Wenn die Sportwissenschaftlerin Karen Zentgraf darüber spricht, wie sie bei ihrer Forschung vorgeht, dann lässt das zwar auch an handfeste Dinge wie Trainingsschweiß und Leistungssteigerung denken – vor allem aber klingt es nach Cyberspace und Science-Fiction: In ihren Untersuchungen zur Individualisierung ist das Ziel, von einer Athletin oder einem Athleten möglichst viele Daten zu sammeln, um ein systemisches und multidisziplinäres Bild, einen „Avatar“ zu erstellen. Als Leiterin des Arbeitsbereichs ‚Bewegungs- und Trainingswissenschaft‘ sagt sie: „Statt auf Studien mit höchster Stichprobenzahl auszuwerten, erheben wir an einzelnen Athletinnen und Athleten möglichst viele Daten, um ein datengetriebenes Abbild der Person zu erhalten, um daran über Interventionen zu entscheiden.“

Mechanismen der Bewegungssteuerung
In ihren bewegungswissenschaftlichen Untersuchungen interessiert sich Zentgraf dafür, wie das Gehirn Bewegungen steuert und wie Menschen es schaffen, durch Bewegungen Effekte in ihrer Umwelt zu erzielen. „Mir geht es dabei sowohl um bewusst gesteuerte Handlungen als auch um automatisierte Bewegungen“, fügt sie hinzu. Zwar konzentriere sie sich auf Situationen, in denen Leistungssportlerinnen und -sportler agierten – sei es, dass Hand, Fuß, Schläger einen Ball oder Puck ins Tor beförderten, sei es, dass ein Tennisball unerreichbar ins gegnerische Feld geschlagen werde. Aber ihre Erkenntnisse seien genauso anzuwenden, wenn Otto Normalverbraucher seine Hand zum Lichtschalter bewege und seine Finger Druck ausübten, damit es im Zimmer hell werde, also auf grundlegende Mechanismen der Bewegungssteuerung.
Und auch in der Trainingswissenschaft kann Ottilie Normalverbraucherin von Zentgrafs Forschung profitieren, wenn sie ihr Training effizient gestalten und ihre körperliche Fitness nachhaltig optimieren will. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier allerdings der Leistungs-, wenn nicht gar Spitzensport. „Und zwar besonders von Frauen und Mädchen“, betont Zentgraf, „ähnlich wie die Medizin hat sich auch die Sportwissenschaft jahrzehntelang überwiegend mit männlichen Probanden beschäftigt“. Sie, Zentgraf, wolle dazu beitragen, das entstandene „Gender-Data-Gap“ zu schließen. Dazu berücksichtigt sie die Physiologie, beispielsweise den weiblichen Zyklus, genauso wie Ernährung, Anatomie und Biomechanik.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern begegnen Zentgraf auch, wenn sie sich psychosozialen Aspekten zuwendet: „Im deutschen Spitzensport ist uns überraschend häufig begegnet, dass sich Athletinnen ausgebrannt fühlen und sich in einer sogenannten Gratifikationskrise befinden“, sagt Zentgraf, „das bedeutet, dass sie Belohnungserleben und Aufwand nicht als balanciert wahrnehmen, was auch durch unsere Forschung als Burnout-Risikofaktor identifiziert wurde.“ Ein Faktor sei auch, dass sich insbesondere Athletinnen oft fremdbestimmt fühlten – beispielsweise Turnerinnen der deutschen Nationalmannschaft, die ihre Übungen samt Grätschen und Spreizsprüngen bis vor einigen Jahren in der vorgeschriebenen Wettkampfkleidung, kurzen und knappen Turnanzügen, präsentieren mussten, inzwischen aber lange Hosen tragen dürfen.
Erfolgreiche Sportlerin
Wenn Zentgraf Phänomene erforscht, die mit der Psyche von Leistungssportlerinnen und -sportlern zusammenhängen, kommt ihr zugute, dass sie die Welt des Wettkampfsports aus eigener Erfahrung kennt: Sie war deutsche Jugendmeisterin im leichtathletischen Siebenkampf und spielte in der Volleyball-Bundesliga. Aber nicht nur ihre eigene Sportkarriere kam und kommt ihr in der Sportwissenschaft zugute, sondern auch ihr erstes Studienfach: Zentgraf begann zunächst ein Medizinstudium und beschloss nach dem Physikum, sich parallel für Sportwissenschaft einzuschreiben: „Schon auf der Schule und während eines Sportstipendiums in den USA interessierte ich mich für biologische Prozesse im Menschen, da war im Prinzip klar, dass ich Medizin studieren würde. Zugleich kam ich ja aus dem Leistungssport, da war es naheliegend, dass ich mich auch für die Sportwissenschaft entschied“, berichtet Zentgraf.
Schon als sie Sportwissenschaft studierte, empfand sie sowohl ihr Medizinstudium als auch ihre eigene Sportkarriere als Gewinn für geeignete Forschungsfragen. Und auch jetzt ist ihre Herangehensweise an sportwissenschaftliche Themen stark von ihrem Hintergrund geprägt: „Wie kann ich Spitzensportlerinnen und -sportler noch besser dabei unterstützen, ihre Leistungen zu steigern, aber physisch und psychisch gesund zu bleiben? Da bieten wir evidenzbasierte Ansatzpunkte“, erläutert Zentgraf.
Nach denen sucht sie im Kooperationsprojekt „in:prove – Leistungsreserve Individualisierung“, zu dem sich ihr Arbeitsbereich und die Informatik der Goethe-Universität, die Justus-Liebig-Universität Gießen und die Deutsche Sporthochschule Köln zusammengeschlossen haben. Das Projekt, das seit 2021 läuft, wurde kürzlich um weitere drei Jahre bis 2028 verlängert: „Wir berücksichtigen, dass alle Spitzensportlerinnen und -sportler, die wir untersuchen, Individuen sind – sie bringen unterschiedliche motorische und kognitive Fähigkeiten mit, sie haben alle ihren eigenen psychosozialen Hintergrund, ihre Mikronährstoffe im Blut, ihr Erbgut und ihr Darmmikrobiom sind individuell aufgestellt“, sagt Zentgraf. Das Ziel sei, dass jedes Individuum seine sportliche Leistungsfähigkeit gesund und nachhaltig möglichst weit steigere. „Jede und jeder hat aber andere Leistungsreserven. Einigen hilft eine spezifische Trainingsanpassung, andere profitieren vom Training der kognitiven Flexibilität oder des Arbeitsgedächtnisses, einer Ernährungsoptimierung oder einem Wechsel der Trainingsgruppe.“ Für alle entwickeln Karen Zentgraf und ihr Team maßgeschneiderte Interventionen – mithilfe der „Avatare“.
Stefanie Hense











