Universitäten blicken auf ein »Hybridsemester«

Auch wenn die aktuelle Pandemie-Lage wenig Spielraum für Präsenzlehre lässt: Lehrende und Mediendidaktiker möchten langfristig nicht auf einen Lehrbetrieb face-to-face verzichten. Sie plädieren aber auch dafür, die Möglichkeiten digitaler Lehre nach Maßgabe der Lernziele intensiv zu nutzen. Viele digitale Tools, so die Einschätzung, können sogar im Präsenzunterricht für mehr Interaktion und Feedback sorgen.

Über 8000 Studienanfänger*innen werden im kommenden Wintersemester an der Goethe-Universität erwartet. Für die „Erstis“ sind die fehlenden Direktkontakte zu ihren neuen Kommiliton*innen sicherlich besonders schmerzhaft, doch die Universität versucht, mit einem breiten Angebot dem Informationsbedürfnis, Beratungsbedarf, aber auch dem Wunsch nach Austausch und Netzwerken nachzukommen. So erhalten die neuen Studierenden eine Begrüßungs-E-Mail mit Hinweisen und Erläuterungen zum Semesterbeginn und einen Link auf ein extra geschaffenes Online-Portal „Studienbeginn“, in dem alle relevanten Informationen zum Studienstart gebündelt sind. Vom Studien-Service-Center (SSC) und studiumdigitale wurde ein ChatBot entwickelt, der mithilfe künstlicher Intelligenz versucht, die brennendsten Fragen der Studierenden direkt zu beantworten. In einem zweiten Schritt schreiben die Fachbereiche die Studierenden ihres jeweiligen Faches an, geben weitere Informationen und laden sie zur Orientierungsveranstaltung ein. Die Orientierungsveranstaltungen sind zum größten Teil so gestaltet, dass es einen asynchronen Online-Teil gibt, auf den die Studienanfänger jederzeit zugreifen können und der alle wesentlichen Informationen zum Studienbeginn im gewählten Fach enthält. Darüber hinaus haben die meisten Fächer auch einen synchronen Online-Teil vorgesehen, bei dem es Gelegenheit zur Interaktion mit der Studienfachberatung gibt. Hier findet auch eine Aufteilung der Studierenden in kleinere Online-Gruppen statt, die je nach Fachbereich von Mentor*innen oder Tutor*innen begleitet werden. Einige kleinere Fächer wie z.B. Archäologie bieten den Erstsemestern Orientierungsveranstaltungen in einem Präsenzformat an.

Virtuell und real – kein Gegensatz

Von synchronen Videokonferenzen über asynchrone Angebote bis hin zu kleineren Präsenzformaten ist also alles dabei. Ist das also das sogenannte „Hybridsemester“? Ein Hybrid ist laut Duden „von zweierlei Herkunft“– wird damit einfach nur gesagt, dass es an den Hochschulen des Landes coronabedingt Präsenz- und Onlineveranstaltungen geben wird? „Hybridsemester kann erst einmal bedeuten, dass es Onlineveranstaltungen und Präsenzveranstaltungen gibt. Zum anderen kann eine Veranstaltung auch aus Präsenz und Online-Anteilen bestehen, das würde man dann wohl als Blended Learning bezeichnen“, erklärt PD Dr. Miriam Hansen, Pädagogische Psychologin und Operative Leiterin des Interdisziplinären Kollegs Hochschuldidaktik (IKH). Ihr ist diese Differenzierung auch deshalb wichtig, weil sie künstliche Gegensätze und Frontstellungen vermeiden möchte. Ihr und ihren Mitstreiter*innen der AG „Virtuelle Lehre“, die zu Beginn der Pandemie in diesem Frühjahr durch das Präsidium ins Leben gerufen wurde, ist es wichtig, dass zum einen die große Herausforderung Online-Lehre gemeistert wird, zum anderen aber auch bei einer Rückkehr in die Präsenzlehre gut funktionierende Online-Elemente beibehalten werden und einen frischen Wind in die Didaktik und Unterrichtsgestaltung bringen.

Dr. David Weiß, Diplominformatiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei studiumdigitale, versteht sehr gut, dass die Vermeidung realer Kontakte gerade zu Studienbeginn von vielen bedauert wird. „Befragungen haben ergeben, dass die Studierenden im virtuellen Modus jedoch nicht unbedingt die Dozierenden vermissen, sondern vor allem die anderen Studierenden.“ Nichtsdestotrotz plädiert er dafür, dass man den Wert digitaler Kontakte in Chats und Gruppen nicht unterschätzen sollten: „Für junge Menschen definiert sich das soziale Umfeld über mobile Endgeräte und virtuelle Netzwerke. Das auf dem ersten Blick vorherrschende öffentliche Bild, bei dem die Handynutzer*innen vermeintlich einsam auf ein Display starren, bildet da eben nur einen Teil der Realität ab“, sagt er. Deshalb hat studiumdigitale seit dem letztem Semester den campusweiten Messenger Rocket.Chat zur Verfügung gestellt, den Lehrende, Verwaltung und auch Studierende nutzen können – „quasi WhatsApp für die Uni“, sagt Weiß. Studierende, die jetzt in dem virtuellen Semester ihr Studium begonnen haben, werden die Flexibilität vielleicht in kommenden Präsenzsemestern vermissen, Vorlesungen von zu Hause aus oder mobil verfolgen zu können, gerade diejenigen, die pendeln müssen. Weiß sieht auch in sogenannten „virtuellen Schnitzeljagden“, in denen die neuen Studierenden mithilfe ihres Smartphones den Campus und die universitären Einrichtungen auch jenseits der Gruppe kennenlernen, eine gute Möglichkeit, virtuell und real zu verbinden.

