Ein neuer Test soll sprachliche Fähigkeiten bei mehrsprachigen Kindern richtig einordnen helfen
Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, können sich in ihrer Sprachentwicklung von anderen Kindern unterscheiden. Selbst für gut geschulte Fachkräfte ist es oft eine Herausforderung, zu beurteilen, ob ein mehrsprachiges Kind sprachlich seinem Alter entsprechend entwickelt ist oder nicht. Das Projekt SPEAK soll dazu beitragen, dass Sprachentwicklungsstörungen künftig besser erkannt werden.

Foto: Fotorismus für IDeA
Über die Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder gibt es viele Vorurteile: Oft wird angenommen, dass der frühe Erwerb von zwei oder mehr Sprachen eine Art kognitive Überlastung darstellt oder dass mehrsprachige Kinder die Sprachen nicht sicher voneinander trennen könnten. Auf diese Weise würde keine Sprache »richtig« erlernt, mehrsprachige Kinder entwickelten häufiger als einsprachige eine Sprachentwicklungsstörung – lauten landläufige Schlussfolgerungen. Solche falschen Annahmen beruhen unter anderem darauf, dass Mehrsprachige zwischen ihren Sprachen hin- und herwechseln. Dieses als »Code-Mixing« bezeichnete Phänomen ist jedoch kein Zeichen sprachlicher Defizite – ganz im Gegenteil. Es ist vielmehr ein Beleg für besondere sprachliche Kompetenzen; berücksichtigt das »Code-Mixing« doch die Grammatik der jeweiligen Sprache und kann sogar mit höheren kognitiven Fähigkeiten einhergehen.
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
- Bei mehrsprachigen Kindern stellt die korrekte Diagnose einer Sprachentwicklungsstörung eine große Herausforderung dar. Noch immer fehlen geeignete Tests im Deutschen und für die Herkunftssprachen.
- Daher gibt es eine hohe Rate an Fehldiagnosen, die zulasten der Kinder und der Gesellschaft gehen.
- Der neue Sprachtest TEBIK 4-8 des Verbundprojekts SPEAK trägt dazu bei, Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern besser als bisher zu erkennen. Getestet werden Phonologie, Wortschatz, Grammatik und Erzählen.
- Die Projektgruppe an der Goethe-Universität ist für den Bereich »Phonologie« zuständig. Ein neuartiger Kunstwortnachsprechtest ermöglicht es, wissenschaftsbasiert und zuverlässig zwischen mehrsprachigen Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen einerseits und mit einer unauffälligen Entwicklung andererseits zu unterscheiden, unabhängig von deren Spracherfahrung im Deutschen.
Mehrsprachige Erwerbssituationen
Richtig ist jedoch, dass sich mehrsprachige Kinder in ihrer Sprachentwicklung von gleichaltrigen einsprachigen Kindern unterscheiden können, da der Spracherwerb unter anderen Bedingungen erfolgt. Aber auch innerhalb der Gruppe der mehrsprachigen Kinder gibt es Unterschiede: Manche Kinder wachsen von Geburt an mit zwei Sprachen auf, durchlaufen also einen simultan-bilingualen Spracherwerb. Andere wiederum kommen erst in Kita oder Schule mit einer weiteren Sprache (L2) in Kontakt, erleben also einen sukzessiv-bilingualen Spracherwerb. Diese weitere Sprache ist typischerweise die Umgebungssprache, in Deutschland also Deutsch. Es liegt auf der Hand, dass das Alter des Kindes beim Erwerbsbeginn der weiteren Sprache einen erheblichen Einfluss auf den Entwicklungsstand in dieser Sprache hat. Bei simultan-bilingualen Kindern bestehen oft geringe Unterschiede zu einsprachigen Kindern. Beginnt der Erwerb der L2 jedoch erst mit Eintritt in die Kita oder in die Schule, wirken die Kinder aufgrund der geringeren Spracherfahrung in der Zweitsprache gegenüber einsprachigen Kindern verzögert. Mit etwas Zeit und bei systematischem Kontakt zur L2, gegebenenfalls unterstützt durch Sprachförderung, wird dieser anfängliche Entwicklungsrückstand aufgeholt. Die vermeintlichen Auffälligkeiten in der L2 sind temporär und stellen kein Risiko für die weitere Sprachentwicklung dar.
