Sprachliche Bildung durch Latein und Sprachgeschichte
Was ist der Unterschied zwischen Freedom und Liberty? Was verrät das Nebeneinander solcher Begriffe über die Geschichte nicht nur dieser einen Sprache, sondern auch über die eines ganzen Kontinents? Ein Blick auf Europas sprachhistorische Wurzeln kann viel kulturelles Wissen vermitteln und das Fremdsprachenlernen erleichtern.

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Sprache als Spiegel der Geschichte
Etymologisch ist in Liberty unschwer das französische Wort la Liberté zu erkennen, aber beide beziehen sich zudem auf die lateinische Wortwurzel libertas, mit der zugleich die römische Freiheitsgöttin benannt wird – auch dieses Detail ist nicht unwesentlich, denn darauf ist das weibliche Geschlecht der mythischen Personifikation in der römischen Tradition allegorischer Darstellungen zurückzuführen. Spuren beider Sprachen trägt das Englische aufgrund seiner historischen Entwicklung in sich, auch wenn es ursprünglich zur germanischen Sprachfamilie zählt. Wie freedom und liberty stehen einander quer durch alle Wortarten bisweilen nuancierend verwendete Synonyme gegenüber, die einerseits auf altenglische Etyma zurückgehen und an denen sich andererseits sprachliche Einflüsse des Französischen beziehungsweise Lateinischen ablesen lassen: fall vs. autumn, mankind vs. humanity, trade vs. commerce, unbelievable vs. incredible, to go in vs. to enter, to shut vs. to close usw. Erst im 14. Jahrhundert setzt sich die englische Sprache allmählich gegenüber dem Französischen durch, das seit der Eroberungsschlacht von Hastings 1066 für vier Jahrhunderte Hofsprache war – Wörter wie cherry, hostel und beef stammen aus dieser mittelenglischen Epoche unter normannischer Herrschaft. Wie diese Beispiele sind bis heute rund 60 Prozent des englischen Wortschatzes romanisch-lateinischen Ursprungs, und nur rund 20 Prozent gehen auf das Altenglische selbst zurück. Der französische Linguist Bernard Cerquiglini zieht daraus den nicht ganz ernst gemeinten Schluss, die englische Sprache gebe es gar nicht; es handele sich dabei nur um schlecht ausgesprochenes Französisch: »La langue anglaise n’existe pas. C’est du français mal prononcé« (s. auch Literaturverzeichnis).
Die Beispiele zeigen, wie produktiv der Sprachkontakt im Laufe der Geschichte gewirkt hat. Tatsächlich war der sprachliche Einfluss nicht auf die lexikalische Ebene (also die Wortebene) beschränkt; auch in anderen sprachlichen Strukturen gibt es Interessantes zu entdecken. Wer sich mit Sprachgeschichte befasst, öffnet seinen Blick für kulturhistorische Entdeckungen, die weit mehr als sprachliche Rückschlüsse zulassen.
Französisch – die Lingua franca des 17. Jahrhunderts
Besonders reich an Vernetzungen sind die romanischen Sprachen. Vom 17. Jahrhundert an tritt das Französische mit einem ausdrücklichen Universalitätsanspruch seinen Siegeszug als Lingua franca an, wird im Zuge der europäischen Kolonialisierungen zur Weltsprache. Seine globale Sonderstellung verliert es erst nach dem Ersten Weltkrieg: Der Friedensvertrag von Versailles war nicht mehr nur auf Französisch, sondern auch in englischer Sprache verfasst.
Ein Booster für den Fremdsprachenunterricht
Romanische Mehrsprachigkeit im Unterricht« – so kann man die Abkürzung »RMU« auch interpretieren. Unter diesem Namen wurde im Rahmen der RMU-Kooperation der Rhein-Main-Universitäten im Wintersemester 2024/25 gemeinsam mit der Universität Mainz ein Seminar angeboten, das sich mit Blick auf das Fremdsprachenlernen dem interlingualen Vergleich, der Sprachgeschichte und den lateinischen Ursprüngen der romanischen Sprachen widmete. Studierende der Lehramtsfächer Italienisch, Portugiesisch, Französisch, Spanisch und Latein der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Goethe-Universität Frankfurt trafen sich abwechselnd an beiden Standorten und analysierten interkomprehensive Strategien des Sprachenlernens und deren didaktisches Potenzial insbesondere für Leseverstehen, Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Sprachbewusstheit. Über das Lateinische wurden hierbei Einblicke in die europäische Sprach- und Kulturgeschichte gewonnen. Eine internationale Tagung rundete das Lehrangebot im Februar 2025 ab. Hier konnten die Studierenden auch Ergebnisse ihrer Analysen präsentieren und sich der Diskussion stellen. Die Kooperation zwischen Prof. Sylvia Thiele (Mainz) und Prof. Roland Ißler (Frankfurt) soll in den kommenden Jahren fortgesetzt werden; geplant ist unter anderem ein RMU-Zertifikat zur Mehrsprachigkeit.
