Bürger-Uni / Wie wir wurden, wer wir sind

Bürgeruni-Reihe stellt dreißig Jahre nach dem Mauerfall prominente Ostbiografien vor.

Deutschland, von den neuen Bundesländern her betrachtet, erfährt eine nachhaltige Infragestellung des sogenannten bundesrepublikanischen Modells, mit dem sich die Erfahrung einer Einheit von politischer Stabilität, relativem Wohlstand und Rechtssicherheit verbunden hatte. Die Revolution vor 30 Jahren fegt unter der Parole „Wir sind das Volk“ nicht allein die Diktatur des bürokratischen Sozialismus beiseite. Vielmehr liefert sie die Grundlage für eine bis dahin nicht gekannte Institutionenskepsis, die sich zunehmend parteipolitisch artikuliert, mit Populismus ungenau bestimmt ist und die in ihren geistigen Grundlagen auf frühe Weichenstellungen der deutschen Geschichte des 20.

Jahrhunderts verweist. Die deutsche Situation, die nach wie vor in einem hohen Maße durch asymmetrische Wohlstandsentwicklung zwischen Ost und West bestimmt ist, erfährt dabei nicht etwa eine neue Phase des Kapitalismus, vielmehr treffen die Menschen nach der Vereinigung auf Lebensbedingungen, die durch ein dynamisches Verhältnis von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung bestimmt sind, von Heimatsuche, wie es seit Neuestem heisst, und Akzeptanz der für die moderne Gesellschaft typischen Abstraktionszumutungen.

Die Vorträge der diesjährigen Biografiereihe greifen die Reflexion auf 30 Jahre deutsche Vereinigung auf und stellen mit den Karrieren der Spitzensportlerin Katharina Witt und der Politikerin Margot Honecker zwei Lebenswege von Menschen aus der ehemaligen DDR vor, die kontrastreicher nicht sein können: Katharina Witt, eine vom System privilegierte Vorzeigesportlerin, versucht einen Neuanfang in der glamourösen Welt der Unterhaltungsindustrie, Margot Honecker verfolgt rigoros und erfahrungsimmun die politischen Ideale, denen sie sich früh und an der Seite ihres Ehemanns Erich Honecker verpflichtet hatte.

Ergänzt werden die Porträts der früheren DDR-Prominenz um ein Spektrum von Personen, deren Werk geistige Strömungen bündelt, die im kollektiven Gedächtnis der Nation verankert sind und die das Selbstverständnis bis hin zur Gegenwart bestimmen.

Dazu zählen die exzentrisch demonstrative und manipulative Art und Weise, wie Elisabeth Förster-Nietzsche dem verbreiteten Elitenbegriff huldigt und die Schriften ihres Bruders Friedrich Nietzsche anpreist. Ästhetisch sublimiert begegnen uns in den Biografien des Designers Otl Aicher und des Filmemachers Rainer Werner Fassbinder die künstlerische Resonanz auf die Kriegserfahrungen eines Soldaten zur Zeit des Nationalsozialismus, der den seelischen Erschütterungen während des Russlandsfeldzugs den Antrieb zu einer Idee der Leichtigkeit entnimmt, sowie die filmische Verarbeitung der „Bleiernen Zeit“ der frühen Fünfzigerund Sechzigerjahre der Bundesrepublik, Grundlage einer Revolte in Kunst und bürgerlichem Lebenszuschnitt.

Von zeitübergreifender Aktualität hingegen sind Werk und Person des Schriftstellers Jean Amery, dessen Geschichte beeindruckt durch die Kraft, mit der die Leiderfahrungen eines bedrohten Lebens in der Diktatur zu einer Figur radikaler Autonomie transzendiert wird und in einem existentialisierten Plädoyer für die Freiheit zur Entscheidung Ausdruck findet. Die in diesem Sommer vorgestellten Lebensgeschichten liefern Beispiele dafür, wie die Menschen unterschiedlicher Generationszugehörigkeit auf die historischen Zäsuren der Epoche eine Antwort gefunden haben.

Aus einem Land der Ruinen und des moralischen Verfalls einen Weg gefunden haben zu Sozialaufstieg, Wohlstand, demokratischer Diskursfähigkeit sowie zur Anerkennung der Andersartigkeit von Herkunft, Milieu oder Religion ist nicht selbstverständlich. Derartige Wege sind von Gegenströmungen durchkreuzt, die Fortschritt in Rückschritt verwandeln können oder beides ineinander übersetzen.

Vor diesem Hintergrund dokumentieren die Biografien die „longue durée“ von kulturellen Ideen, die weit in die Geschichte zurückreichen, wie etwa der Gedanke einer Elitenherrschaft. Welche Spuren der historisch soziale Erfahrungsraum zweier Kriege und zweier Diktaturen im Erlebniszusammenhang einer Person hinterlässt und wie diese an die nachwachsenden Generationen weitergegeben werden, zeigt sich am Einzelfall.

Je sorgfältiger man sich diesem widmet, desto deutlicher treten übergreifende konfessions- oder milieutypische Züge hervor. Biografien erzählen davon, wie Zeitgeist, überindividuelle Schicksalslagen und Weltbild ineinandergreifen. Sie repräsentieren Verläufe einer Mentalitätsgeschichte des Landes, die zum erkennenden Vergleich einladen.

Tilman Allert

WIE WIR WURDEN, WER WIR SIND – DEUTSCHE BIOGRAFIEN
Bürgeruniversität, Vortragsreihe (Kuratiert von Prof. Tilman Allert)

29. April 2019: Auf dünnem Eis – Katarina Witt
Prof. Tilman Allert, Goethe-Universität Frankfurt
6. Mai 2019: Hand an sich legen – Jean Amery
Prof. Matthias Bormuth, Ossietzky Universität Oldenburg
20. Mai 2019: Angst essen Seele auf – Rainer Werner Fassbinder
Prof. Martin Seel, Goethe-Universität Frankfurt
27. Mai 2019: Die Macht des Willens – Elisabeth Förster-Nietzsche
Prof. Ulrich Sieg, Philipps-Universität Marburg
17. Juni 2019: Die Welt als Entwurf – Otl Aicher
Prof. Klaus Klemp, Hochschule für Gestaltung Offenbach
24. Juni 2019: Im stahlharten Gehäuse des bürokratischen Sozialismus – Margot Honecker
Prof. Tilman Allert, Goethe-Universität Frankfurt

Jeweils um 19.30 Uhr, Stadtbücherei, Zentralbibliothek, Hasengasse 4, 60311 Frankfurt am Main; www.buerger.uni-frankfurt.de

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.19 des UniReport erschienen.

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