Die Förderung dieser Kinder fällt in den Zuständigkeitsbereich des Bildungssystems. Davon abzugrenzen sind therapiebedürftige Sprachentwicklungsstörungen (SES), die in die Zuständigkeit des Gesundheitssystems fallen. Oft liegt einer solchen Störung eine Beeinträchtigung zugrunde, beispielsweise eine Hörstörung oder eine verminderte Intelligenz. Bei 7 bis 10 Prozent der Kinder eines Jahrgangs tritt jedoch eine SES ohne erkennbare primäre Beeinträchtigung auf. Diese Art der SES hat vermutlich eine genetische Ursache und ist besonders schwierig zu diagnostizieren. Mehrsprachigkeit ist nicht die Ursache für eine SES und verstärkt auch nicht den Schweregrad der Störung. Entgegen einer landläufigen Meinung wächst sich die Störung nicht aus; vielmehr summieren sich die sprachlichen Defizite über die Zeit.
Kinder mit einer SES sind in der Sprachentwicklung deutlich verzögert. Die Eltern dieser Kinder berichten besonders oft von einem verspäteten Einstieg in den Spracherwerb und von einer Häufung von Sprachauffälligkeiten in der Familie (Grimm & Schulz, 2014). Im weiteren Spracherwerb haben diese Kinder vor allem Schwierigkeiten mit der Grammatik, die von Einschränkungen im Wortschatz oder in der Phonologie begleitet sein können und sich auch auf das Erzählen auswirken. Da die Störung die angeborene Fähigkeit zum Spracherwerb betrifft, äußert sie sich bei mehrsprachigen Kindern in allen zu erwerbenden Sprachen. Deshalb ist es wichtig, den Sprachentwicklungsstand in beiden Sprachen zu erfassen und auf diese Weise zuverlässige Hinweise für die Diagnostik zu erhalten: Ist das Kind nur in einer Sprache auffällig, besteht Förder-, jedoch kein Therapiebedarf; ist es in beiden Sprachen auffällig, spricht dies für eine therapiebedürftige Sprachentwicklungsstörung.
Herausforderung Sprachdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern
Was in der Theorie einfach klingt, stellt pädagogische, medizinische und sprachtherapeutische Fachkräfte vor eine große Aufgabe. Die Erfassung beider Sprachen ist in der Praxis kaum systematisch umsetzbar, denn nur für wenige der in Frankfurt gesprochenen Sprachen – dem städtischen Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) zufolge sind es mehr als 200 – stehen überhaupt geeignete Sprachtests zur Verfügung. Zudem fehlen Fachkräfte mit Expertise in den verschiedenen Erstsprachen. Eine für alle Kinder faire Erfassung der Erstsprache erfordert daher andere Wege als eine direkte Testung des Kindes. Aber auch für die Untersuchung der Fähigkeiten in der L2 Deutsch existieren nur wenige Sprachtests, die für mehrsprachige Kinder geeignet sind (beispielsweise die Linguistische Sprachstandserfassung Deutsch als Zweitsprache – LiSe-DaZ). Häufig nutzen Fachkräfte selbstentwickelte Protokolle oder Beobachtungsbögen, die keine Vergleichbarkeit gewährleisten und nicht objektiv sind, oder sie greifen auf Tests zurück, die für einsprachige Kinder entwickelt wurden (Voet Cornelli, 2022). Die darin vorausgesetzten Normen für einsprachige Altersgenossen können von mehrsprachigen Kindern aufgrund ihrer sprachlichen und kulturellen Diversität meist nicht erfüllt werden, auch ohne dass eine Sprachstörung vorläge. Die Folge sind einerseits Überdiagnosen, die ohne Notwendigkeit Ressourcen binden, andererseits aber auch Unterdiagnosen, bei denen notwendige Förder- oder Therapiemaßnahmen unterbleiben. Für die betroffenen Kinder aber ziehen solche Fehldiagnosen oft negative Folgen für die psychische Gesundheit, das Sozialverhalten und den Bildungsweg nach sich. Deshalb sind eine zuverlässige Diagnose und eine möglichst frühzeitige Intervention so wichtig.
