Wahrscheinlich wünschen sich die meisten viel weniger Bürokratie – weniger Papierkram, weniger Vorschriften und weniger Anträge zur Erteilung eines Antragsformulars. Doch würde mit einem Abbau des Verwaltungsapparats auch gleich das soziale Machtgefälle weniger werden, oder braucht es, im Gegenteil, eine starke Administration, damit die Schwachen zu ihrem Recht kommen? Auch darum geht es in dem Gespräch zwischen David Graeber, Anthropologe an der London School of Economics und Autor des aktuellen Buches „Bürokratie – Die Utopie der Regeln“, und Axel Honneth, Sozialphilosoph an der Goethe-Universität und der Columbia-University, Direktor des Instituts für Sozialforschung Frankfurt sowie Mitglied des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, der diese Diskussion ausrichtet. Sie findet am Mittwoch, 6. April, um 19.30 Uhr in der Frankfurter Zentralbibliothek statt.
„Dynamics of the Administered World – On the Diagnostic and Normative Relevance of a Contemporary Critique of Bureaucracy“, so lautet der Titel der öffentlichen Veranstaltung in der Zentralbibliothek der Stadtbücherei (Hasengasse 4, 60311 Frankfurt am Main).Sie findet in englischer Sprache statt, der Eintritt ist frei, eine Registrierung nicht erforderlich. Die Moderation liegt in den Händen von Rebecca Caroline Schmidt, Geschäftsführerin des geistes- und sozialwissenschaftlichen Exzellenzclusters mit Sitz an der Goethe-Universität. Das Buch David Graebers, das dem Gespräch mit Axel Honneth als Anlass und Ausgangspunkt dient, ist jetzt in deutscher Übersetzung erschienen. Die Originalausgabe aus dem Jahr 2015 heißt „The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy“.
David Graeber gilt als „Vater“ und „Galionsfigur“ der Occupy-Bewegung.Er ist Autor des Buches „Inside Occupy“ und des internationalen Bestsellers „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“. Diese Studie fand vor allem in Deutschland höchstes Lob, so auch beim damaligen FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, der Graeber einen „der führenden Köpfe seines Faches“ nannte. Mit seinem neuen Buch will der Anthropologe nach eigener Aussage ein „längst überfälliges Gespräch in Gang setzen“ über eine zeitgemäße, „linke Bürokratiekritik“. Dafür gelte es zunächst, mit dem vorherrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnis aufzuräumen, nach dem die sogenannte Deregulierung und Ausdehnung von Märkten vermeintlich zum Abbau von Bürokratie geführt hätte: Das Gegenteil sei der Fall, nur habe uns die vorherrschende neoliberale Ideologie blind gemacht für diese Realität.
Um die Dynamiken der Bürokratisierung in den Blick zu bekommen, skizziert Graeber einen analytischen Rahmen, in dem Gewalt, Technologieentwicklung, Finanzialisierung, die Transformationen der Arbeitswelt sowie die Verschmelzung von Öffentlichem und Privatem in ihren systematischen Zusammenhängen erkennbar werden. Graebers Essay lässt sich dabei auch als Versuch der Aktualisierung eines ‚klassischen’ Topos der Kritischen Theorie verstehen – der Kritik der verwalteten Welt (Adorno) und des eindimensionalen Menschen (Marcuse) – deren gegenwärtige Bedeutung auch von seinem Gesprächspartner Axel Honneth immer wieder hervorgehoben wird, so auch in seinem Aufsatz „Pathologien der Vernunft“, enthalten in dem gleichnamigen Band mit dem Untertitel „Geschichte und Gegenwart der kritischen Theorie“.
Stärker als Graeber betont Honneth in seiner kritischenTheorie der Gesellschaft jedoch auch die zentrale Bedeutung, die Institutionen wie dem modernen Recht für die Entwicklung subjektiver Autonomie zukommt. Der von ihm geprägte normative Schlüsselbegriff der Sozialen Freiheit soll sich nicht gegen Institutionen richten, sondern vielmehr in diesen verwirklicht werden. Andererseits warnt auch Honneth vor zunehmender Bürokratisierung und mit dieser einhergehenden Pathologien. Wenn die mit Deregulierung und Sozialstaatsabbau versprochenen Freiheitsgewinne gleichzeitig neue Formen intensivierter sozialer Kontrolle mit sich bringen, könnte es sich um eine weitere Variante der normativen Paradoxien des modernen Kapitalismus handeln.
Wie also sind die Dynamiken der verwalteten Welt in der heutigen Zeit analytisch und normativ zu verstehen? Leben wir wirklich, wie Graeber behauptet, in einer Zeit der zunehmend totalen Bürokratisierung? Neben diesen zentralen Fragen stellen sich für das Gespräch vor allem auch die folgenden: Unterscheidet sich die moderne Bürokratie von der verwalteten Welt des 19. Jahrhunderts? Wie lässt sich ihre Beharrlichkeit und Verbreitung erklären? Was bedeutet Bürokratie für Beziehungen der Anerkennung, für soziale Gerechtigkeit und Freiheit? Und wären nicht-bürokratische Formen der Vergesellschaftung in pluralen und komplexen Gesellschaften wirklich möglich und wünschenswert?
Bevor David Graeber nach London ging, lehrte der gebürtige US-Amerikaner bis zum Jahr 2007 als Anthropologe in Yale. Zu seinen auf Deutsch erhältlichen Büchern gehört auch „Direkte Aktion. Ein Handbuch“ (2013). Die jüngsten Veröffentlichungen Axel Honneths umfassen „Das Recht der Freiheit“ (2011) und „Die Idee des Sozialismus“ (2015). Für „Die Idee des Sozialismus“ wurde Honneth der Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2015 zugesprochen. Die Preisverleihung findet am 18. April 2016 in Wien statt.