität aufgezeigt werden, so Roy. Sie betonte, dass der Fiktion dabei eine besondere Rolle zukomme, könne sie doch manche Realitäten besser
vermitteln als bloße Fakten. Dies verdeutlichte sie in der anschließenden Lesung einer Passage aus ihrem Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“, worin Protagonistin Anjum ihre Erlebnisse des Massakers an der muslimischen Bevölkerung im Bundestaat Gujarat verarbeitet. Sie realisiert, dass die Intersektionalität ihrer Identität als Transgender und Muslima ihr dabei unverhofft das Leben rettet.
In der anschließenden Diskussion mit dem Plenum stellte sich Roy den Fragen der Teilnehmer*innen. Dabei kamen auch die Auswirkungen der globalen COVID-19-Pandemie zur Sprache. Während sich weltweit Regierungen bemühen, die Auswirkungen in Grenzen zu halten (sofern sie die Existenz des Virus denn ernst nehmen), wird über den Zeitpunkt einer Rückkehr zur Normalität weiter spekuliert. Roy griff die Frage auf, stellte sie jedoch neu und fragte, ob eine Rückkehr zur sogenannten Normalität, die für viele geprägt ist von Gewalt und Unterdrückung, überhaupt wünschenswert sei. „Wir wollen etwas, das besser ist als das, was wir für normal hielten“, schloss sie.
Arundathi Roy war ursprünglich als Keynote-Speakerin für die GAPS-Konferenz 2020 an der Goethe-Universität vorgesehen. Obwohl diese aufgrund der Pandemie abgesagt werden musste, konnte die Schriftstellerin ihren Besuch nun in virtueller Form im Rahmen der In „Transit|ion“-Vorlesungsreihe antreten.
Stefanie Kemmerer, Masterandin M.A. Moving Cultures – Transcultural Encounters, Institut für Neue Englischsprachige Literaturen und Kulturen
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 1/2021 (PDF) des UniReport erschienen.