Die Linguistikprofessorin Petra Schulz hat auf der Frankfurter Buchmesse die Bekanntgabe des neuen „Jugendwort des Jahres“ sprachwissenschaftlich begleitet.
UniReport: Frau Prof. Schulz, haben Sie in der letzten Zeit schon jemanden das Wort „Aura“ verwenden gehört?
Petra Schulz: Das ist eine gute Frage. Ich habe tatsächlich in einem Zeitungsartikel gelesen: „Da hat sich aber jemand minus Aura abgeholt.“ Ich denke, das war eher ironisch gemeint. In meinem familiären Umfeld habe ich die Auskunft bekommen, dass „Aura“ ein Wort sei, das im Alter von 13 bis 15 verwendet werde. Aber schon jenseits der 15 versteht man das Wort wahrscheinlich anders als Sie und ich. Die Besonderheit dabei: Wenn einem ein Missgeschick passiert, kann man es negativ verwenden. Wenn jemand beispielsweise stolpert und hinfällt, lautet der Kommentar: „Das waren jetzt minus 500 Aura.“ Ursprünglich stammt das Wort aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Lufthauch“. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse wurde bei der Präsentation des Wortes mit Erstaunen vermerkt, dass es sich nicht um ein englisches Wort handelt. Glaubt man allerdings einigen Internetquellen, hat die aktuelle Verbreitung ihren Ursprung darin, dass ein amerikanischer Sportjournalist über einen englischen Fußballer geschrieben hat: „His mistakes can be dismissed because, basically, he has an aura.“
Außerhalb des jugendsprachlichen Kontextes wurde „Aura“ aber auch schon verwendet, oder?
Ja, das trifft aber für relativ viele dieser Jugendwörter zu. Was man wissen sollte: Das Jugendwort des Jahres wird von einem Verlag, von Langenscheidt Pons, gekürt. Die Regeln dafür sind vor wenigen Jahren verändert worden. Früher war eine Jury dafür zuständig. Dann wurde der Vorwurf laut, dass „Gammelfleischparty“, „Merkeln“ oder „Babo“ nicht wirklich repräsentativ seien. Mittlerweile werden die Vorschläge im Rahmen einer Onlinebefragung eingeholt. Laut Verlag beteiligen sich Jugendliche in einem sechsstelligen Bereich an der Befragung; da das Alter ja nicht überprüft wird, kann letztlich nicht sichergestellt werden, ob wirklich nur Jugendliche zwischen 10 und 20 Jahren abstimmen. Interessant war in diesem Jahr Platz drei: das Wort „Schere“. Das Wort ist ein Beispiel dafür, dass viele der Jugendlichen, die auf der Onlineplattform abgestimmt haben, offenbar auch im Gaming-Bereich unterwegs sind. Denn dort liegt der Ursprung von „Schere“. In einer Gaming-Show hat offenbar jemand, anstatt zu sagen „oh, ich hab einen Fehler gemacht“, die Schere eines stilisierten Krebses hochgehoben. Aus dem englischen „claws“ wurde daraus dann „Schere“ im Deutschen, als Ausdruck dafür, dass man einen Fehler gemacht hat. Eine recht komplizierte Entstehung, daher rechne ich damit, dass das Wort eher wieder schnell verschwinden wird.
„Goofy“ war der letztjährige Spitzenreiter. Es handelt sich dabei auch nicht gerade um etwas Neues, sondern um eine recht betagte Comicfigur.
Ja, ein Wort aus den 1930er-Jahren. Das Besondere aus linguistischer Sicht ist, dass man es im Englischen aufgrund des „y“ am Ende auch wunderbar als Adjektiv benutzen kann. Und im Deutschen kann man es flektieren und mit der richtigen Endung versehen. In einer Filmkritik hieß es zum Beispiel: „Er bringt seine goofige Art durch seine Gestik gut rüber.“ Das ist eigentlich ein schöner kreativer Prozess. Übrigens ist goofy im Englischen kein Ausdruck der Jugendsprache.
„Cringe“ hat seit seiner Erwähnung eine besondere Verwendung gefunden: Woran könnte das liegen?