Miriam Hansen stimmt ihrem Kollegen zu; sie sieht aber auch auf Grundlage von Erkenntnissen der Akkulturationsforschung, dass Erstsemester sich deutlich leichter im Präsenzbetrieb tun, Anschluss an eine Gruppe zu finden. „Aber wir haben auch eine Verantwortung, gerade angesichts wieder steigender Infektionszahlen, somit gibt es im Augenblick keine wirkliche Alternative zum Studium, das mehrheitlich digital durchgeführt werden muss.“ Lehrende müssten aber verstärkt darauf achten, dass in der digitalen Lehre der Workload für die Lernenden oder Studis nicht zu groß wird. „Zeit am Rechner kann sehr arbeitsintensiv sein.“ Auch die technische Ausstattung sollte man im Blick behalten, denn nicht jede/r Studierende/ r verfüge zu Hause über schnelles Internet. „Aber auch an der Uni könnte das digitale Arbeiten zum Problem werden“, fügt ihr Kollege David Weiß an; aus den Fachbereichen wird mehrfach zurückgemeldet, dass im Hybridsemester die Studierenden nach einer Präsenzveranstaltung auf dem Campus Schwierigkeiten haben, einen Ort finden, an dem sie unter den aktuellen Hygienebestimmungen digital weiterarbeiten können.

Was hält die AG „Virtuelle Lehre“ denn von der von einigen Hochschullehrenden vorgetragenen Bitte: „Zurück zur Präsenz!“? Miriam Hansen stellt deutlich fest: „Niemand strebt ernsthaft eine komplett virtuelle Lehre an, auch nicht diejenigen, die in der Anwendung digitaler Tools und der Nutzung von Lernplattformen erfahren sind.“ Auch Ullrich Grimm-Allio, Teamleiter in der Medientechnik des HRZ, betont: „Niemand will die Uni zu einer Fernuni umbauen!“ Er sieht aber zugleich auch gewisse „Zusatzeffekte“, die im Zuge des Lockdowns entstanden sind. Viel wurde in die IT-Infrastruktur der Universität investiert, um den erhöhten Anforderungen nachzukommen. „Ich gehe davon aus, dass wir auch nach einer Rückkehr zur Präsenz-Normalität, wann auch immer diese wieder möglich sein wird, die Technik nicht wieder runterfahren.“

Erfahrungen aus dem »Ausnahmesemester«: Lehrende stärken Interaktion und Feedback

Wie haben Lehrende das vergangene Sommersemester, das nicht zuletzt wegen des plötzlichen Wechsels in den Digitalmodus als „Ausnahmesemester“ gesehen wurde, empfunden? Wie fühlen sie sich für das kommende Wintersemester vorbereitet, wo und in welcher Form vermissen sie die direkte Interaktion mit ihren Studierenden?

Dr. Guido Woldering ist Lektor in der Japanologie und für Japanischkurse für Anfänger und Fortgeschrittene zuständig. „Ich war ehrlich gesagt erst durch die Pandemie dazu gezwungen, eigenes Lehrmaterial zu produzieren, vorher hatte ich mich mit vorhandenem E-Learning-Material begnügt. Und ich muss sagen: Ich bin ziemlich begeistert von den Tools, zum Beispiel von der Lernbar und den Learning Apps.“ Woldering sieht große Vorteile der digitalen Seminarsitzung gegenüber einer in Präsenz: Die Teilnehmenden erarbeiten sich zum Beispiel gemeinsam schwierige japanische Schriftzeichen, ohne dass jemand Angst haben muss, etwas
nicht zu können, bloßgestellt zu werden. „Ich möchte nicht auf Präsenzunterricht verzichten, aber man muss sagen, dass es für viele Studierende auch eine Erleichterung darstellt, auf die lange Anreise zu verzichten. Und in der synchronen Lehre kann man eine große Distanz wirklich überwinden: Ich erinnere mich an ein Seminar, da saß eine Teilnehmerin in Bejing, die andere in Lima – die waren wegen Corona nicht weggekommen, hat aber gut geklappt.“