Das Ansehen einer Sprache ist eng auch mit ihrer literarischen Bedeutung verknüpft. In England bildet sich mit Geoffrey Chaucer im 14. Jahrhundert eine eigene Literatursprache heraus, als die erste literarische Blütezeit in Frankreich längst überschritten ist: Erste Texte in französischer Sprache datieren aus dem 9. Jahrhundert; mit den Chansons de geste (Heldenepen) und dem höfischen Roman im Norden und der okzitanischen Dichtung der trobadors im Süden gab es im französischen Mittelalter bereits eine kulturelle Hochphase von europäischer Ausstrahlung. Zu Chaucers Zeiten beginnt im französischen Humanismus eine Phase des Sprachausbaus und der Relatinisierung, in der man an die traditionsreiche sprachliche Vergangenheit anknüpft. Neben durch Sprachwandel entstandene Erbwörter (la chose, froid, livrer, droit < lat. causa, frigidum, liberare, directu) treten gelehrte Entlehnungen (la cause, frigide, libérer, directum), die interlingual bis heute besonders leicht erschlossen werden können und oft mit sogenannten Internationalismen zusammenfallen.
Während sich zur selben Zeit etwa das Italienische orthographisch modernisiert und stärker phonemisch ausrichtet, also an der Aussprache orientiert, hält Frankreich an der konservativen etymologisierenden Schreibung fest, wie sie übrigens auch das Englische auszeichnet (to doubt < lat. dubitare). Modernisierungstendenzen gehen im Spanischen schon auf das 13. Jahrhundert unter Alfons dem Weisen zurück. Bis heute stehen sich zum Beispiel frz. la physique, l’ophthalmologue und ital. la fisica, l’oftalmologo bzw. span. la física, el oftalmólogo gegenüber. Die orthographische Komplexität – die französischen Grapheme au, aud, auds, ault, aulx, aut, auts, aux, eau, eaud, eaux, haut, hauts, ho, o, ô, od, ods, oh, os, ot und ots unterscheiden sich nur in der Schrift, nicht in der Aussprache – garantiert gleichwohl die erkennbare Zugehörigkeit des Französischen zur Familie der romanischen Sprachen.
Sprachwandel als Kontinuum
Wie die Sprachwissenschaft lehrt, ist Sprache ein dem dauerhaften Wandel unterworfenes Phänomen. Ein Menschenleben ist meist zu kurz, um diese Entwicklung deutlich wahrzunehmen; selbst Muttersprachlern wird sie allenfalls in Bereichen wie der Jugendsprache oder auch in Fachsprachen bewusst, die sich fortwährend dem technischen Fortschritt anpassen. Die Bedeutung des Sprachwandels ist jedoch nicht zu unterschätzen. Nicht nur bezüglich des Wortschatzes, sondern auch auf struktureller Ebene lohnt es sich, Fremdsprachen vergleichend zu studieren. Dass sich hier reflektierte Zugänge ergeben, wusste auch der Namenspatron der Frankfurter Universität: »Wer fremde Sprachen nicht kennt«, formulierte Goethe treffend, »weiß nichts von seiner eigenen.«
Die Kenntnis sprachgeschichtlicher Entwicklungen lässt sich mithin auch fremdsprachendidaktisch ausschöpfen. Sprachhistorische Erkenntnisbildung eröffnet Lernenden einer Fremdsprache tiefergehende Erklärungsansätze und kategoriale Einsichten in den Wandel formaler sprachlicher Strukturen in Orthographie und Phonologie, Morphologie und Syntax, Semantik und Wortbildung. Sie hat das Potenzial, den Zugang zur Gegenwartssprache zu erleichtern und trägt in hohem Maße zur Sprachbewusstheit bei.