Ich würde sagen: „Cringe“ ist eindeutig ein Wort, das eine lexikalische Lücke wunderbar füllt. „To cringe“ ist im Englischen ein Verb, es bedeutet zusammenzucken oder erschaudern. Das finde ich wirklich beeindruckend, weil das Wort damit tatsächlich auch eine körperliche Reaktion ausdrückt, weil sich jemand anders danebenbenimmt oder sich peinlich entblößt. Das ist ein Bedeutungsaspekt, den das „Fremdschämen“ nicht hat, zudem ist „cringe“ auch viel kürzer. Ich glaube, dass „cringe“ bleiben wird.
Durch die mediale Aufmerksamkeit verwenden das die Älteren dann aber auch, oder? Dadurch bleibt es dann im Wortschatz erhalten.
Meine Hypothese wäre eher, ein Wort schafft es dann, sich dauerhaft im Wortschatz zu etablieren, wenn es eine lexikalische Lücke füllt und wenn es ökonomischer ist, dieses Wort zu benutzen als ein anderes. Und natürlich, wenn es genügend Gelegenheiten dazu gibt, in mehr als einer kleinen Alterskohorte, nämlich der 13- bis 15-Jährigen. Was der Verlag Langenscheidt Pons wahrscheinlich nicht so gerne hören dürfte: In dem Moment, in dem ein Jugendwort gekürt ist, ist es natürlich schon out. Eine Grundfunktion von Jugendwörtern ist ja, sich damit von anderen abzugrenzen. Zuerst einmal von den Eltern, von Älteren, aber auch von anderen Altersgleichen. Es wird zum Teil der sozialen Identität. Man weiß so, dass man zueinandergehört; so wie man eine bestimmte Jacke trägt und eine andere nicht, spricht man auch in einer bestimmten Art und Weise. Ich wurde auf der Buchmesse auch gefragt, warum es keine Seniorenwörter gebe, ob man nicht das Seniorenwort des Jahres küren könnte. Meine Antwort war, dass das sehr unwahrscheinlich ist. Senioren haben es nicht mehr nötig, ihre Identität zu finden und sich abzugrenzen: Sie haben eine Identität. Natürlich gibt es aber Wörter, die Ältere benutzen, wie zum Beispiel „Wählscheibe“, die 13-Jährige vermutlich nicht mehr kennen werden.
Oder Telefonzelle, Reklame.
Ja, richtig. Bei der Diskussion um das Jugendwort schwingt häufig ja auch ein allgemeines Jammern über den Sprachverfall bei Jugendlichen mit. Aber Sprache wandelt sich, ob das einem gefällt oder nicht. Wir reden heute nicht mehr so wie zur Goethezeit. Dabei ist unsere Grammatik relativ stabil, das ist gut erforscht. Dagegen sind Wörter, je nachdem, welche Konzepte es zu benennen gilt, ein bisschen flexibler. Jedenfalls ist die landläufige Vermutung, dass es immer mehr Anglizismen im Deutschen gebe, nicht richtig. Laut des Deutschen Fremdwörterbuchs des IDS Mannheim, das dort auch Wortneuschöpfungen zwischen 1990 und 2019 erfasst, stammt gerade einmal ein Drittel davon aus dem Englischen, zwei Drittel aus dem Deutschen. Miterfasst werden auch Neuschöpfungen wie „Dieselaffäre“, „Merkeln“ oder jetzt sicher auch „Scholz-O-Mat“. Die öffentliche Wahrnehmung ist im Hinblick auf Neologismen etwas verzerrt. Ein anderes Beispiel für Sprachwandel sind Ausdrücke, die so sehr an die Eigenheiten des Deutschen angepasst wurden, dass sich Sprachpuristen darüber aufregen, dass da die falsche Grammatik eigentlich dahinter ist. Sagen Sie zum Beispiel „das macht Sinn“?
Ich denke schon. Es müsste eigentlich „das ergibt Sinn“ heißen, wie der Satiriker Max Goldt schon sehr lange beklagt.
