Diplomatie als Storytelling: Der ukrainische Botschafter zu Besuch an der Goethe-Universität

Der neue ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev reist derzeit durch Deutschland. Dabei hat er bei der Goethe-Universität Station gemacht. Sein Herzensanliegen: mit Studierenden zu diskutieren.

Der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev war zu Besuch an der Goethe-Universität.

Er schlägt bewusst einen leiseren Ton an als sein Vorgänger, der es mit provokanten Einwürfen in Deutschland zu zwiespältiger Prominenz gebracht hat: Der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev, seit Oktober letzten Jahres im Amt, will Vertrauen gewinnen und Menschen erreichen, um Solidarität für sein Land einzuwerben. „Es gibt keine Rede“, erteilt er gleich zu Anfang großen Worten eine Absage. Argumente für die Unterstützung der Ukraine könne er nur finden, wenn er etwa auch die Zweifel und Ängste der Deutschen anhöre und seine Diplomatie von Geschichten erzähle. Doch nimmt er gleich Stellung zu den „Wagenknechts und Schwarzers dieser Welt“: „Auch unsere Soldaten wollen den Frieden, wir aber müssen darum kämpfen. Wir haben keine Wahl.“

Die Bühne für den Austausch stellte die Goethe-Universität aus Solidarität mit der Ukraine gern zur Verfügung, wie Universitätspräsident Prof. Dr. Enrico Schleiff bei seiner Begrüßung betonte. 1000 vom russischen Angriffskrieg betroffene geflüchtete Schüler*innen aus der Ukraine, so Schleiff, hätten an der Goethe-Universität im vergangenen Jahr virtuell ihren Test für den Hochschulzugang absolviert. 223 Studierende mit ukrainischer Staatsangehörigkeit und etliche Wissenschaftler*innen lernen, forschen und lehren inzwischen an der Goethe-Universität, auch unterstützt durch den eigens aufgelegten Goethe Ukraine Fonds. Etliche von ihnen sind am Donnerstag gemeinsam mit Studierenden der Politikwissenschaften, Weltwirtschaft und des Völkerrechts beim Podiumsgespräch mit dem ukrainischen Botschafter dabei; moderiert wird die Diskussion von Tobias Wille, Professor für Politikwissenschaft, im Gespräch begleitet wird er von seiner Fachkollegin Lisbeth Zimmermann.

Botschafter Oleksii Makeiev auf dem Podium mit Prof. Lisbeth Zimmermann und Prof. Tobias Wille. Beide sind Politikwissenschaftler*innen an der Goethe-Universität.

Wie, so Willes Ausgangsfrage, könne man sich die Situation der ukrainischen Universitäten vorstellen? Anstelle von Zahlen und Fakten berichtet Makeiev von seinem Besuch einer ukrainischen Hochschule: Studierende müssten bei Flugalarm die Schutzbunker aufsuchen. Mehrmals am Tag.

Moderne, zeitgemäße Diplomatie sei Storytelling: Diesem von ihm genannten Prinzip folgt der ukrainische Botschafter auch, wenn es darum geht, die Fragen der rund 120 anwesenden Studierenden bei der Hybridveranstaltung zu beantworten – ein Herzensanliegen, für das er sich eine halbe Stunde länger Zeit nimmt als geplant. Es sind vor allem Ukrainer*innen sowie junge Menschen aus angrenzenden Ländern wie Rumänien, die dankbar darüber sind, Fragen stellen zu können, auf nahezu perfektem Deutsch oder auf Englisch. Und auch ihre Fragen sind Ausdruck eines persönlichen Storytellings, enthalten Verweise auf Flucht, Familienschicksale, Neuanfang. Was sie denn als Wissenschaftler*innen gegen die mächtige Propaganda Russlands tun könnten, ist mehreren jungen Menschen ein Anliegen. „Sagen Sie die Wahrheit, erzählen Sie ihre persönliche Geschichte“, empfiehlt Makeiev. Besser noch: Jede und jeder der Geflüchteten solle ihre und seine Geschichte erzählen. „Wir haben eine Million Botschafter*innen in Deutschland.“

