Er fotografierte schöne Modells, teure Autos und Uhren. Bis die Geschichte seines Volkes ihn einholte. Überlebende des Holocaust zu porträtieren, ist für Yuri Dojc zum Lebensthema geworden.
Yuri Dojc war Sommerstudent in Cambridge, als Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 den Prager Frühling beendeten. Er blieb im Ausland, wurde ein international gefragter Fotograf und reiste nur noch in die Slowakei, um seine Eltern zu besuchen. Mit der Vergangenheit seiner Eltern, beide Überlebende des Holocaust, wollte er nichts zu tun haben.
Dass die Vergangenheit ihn schließlich doch einholte, ist einer Reihe außergewöhnlicher Zufälle zu verdanken. „Das meiste ist so unwahrscheinlich, dass man dahinter einen Plan vermuten könnte“, sagt Dojc lächelnd. Seine Augen sind von vielen kleinen Lachfalten umgeben, aber sie haben viel Trauriges gesehen. Nach 20 Jahren an diesem Projekt ist er erstaunt, wie die Zeugnisse, die er mit seiner Kamera festhält, ihm immer wieder neue Kontakte und Quellen erschließen. Seine Ausstellung „Last Folio“ wird inzwischen in vielen Ländern weltweit gezeigt.
Das wichtigste Foto der Ausstellung, die am 25. Januar im Foyer des PA Gebäudes auf dem Campus Westend eröffnet wurde, ist für Yuri Dojc das Bild seines Vaters. Er hat es Weihnachten 1996, zwei Wochen vor dem Tod des Vaters aufgenommen. Das schwarz-weiß Foto zeigt einen alten Mann mit schmalem Gesicht, hoher Stirn, tief liegenden Augen, hohlwangig. Die großen Ohren, eine starke, gerade Nase und der breite Mund lassen vermuten, dass dieses Gesicht einmal voller gewesen ist. Vor dem Mann steht, unscharf im Vordergrund, ein siebenarmiger Leuchter mit brennenden Kerzen.
„Ich saß meinem Vater gegenüber und fragte ihn: ‚Haben wir nicht gerade Hannukah?‘ Er griff wortlos hinter sich und stellte den brennenden Leuchter auf den Tisch. Diesen Moment habe ich mit meiner Kamera festgehalten. Zufällig hatte ich an dem Tag einen lichtempfindlichen Film darin“, erinnert sich Yui Dojc.
Bei der Beerdigung seines Vaters lernte er eine alte Dame kennen, die ihn durch ihn Handeln und ihre Persönlichkeit stark beeindruckte. Selbst eine Holocaust-Überlebende, bestand ihr Lebensinhalt darin, andere Überlebende zu besuchen, ihnen Kleinigkeiten mitzubringen und einige Stunden bei ihnen zu sitzen. „Sie war alleinstehend und hatte selbst nicht viel“, sagt Dojc und zeigt auf das Bild einer gepflegten, schlanken Frau mit dunklem Kurzhaarschnitt in einem weißen Kleid, das mit seinem Faltenwurf im Ausschnitt an die Mode der Vorkriegsjahre erinnert. Dojc bat die Frau, sie bei diesen Besuchen begleiten zu dürfen.
„Die Menschen waren froh, dass sich jemand für ihre Geschichte interessierte. Sie wollten der nächsten Generation davon erzählen“, sagt Dojc. „Dabei war niemand verbittert – sie waren ja die Glücklichen, die überlebt hatten.“ Die meisten Menschen, deren Porträts im Foyer des PA Gebäudes zu sehen sind, leben heute nicht mehr. Dojc hätte die Fotos auch nicht gern zu deren Lebzeiten gezeigt, denn oft wusste in der näheren Umgebung niemand von der Vergangenheit dieser Menschen. Daran wollte er nicht rühren – aus Angst, es könnten ihnen daraus Nachteile entstehen.
„Wir geraten tiefer und tiefer in die Vergangenheit“, sagt der Fotograf, und schließt damit die Filmemacherin Katya Krausova ein. Die beiden lernten sich 2005 bei einem Treffen exilierter Slowaken in Bratislava kennen. Dort wurden seine Fotos an die Wand projiziert, aber Katya Krausova schaute nicht hin. Auch sie, eine erfolgreiche Filmemacherin, die seit Jahren in London lebte, wollte sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen. Dann blickte sie zufällig in die Richtung der Projektion, um sich ein Glas zu holen und wollte sofort wissen: „Wer hat diese Fotos gemacht?“
Als sie Yuri vorschlug, einen Kurzfilm über die Geschichten der Überlebenden zu drehen, war sie nicht die Erste. Doch kurze Zeit später hatte sie tatsächlich Geld aufgetrieben. Fünf Monate, nach dem ersten Treffen brachen die beiden in die Slowakei auf. „Es war fast so, als hätten die Menschen darauf gewartet, ihre Geschichte zu erzählen. Es gibt ja auch kaum noch Zeitgenossen, mit denen sie darüber sprechen können“, sagt Katya Krausowa.
Währen der Reise taten sich dann immer neue Quellen auf. „Eines Tages waren wir in einer kleinen Gemeinde im Osten der Slowakei bei einer Filmaufnahme, als es an die Tür klopfte und der Besucher sagte, er müsse uns unbedingt etwas zeigen. Katya wies ihn ab. Wir hätten nur ein knappes Budget. Doch ich sagte: `Gib ihm doch eine Chance‘. Am nächsten Tag holte er uns früh im Hotel ab und führte uns in ein verlassenes Schulgebäude. Dort fanden wir die Bücher. Und ich fing an, Bücher und Schriftrollen wie Überlebende zu porträtieren“, sagt Yuri Dojc. „Die Menschen, denen sie gehörten, sind vergessen. Dies ist vielleicht der einzige Weg, an sie zu erinnern“, sagt der Fotograf.
1942 wurde die Hälfte der Bevölkerung des kleinen Ortes deportiert. „Wir haben in den Büchern Stempel mit den Namen der Besitzer gefunden, aber auch Notizen und Bemerkungen der Schüler, die uns einen Blick in das Alltagsleben öffnen. So gab es in dem Ort ein Geschäft für exotische Süßigkeiten“, sagt Katya Krausova. Wiederum durch einen unwahrscheinlichen Zufall fand sie später unter den vielen hundert Büchern und Fragmenten, die sie noch an anderen Orten aufspürten, zwei besondere Bücher: Eines hatte Yuris Vater gehört, das andere seinem Großvater.
Die Fotos fangen ein, was Yuri Dojc fühlt, wenn er den fragilen Zeugnissen der Vergangenheit begegnet: „Ich bin traurig. Aber gleichzeitig sind diese Menschen in ihrer Gebrechlichkeit stark. Sie haben dem Tod getrotzt. Und auch im Verfall der Bücher liegt Schönheit, die ich in meinen Fotos einzufangen versuche. Sie sind wie ein Friedhof, aber gleichzeitig weiß ich: Man kann eine Kultur nicht zerstören, solange es nachfolgende Generationen gibt, die sich an sie erinnern.“
https://aktuelles.uni-frankfurt.de/event/ausstellung-last-folio-spuren-juedischen-lebens-in-der-slowakei/