Ja, es kommt vom englischen „it makes sense“. Ein neueres Beispiel wäre „ich bin fein damit“. Das deutsche Adjektiv „fein“ hat mit dem Amerikanischen „fine“ in „I’m fine with that“ im Grunde wenig gemeinsam. Aber jetzt scheint das deutsche „fein“ in diesem Zusammenhang eine Bedeutungsnuance hinzugewonnen zu haben – und dabei kein Adjektiv mehr zu sein. Unser Sprachsystem ist unglaublich gut darin, Wörter und manchmal eben auch Strukturen aus anderen Sprachen zu übernehmen und zu integrieren. So gut, dass man dies nach mehreren Jahrzehnten oder Jahrhunderten sowieso nicht mehr merkt. Denken Sie an „Streik“, das vom Englischen „strike“ stammt. Das heißt, der heutige Wortschatz des Deutschen ist, wie die Wortschätze aller anderen Sprachen auch, sehr vielfältig und wurde von verschiedensten Sprachen beeinflusst. Im Deutschen gibt es außer germanischen auch lateinische, griechische und arabische Einflüsse.
Sie waren als Expertin bereits zum zweiten Mal zur Vorstellung des Jugendwortes auf der Buchmesse eingeladen. Was ist denn für eine Sprachwissenschaftlerin so interessant an dem Jugendwort?
Ich habe den Eindruck, dass Jugendwörter, so wie beispielsweise auch das Gendern, Teilbereiche der Sprache darstellen, zu dem alle eine Meinung haben und das alle anspricht. Das freut mich als Sprachwissenschaftlerin natürlich. Eigentlich forsche ich zum Spracherwerb bei jüngeren Kindern. Ich finde aber, dass man auch das Thema Jugendwort mit linguistischer Expertise unterfüttern sollte. Es ist auch ein schönes Beispiel, an dem man erklären kann, wie Sprache funktioniert, was Wörter ausdrücken und vieles mehr.
Lässt sich sprachwissenschaftlich eigentlich genau benennen, was zur Jugendsprache gehört?
Das prägende Element von Jugendsprache ist vor allem der Wortschatz sowie bestimmte Eigenschaften in der Grammatik und Diskurskultur, die sich jedoch nicht so einfach beschreiben lassen. Deswegen trifft man mit dem Jugendwort-Wettbewerb schon die richtige Ebene. Durch unseren Wortschatz können wir Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausdrücken. Sprachverwendung hat immer auch mit Kreativität zu tun. Das praktizieren die Jugendlichen, wenn sie „Aura“ jetzt mit diesem Zusatz verwenden („Minus-Aura“). Im Rahmen meiner Forschung untersuche ich die Sprache von Kindern im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren. Wenn sich Kinder den Wortschatz einer Sprache erobern, dann erfinden sie auch Wörter. Beispielsweise sagt ein Kind im Alter von zwei Jahren „stoffen“. In dem Kontext würde man verstehen, was gemeint ist: Das Kind möchte Stoff auf eine Oberfläche kleben. Das ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie aus einem Nomen mittels der Endung -en richtig der Infinitiv gebildet wird. Dieses Wort wird es zwar nie zum Jugendwort des Jahres schaffen, weil es dafür keine große lexikalische Lücke gibt. Ein Kind im Alter von zwei Jahren hätte auch gar nicht die Macht, ein solches Wort zu verbreiten, denn das hängt natürlich von der Peergroup ab. Deswegen sind die Jugendlichen so gute Verbreiter.
Jugendwörter seit 2010
2024 Aura – bezieht sich auf die persönliche Ausstrahlung oder den Status, wird oft scherzhaft verwendet
2023 goofy – tollpatschige, alberne Person oder Verhaltensweise; tollpatschig
2022 smash – etwas mit jemandem anfangen
2021 cringe – peinlich, zum Fremdschämen
2020 lost – ahnungslos, verwirrt
2019 [kein Jugendwort]
2018 Ehrenmann/Ehrenfrau – guter Mensch
2017 I bims – Ich bin’s
2016 fly sein – besonders abgehen
2015 Smombie – Zusammensetzung aus Smartphone und Zombie: Personen, die beim Gehen immer aufs Handy schauen und dadurch nichts mehr mitbekommen
2014 Läuft bei dir – Gut gemacht! Du hast es drauf! Cool!
2013 Babo – Boss, Chef:in
2012 YOLO – You only live once
2011 Swag – Coolheit, Lässigkeit
2010 Niveaulimbo – sinnlose Gespräche, bei denen das Niveau stetig sinkt
Quelle: https://www.langenscheidt.com/jugendwort-des-jahres