Während die aktuellen Bildungsstandards diese Fähigkeit als Language Awareness geradezu einfordern, hat die durch sie mitbedingte curriculare Umstrukturierung paradoxerweise die historische Sprachwissenschaft von den universitären Lehrplänen verdrängt. Die Verbindung zur Gegenwartssprache scheint an Evidenz verloren zu haben, denn der Nutzen sprachgeschichtlicher Kenntnisse wird manchmal erst auf den zweiten Blick sichtbar. Deren Anteil hat sich in den modernen Philologien seit der Bologna-Reform stetig verringert. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach dem fremdsprachendidaktischen Potenzial von Sprachwandelerscheinungen und ihrer Relevanz für Unterricht und Lehrkräftebildung auch von bildungspolitischem Gewicht. Vergleichbar etwa mit dem Rechtfertigungsdruck, dem der Lateinunterricht immer wieder ausgesetzt ist – das Latinum wird als Studieneingangsvoraussetzung selbst von der Romanistik nicht mehr verlangt –, wird die Sprachgeschichte zunehmend in die Defensive gedrängt. Beide sind jedoch als Teil des europäischen Kulturerbes ein wichtiges Zeugnis kulturhistorischer Zusammenhänge und geben Aufschluss über die Vernetzung der Sprachen untereinander.
Sprachgeschichtliches Wissen trägt nicht nur dazu bei, die Entwicklung der einzelnen Sprachen und die von ihnen im Laufe der Zeit durchlaufenen Veränderungen zu verstehen, es hilft auch, den Wortschatz zu erweitern und das Verständnis von Fremdwörtern zu verbessern. Das Aufkommen von Französismen etwa oder die Konjunktur von Anglizismen in anderen europäischen Sprachen zeugen von der historischen Bedeutung der Stammländer in bestimmten Epochen der europäischen Geschichte und verraten bis heute viel über den Kulturtransfer, aus dem unsere europäische Identität sich speist. Sprachgeschichte und Kulturgeschichte sind eng verbunden, was ein tieferes Verständnis für kulturelle Kontexte ermöglicht (etwa die Namensherleitung der Wochentage und Monate in den europäischen Sprachen). Das Wissen um historische grammatische Veränderungen kann sogar dazu beitragen, aktuelle Regeln besser zu verstehen, nachzuvollziehen und sich eigenständig herzuleiten; entsprechende Kenntnisse erleichtern das Lesen und Verstehen nicht nur historischer Texte und verbessern das Verständnis moderner Sprachvielfalt.
Latein – von der Schönheit der alten Sprache

der Kirche San Lorenzo Maggiore): Auch die Sprachen Europas haben eine antike Grundlage. Foto: Wirestock Creators/Shutterstock
In engem Zusammenhang mit der Sprachgeschichte steht die lateinische Sprache als struktureller Ursprung und Grundlage vieler europäischer, nicht nur romanischer Sprachen. Kenntnisse der lateinischen Grammatik können das Verständnis für die Grammatik der neueren Sprachen erleichtern; nicht ohne Grund liefert das Lateinische auch eine Metasprache für die Auseinandersetzung mit der Grammatik selbst. Viele wissenschaftliche und fachsprachliche Begriffe und Fremdwörter sind über das Lateinische leicht ableitbar. Immer wieder wird vorgebracht, das Studium des Lateinischen fördere logisches Denken und analytische Fähigkeiten, die beim Erlernen anderer Sprachen hilfreich sind. Es lohnt sich aber durchaus auch um der Schönheit der Sprache selbst und ihrer literarischen Strahlkraft willen, Latein zu lernen. Die römische Literatur und Philosophie sind reich an Werken von bestechender Zeitlosigkeit, die nicht zufällig wiederum prägend für die modernen Literaturen waren. Die lateinische Sprache ermöglicht so eine tiefere Einsicht in das kulturelle Erbe Europas. Kulturhistorische Zusammenhänge werden im Lichte sprachlicher Strukturen oftmals geradezu erst erkennbar und verbinden die Gegenwart mit längst vergangenen Zeitebenen. Ohne weite Reisen anzutreten, sind uns die Spuren des antiken Roms auch dort verfügbar, wo es uns weniger bewusst ist: in unseren Sprachen. Treten uns Denkmäler aus Stein wie römische Aquädukte oder Amphitheater als architektonische Relikte der Römer vor Augen, so verfügen wir, ohne ständig daran zu denken, über sprachliche Monumente, die wir in unserem Wortschatz und unserem sprachlichen Wissen mit uns herumtragen.