Auch Dr. Ulrike Zoch, als Wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt in der Lehre am Institut für Afrikanistik angesiedelt, ist vom Verlauf des digitalen Sommersemesters wider Erwarten sehr angenehm überrascht. Daher bereitet es ihr auch kein Kopfzerbrechen, auch im Wintersemester ihre Seminare komplett virtuell durchzuführen, sie schränkt aber ein: „Ich denke, dass man im Sommersemester noch einen kleinen Bonus bei den Studierenden hatte, denn man musste halt völlig aus dem Stand den Seminarbetrieb in den virtuellen Modus überführen.“ Aber auch sie kann wie Guido Woldering dem plötzlichen Einstieg in die digitale Lehre viel abgewinnen: „Ich habe ein paar Entdeckungen im Digitalen gemacht, die ich auch weiterentwickeln werde, wenn wir wieder in die Präsenzlehre zurückkehren können. Meine Sprache ist eine Tonsprache, da kann man sehr gut Audios einsetzen, die ein eigenständiges Hörtraining ermöglichen.“ Digitale Lehre bedeutet für sie, dass man die eigenen didaktischen Konzepte überdenkt. Nach ihrer Erfahrung kommt es bei den Studierenden nicht gut an, wenn Dozierende Formate der Präsenzlehre einfach als Videokonferenz durchführen. Sie bevorzugt daher die asynchrone Bereitstellung von Lehrmaterialien in Form von beispielsweise Erklärvideos und interaktiven Aufgaben, weil die Teilnehmenden eines Seminars dadurch zeitunabhängig und ohne Probleme mit der Internetverbindung arbeiten können. Allerdings konzediert sie, dass Interaktion immer wieder von ihren Studierenden eingefordert werde; auf die wöchentliche Kontaktzeit in Videokonferenzen, die nicht für Lehrvorträge, sondern für die gemeinsame Bearbeitung von Übungen und die Besprechung von Fragen genutzt werden, wollten ihre Studierenden nicht verzichten.

Neue Wertschätzung der Präsenzzeit

Dass Interaktion und Feedback wichtige Bestandteile der Online-Lehre sind, kann auch Dr. Susanne Mannel, im Fachbereich Erziehungswissenschaften in der Lehrerbildung tätig, bestätigen. Sie hat vergangenen Sommersemester ihr Lehrangebot überwiegend asynchron über OLAT abgewickelt. „Wichtig war mir hierbei eine gute Lernbegleitung der Studierenden. Im Kurs habe ich aus diesem Grund sehr viel mit Beispielen gearbeitet, an denen sich die Studierenden orientieren konnten. Wenn beispielsweise die Aufgabe der Studierenden darin bestand, Beiträge im Forum zu verfassen und auf Beiträge der Kommilitonen*innen zu reagieren, dann habe ich zunächst selbst einen Beitrag ins Forum eingestellt und im Verlauf der Arbeit der Studierenden ebenfalls Studierendenbeiträge kommentiert. Hierdurch konnte ich meine Erwartungen an die Studierenden transparent machen und war zudem auch präsent im Kurs. Sehr viel Wert habe ich auch darauf gelegt, den Studierenden Feedback auf ihre „Lernprodukte“ zu geben. Und da bieten digitale Tools eine breite Palette an Möglichkeiten für individuelles und Gruppenfeedbacks bis hin zu Videofeedbacks. Gerade in überwiegend asynchronen Lernformaten ist aus Sicht von Susanne Mannel die eigene Präsenz der Dozierenden im Kurs besonders wichtig.

Alle drei Lehrenden empfinden offensichtlich den Einsatz digitaler Tools und Lernplattformen als bereichernd, betonen aber auch, dass die digitale Lehre deutlich arbeitsintensiver sein kann. Sie unterstreichen, dass sie bei einer Rückkehr zur Präsenzlehre die bisherigen Erfahrungen mit digitaler Lehre unbedingt mitnehmen möchten. „Ich würde mir wünschen, dass man sich in Zukunft viel bewusster überlegt, was man in der Präsenzlehre macht und was in der digitalen Lehre“, fasst Ulrike Zoch zusammen.

„Wir sehen eine zunehmende Wertschätzung von Präsenz in der Gesellschaft“, ergänzt Miriam Hansen. Für die universitäre Lehre leitet sie daraus ab, dass der Präsenzunterricht weniger von monologisierenden Vorträgen geprägt sein sollte, sondern stattdessen wieder die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden stärkt: „Flipped Classroom ist beispielsweise ein didaktisches Konzept, nach dem Lerninhalte zu Hause individuell erarbeitet werden, die Präsenzzeit für Diskussion und gemeinsame Arbeit vorgesehen ist. Hierdurch wird die wertvolle Präsenzzeit optimal genutzt. Über diese und ähnliche Konzepte sollten wir alle gemeinsam noch stärker nachdenken.“


Rocket.Chat
https://lehre-virtuell.uni-frankfurt.de/knowhow/rocket-chat
Zu den »virtuellen Schnitzeljagden«
https://de.actionbound.com
Lernbar
https://lehre-virtuell.uni-frankfurt.de/knowhow/lernbar
Learning Apps
https://learningapps.org


Weitere Artikel im UniReport 5.20 zum Thema Hybridsemester

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 5.20 des UniReport erschienen.

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