Das Projekt SPEAK: Eine Lösung aus dem diagnostischen Dilemma
Dazu soll das Projekt SPEAK beitragen, das seit Oktober 2023 vom damaligen Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird und in dessen Rahmen eine neuartige »Testbatterie« für mehrsprachige Kinder normiert und anschließend unter dem Namen TEBIK 4-8 (Test für bilinguale Kinder im Alter von 4 bis 8 Jahren) veröffentlicht werden soll. Am Projekt beteiligt sind neben der Projektgruppe an der Goethe-Universität, die von Angela Grimm geleitet wird, Natalia Gagarina vom Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin, Anna-Lena Scherger von der Technischen Universität Dortmund und Tanja Rinker von der Katholischen Universität Eichstätt.
Fachbegriffe Testverfahren
Standardisiertes Testverfahren
enthält genaue Anweisungen zur Durchführung und Auswertung des Tests und zur Interpretation der Ergebnisse. Standardisierte Tests müssen die Testgütekriterien erfüllen.
Normierung
Eine möglichst repräsentative Gruppe bearbeitet einen Test. Aus den Ergebnissen werden Normwerte ermittelt, die dann als Vergleich für zukünftig Getestete verwendet werden können. So kann man beispielsweise die Sprachfähigkeiten von Kindern einordnen: Entwickeln sie sich gemessen an ihrem Alter und ihren Erwerbsbedingungen unauffällig oder haben sie größere Schwierigkeiten als Kinder im vergleichbaren Alter und mit vergleichbaren Erwerbsbedingungen?
Die Testbatterie erfasst die Fähigkeiten in der nichtdeutschen Erstsprache indirekt mit einem standardisierten Elternfragebogen. Ein verspäteter Einstieg in den Spracherwerb oder Sorgen der Eltern über eine altersentsprechende Entwicklung deuten auf Schwierigkeiten in dieser Sprache hin; eine familiäre Häufung von Sprachauffälligkeiten kann ein Hinweis für eine genetisch bedingte SES sein. Diese Kriterien werden zur Diagnose der Erstsprache herangezogen. Die Fähigkeiten im Deutschen hingegen werden direkt getestet mit den Skalen »Phonologie«, »Wortschatz«, »Grammatik« und »Erzählen«. Diese Skalen nutzen Phänomene, die im Deutschen auf eine Entwicklungsstörung hinweisen. Im Bereich Grammatik sind dies beispielsweise Verzögerungen im Erwerb von Nebensätzen oder bei der Subjekt-Verb-Kongruenz (die Kinder rennen, Malte rennt); im Bereich Phonologie beispielsweise anhaltende Schwierigkeiten, Konsonantenverbindungen wie /fl/ in ›Flasche‹ auszusprechen.
Am Standort Frankfurt ist das Teilprojekt »Phonologie« angesiedelt. Das Teilprojekt ist dafür zuständig, den Kunstwortnachsprechtest LITMUS-QU-NWR (die Abkürzung für »Language Impairment Testing in Multilingual Settings – Quasi-universal nonword repetition task«) zu normieren.
Ein Kunstwortnachsprechtest für bilinguale Kinder
Kunstwörter sind Lautketten, die in einer Sprache möglich wären, jedoch nicht existieren (wie pilu im Deutschen). In der Sprachdiagnostik soll das Nachsprechen von Kunstwörtern üblicherweise die Leistung des phonologischen Arbeitsgedächtnisses testen, deshalb variiert die Anzahl der abgefragten Silben. Mit steigender Silbenzahl nehmen die Fehler beim Nachsprechen der Kunstwörter zu. Aber auch die phonologische Komplexität der Kunstwörter beeinflusst die Nachsprechleistung: Mehr Fehler treten auf, wenn in den Kunstwörtern Konsonantenverbindungen wie /∫p/ in ›spielen‹ oder /fl/ in ›Flasche‹ vorkommen. Da Kinder mit Sprachentwicklungsstörung hier oft besondere Schwierigkeiten haben, bilden Konsonantenverbindungen ein valides Merkmal zur Differenzierung zwischen SES und sprachunauffälliger Entwicklung.