Strukturwissen erleichtert das Sprachenlernen
Im Vergleich von Sprachen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar, die das Lernen neuer Sprachen erleichtern; Lernende können Kenntnisse aus zuvor gelernten Sprachen auf andere, ihnen noch fremde übertragen. Dies gilt nicht nur für grammatische Strukturen, die sich vergleichend oft leichter erschließen, sondern auch für den Wortschatz. Der Vergleich von Lautsystemen kann das Erlernen der Aussprache, aber auch die orthographische Beherrschung in neuen Sprachen verein-fachen: Im Wissen um die Einführung der Akzente in die französische Sprache durch humanistische Buchdrucker im 16. Jahrhundert offenbart zum Beispiel die oft als erratisch wahrgenommene Rechtschreibung plötzlich eine logische Systematik, ersetzt doch der accent circonflexe meist ein stummes -s- vor Vokal, das in anderen Sprachen erhalten geblieben ist (frz. la feste > la fête, ital. la festa, span. la fiesta, dt. Fest etc.; ebenso: l’hôtel, engl. hostel; la forêt, engl. forest, dt. Forst; frz. la guêpe, dt. Wespe). So kann das Wissen um sprachliche Familienähnlichkeiten das Lernen verwandter Sprachen deutlich erleichtern. Der Sprachvergleich fördert nicht zuletzt die interkulturelle Kommunikation und trägt zur Vermeidung von kulturbedingten Missverständnissen bei.
Fremdsprachenerwerb bedeutet Freiheit, indem er Grenzen und sprachliche Barrieren zu überwinden hilft. Die sprachliche Vielfalt ist ein Reichtum unserer Welt und steht uns bereit als ein (wortreicher) Schatz der europäischen Kulturgemeinschaft. »Mehrsprachigkeit bedeutet, daß unsere Gedanken nicht an einer bestimmten Sprache hängen, nicht an deren Worten kleben«, so drückt es der Linguist Mario Wandruszka aus. »Unsere Mehrsprachigkeit ist der sprachliche Spielraum unserer geistigen Freiheit.« Da ist es folgerichtig, dass Lady Liberty mit ihrem Namen darauf verweist und ihm alle Ehre macht, indem sie in aufklärerischer Haltung auch in aufgeregten Zeiten die Fackel hochhält.
Der Autor

Roland Ißler, Jahrgang 1977, ist seit Februar 2023 Professor für Romanistische Didaktik und transkulturelles Lernen mit dem Schwerpunkt Literaturdidaktik am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität. Er hat Romanistik, Französische, Italienische und Deutsche Philologie in Greifswald, Clermont-Ferrand, Münster und Bochum studiert und erhielt für seine an der Universität Bonn eingereichte Promotionsschrift zur Mythenrezeption in Frankreich, Italien und Spanien den Prix Germaine de Staël der Französischen Botschaft. An der Universität Bonn war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als Juniorprofessor bzw. Akademischer Rat für Romanische Literaturwissenschaft und Didaktik tätig. Vertretungsprofessuren führten ihn nach Bochum, Duisburg-Essen und schließlich Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte: Romanische Literaturwissenschaft, -theorie und -didaktik, kulturelle und ästhetische Bildung, Mehrsprachigkeit und Lehrkräftebildung. Er ist Leiter des Teilprojekts Romanistik im BMBF-Verbundprojekt ViFoNet (Videobasierte Fortbildungsmodule zum digital gestützten Unterrichten) mit KI- und Unterrichtsforschung.
issler@em.uni-frankfurt.de
Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2025: Sprache, wir verstehen uns!
Literatur
Cerquiglini, Bernard: La langue anglaise n’existe pas. C’est du français mal prononcé, Gallimard (folio, 704), Paris, 2024.
Grzega, Joachim: Europas Sprachen im Wandel der Zeit. Eine Entdeckungsreise, Stauffenburg, Tübingen, 2012.
Ißler, Roland: »Keine Angst vor dem accent circonflexe! Zum fremdsprachendidaktischen Potential von Sprachgeschichte und Sprachwandelerscheinungen im Fach Französisch. Ein Plädoyer für die Einheit von Fachwissenschaft und Fachdidaktik in der universitären Lehrerbildung«, in: Ißler, Roland/Kaenders, Rainer/Stomporowski, Stephan (Hrsg.): Fachkulturen in der Lehrerbildung weiterdenken, V&R unipress (Wissenschaft und Lehrerbildung, 8), Göttingen, 2022, S. 105-143.
Janson, Tore: Latein. Die Erfolgsgeschichte einer Sprache, ins Deutsche übertragen von Johannes Kramer, Buske, Hamburg, 2002.
Klabunde, Ralf/Mihatsch, Wiltrud/Dipper, Stefanie (Hrsg.): Linguistik im Sprachvergleich. Germanistik – Romanistik – Anglistik, Metzler, Berlin/Heidelberg, 2022.
Wandruszka, Mario: Die Mehrsprachigkeit des Menschen, Piper, München, 1979.