Immer wieder dreht es sich bei den Fragen und Antworten um Brüche und Bruchstücke menschlicher Schicksale und um die Schwierigkeit, sie überhaupt zu erzählen – auch die große Geschichte des eigenen Landes. Wie man die ukrainische Geschichte bewahren könne, fragte eine junge Wissenschaftlerin besorgt, und weist darauf hin, dass man hier in Deutschland nur wenig in Erfahrung bringen könne, die eigene Historie immer wieder in Gestalt der russischen Geschichte auftauche, während materielle Quellen gerade in ukrainischen Museen zerstört würden. Deutschland und andere Länder seien dabei, Museumsgüter zu sichern, antwortet Madeiev. Und mit der Einordnung Holodomors („Mord durch Hunger“, so bezeichnet der ukrainische Begriff die Hungersnot, der rund 4 Millionen Ukrainer*innen in den Jahren 1931 bis 1933 zum Opfer fielen, die Red.) als Völkermord durch den Deutschen Bundestag sei ein wichtiger Beitrag zur Wahrnehmung der ukrainischen Geschichte geleistet. Keinen Zweifel lässt der ukrainische Botschafter auch an der sicherheitsstiftenden Rolle der Europäischen Union. Ob man sich der russischen Einflussnahme auf Moldau bewusst und was dagegen zu tun sei, fragt ein Student. „Es gibt nichts Erfolgreicheres als die EU“, sagt Madeiev – und ergänzt „unless you are a British citizen“. Osteuropa, so die ironisch vermittelte Botschaft, weiß ein vereintes Europa weitaus mehr zu schätzen als manches seiner Mitglieder. Und dass sich mit der Ukraine durchaus kein rückständiges Land um den Beitritt bewirbt, macht ein weiterer humorvoller Hinweis deutlich: Einer seiner Freunde, so der Botschafter, lehre aus dem Schützengraben heraus an der Universität. Warum es in ukrainischen Schützengräben Internet gäbe und in Berlin mitunter nicht, sei etwas, das er gerade zu verstehen lerne.

Viele Fragen und mehr noch Madeievs Antworten sind von der konkreten Alltagsrealität des Krieges geprägt: Warum nicht Lehrende und junge Menschen die Ukraine zum Studium verlassen könnten, fragt eine ukrainische Medizinstudentin. Man sei um Sonderregelungen bemüht, so Madeiev; „aber das Militär bestimmt“, formuliert er knapp. „Wir brauchen Männer und Frauen, die kämpfen können. Unsere Zukunft liegt in ihren Händen.“

Von der Sehnsucht nach einer solchen, auch zweifelhaften Zukunft zeugen andere Fragen: Welche Berufe in der Ukraine gebraucht würden, wenn der Krieg zu Ende sei („Alle.“); und ob er daran glaube, fragt ein weiterer Student im Exil, dass es jemals eine demokratische Ukraine ohne Oligarchen geben könne? Gerade habe das ukrainische Außenministerium die Stellen von Botschafter*innen in asiatischen und afrikanischen Ländern offen ausgeschrieben, antwortet Madeiev. Er selbst habe auf diese Position 29 Jahre gewartet; in der heutigen Ukraine könne man sich auf diesen Posten bewerben.

Yuliia Kotvytska stellte das Ausstellungs-Projekt „Unissued Diplomas“ vor.

Die eine Frage, die allen anderen zugrunde liegt, wurde an diesem Vormittag allerdings nicht gestellt: wie diese Zukunft erreicht werden, wie es zum Frieden kommen könne. Vielmehr führten die letzten Minuten der Veranstaltung noch einmal mitten hinein in die bittere Realität des Krieges, als die junge Ukrainerin Yuliia Kotvytska die Ausstellung “Unissued Diplomas Project” vorstellte: Das Projekt zeigt exemplarisch 35 fiktive Abschlusszeugnisse und Fotos von ukrainischen Studierenden und jungen Menschen, die bei Angriffen der russischen Armee ums Leben gekommen sind. Es sind Dokumente unvollendeter Lebensentwürfe und nicht gelebter Studienziele– und der Versuch, sie in Geschichten anzudeuten. Die Geschichte zur 36. Urkunde fehlt. Die Studentin starb gemeinsam mit ihrer Familie – weshalb niemand mehr von ihrem Leben und ihren Träumen erzählen kann.

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