Wenn unbekannte Wörter oder Kunstwörter richtig nachgesprochen werden sollen, müssen die Kinder die Laute und Lautverbindungen kennen, die darin enthalten sind. Unbekannte Lautverbindungen, wie sie beispielsweise für deutsche Sprecher im polnischen Wort źdźbło ›Grashalm‹ vorkommen, sind eine typische Fehlerquelle auch für sprachunauffällige Kinder. Um Fehldiagnosen aufgrund mangelnder Erfahrung mit dem Lautsystem des Deutschen zu vermeiden, verwendet der Kunstwortnachsprechtest LITMUS-QU-NWR Laute, die in den Sprachen der Welt häufig vorkommen: die Vokale /a/, /i/ und /u/ und die Konsonanten /p/, /k/, /f/ und /l/. Verbindungen mit /s/ und /∫/ (ausgesprochen wie ›sch‹) erhöhen zusätzlich den Schwierigkeitsgrad. Diese Laute wurden zu maximal ein- bis dreisilbigen Kunstwörtern verbunden, wobei gezielt Konsonantenverbindungen eingebaut wurden wie in piklafu oder splukif. Auch wenn die so entstandenen Kunstwörter sehr ungewöhnlich klingen, zeigen bisherige Studien, dass dieser Weg erfolgreich ist. So unterscheiden sich acht- bis zehnjährige sprachunauffällige mehrsprachige und einsprachige Kinder nicht in der Anzahl korrekt nachgesprochener Kunstwörter, während das richtige Nachsprechen der Kunstwörter sowohl einsprachigen als auch mehrsprachigen Kindern mit SES signifikant seltener gelingt (Grimm, 2022). Zudem untermauert die Beobachtung, dass sich die ein- und mehrsprachigen Kinder mit SES nicht in der Anzahl korrekt nachgesprochener Kunstwörter unterscheiden, die Annahme, dass der Schweregrad der SES durch die Mehrsprachigkeit nicht verstärkt wird. Eine noch unveröffentlichte Studie mit fünf- bis siebenjährigen Kindern bestätigt die Ergebnisse (Grimm et al., eingereicht).
Die Autorinnen

Angela Grimm hat Patholinguistik studiert und im Fach Allgemeine Sprachwissenschaft promoviert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind der ungestörte und gestörte Erst- und Zweitspracherwerb bei Kindern, insbesondere im Bereich der Phonologie, die Sprachentwicklungsdiagnostik sowie Beziehungen zwischen dem Sprach- und Schriftspracherwerb. Nach Stationen in Groningen, Potsdam, Frankfurt und Osnabrück ist sie seit 2018 Professorin für Sprachdidaktik und Sprachwissenschaft des Neuhochdeutschen an der Goethe-Universität.
a.grimm@em.uni-frankfurt.de

Katharina Bleher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt SPEAK am Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache an der Goethe-Universität. Zu ihren Interessensgebieten gehören unter anderem Ausspracherwerb und -didaktik, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Bildungsgerechtigkeit.
bleher@em.uni-frankfurt.de

Annika Heitzmann ist ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt SPEAK am Institut für Psycholinguistik und Didaktik der deutschen Sprache an der Goethe-Universität. Sie interessiert sich für die kindliche Sprachentwicklung, für die Diagnostik und Therapie von entwicklungsbedingten Sprachstörungen sowie für Mehrsprachigkeit.
a.heitzmann@em.uni-frankfurt.de
Interesse an der Teilnahme?
Aktuell werden noch Studienteilnehmer gesucht. Eltern von mehrsprachigen Kindern im Alter von vier bis acht Jahren können sich direkt an Annika Heitzmann oder Katharina Bleher wenden.
Kontakt für Interessierte
Annika Heitzmann: a.heitzmann@em.uni-frankfurt.de
Katharina Bleher: bleher@em.uni-frankfurt.de
Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2025: Sprache, wir verstehen uns!










