Dr. Tobias Freimüller, stellvertretender Direktor des Fritz-Bauer-Instituts an der Goethe-Universität, hat gestern den Rosl und Paul Arnsberg-Preis der Stiftung Polytechnische Gesellschaft des Jahres 2019 erhalten. Mit der alle drei Jahre vergebenen Auszeichnung werden herausragende Forschungsarbeiten zur Geschichte der jüdischen Bürger Frankfurts gewürdigt.
Tobias Freimüller wurde mit dem Preis für seine Studie zur Geschichte jüdischen Lebens in Frankfurt nach 1945 gewürdigt, mit der er 2019 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften an der Goethe-Universität habilitiert worden ist. Das Buch erscheint im Frühjahr 2020 unter dem Titel „Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945-1990“ als erster Band der Reihe „Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust“ im Wallstein-Verlag.
„Die Arbeit zeichnet ein hochdifferenziertes Bild des komplexen Verhältnisses von Jüdinnen und Juden untereinander und zur nichtjüdischen deutschen Gesellschaft nach der Schoah“, lobte die Jury unter Vorsitz von Prof. Dr. Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums und Honorarprofessorin an der Goethe-Universität, ihre Wahl. Freimüllers Arbeit habe das Potenzial, zum Standardwerk zu werden.
Frankfurt am Main war vor 1933 die deutsche Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, ihre Jüdische Gemeinde war nach Berlin die zweitgrößte in Deutschland. Im Finanzwesen, in Bildung und Wissenschaft, aber auch in einer Vielzahl von Vereinen und Stiftungen prägten Juden die Stadt Frankfurt in besonderer Weise. Bei Kriegsende im Frühjahr 1945 war diese vielfältige Kultur durch die Verfolgung, Deportation und Ermordung der Juden völlig zerstört. Statt einstmals rund 30.000 jüdischen Frankfurterinnen und Frankfurtern hielten sich nur noch etwa 100 bis 200 in der zerstörten Stadt auf.
Zu den wenigen Überlebenden, aus deren Kreis die Jüdische Gemeinde schnell wieder gegründet wurde, kam eine große Zahl jüdischer „Displaced Persons“ (DP) hinzu, die aus Osteuropa geflohen waren und in dem amerikanischen Hauptquartier Frankfurt am Main einen ersten Fluchtpunkt ihres weiteren Lebens sahen. Von hier aus hofften sie, nach Amerika, nach Palästina oder in andere Länder ausreisen zu können. Da dieser Weg aber vorerst versperrt war, lebten tausende der jüdischen DPs einige Jahre in einem eilig errichteten Lager in Frankfurt-Zeilsheim. Gleichzeitig kehrten erste überlebende Frankfurter Jüdinnen und Juden aus dem Exil zurück, dazu ausdrücklich ermutigt von Oberbürgermeister Walter Kolb.
Tobias Freimüller zeichnet in seiner Habilitationsschrift nach, wie es in den folgenden Jahren gelang, allmählich wieder Institutionen und einen sozialen Raum für jüdisches Leben in Frankfurt zu etablieren. Die Stadt dient dabei einerseits als typisches Beispiel für die jüdische Nachkriegsgeschichte in der Bundesrepublik, als ein Ort, an dem wie unter einem Brennglas die Konfliktlagen jüdischer Nachkriegsgeschichte aufscheinen.
Aber Frankfurt war auch ein Sonderfall. Hier entstand unter dem Schutz der amerikanischen Besatzungsmacht rasch ein Netz jüdischer Institutionen und später eine intellektuelle Szene, deren Leuchtturm das aus dem Exil zurückgekehrte Institut für Sozialforschung war. Gleichwohl blieb das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Frankfurt besonders konfliktreich. Höhepunkte dieser Auseinandersetzungen waren die aufsehenerregende Blockade der Uraufführung des Theaterstücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder durch die Jüdische Gemeinde im Herbst 1985 und der Börneplatzkonflikt 1987.
Wo und in welcher Form existierte nach dem Ende des Nationalsozialismus noch ein lokales jüdisches Gedächtnis in Frankfurt, an das man anknüpfen konnte? Wie ging man mit noch erhaltenen jüdischen Erinnerungsorten in der Topographie der Stadt um? Wie gelang die Integration der nach Kriegsende aus Osteuropa geflohenen Holocaustüberlebenden und warum artikulierte sich gerade in Frankfurt die „zweite Generation“ von Jüdinnen und Juden seit den 1960er Jahren so vernehmlich?
Deutsch-jüdische Nachkriegsgeschichte erscheint am Frankfurter Beispiel als eine vielfältige Geschichte von Migration, Konflikt und intellektuellem Neubeginn, aus der sich in den 1980er Jahren schließlich ein neues jüdisches Selbstbewusstsein entwickelte.
Der Rosl und Paul Arnsberg-Preis der Stiftung Polytechnische Gesellschaft wurde 2008 ins Leben gerufen und wurde nun zum sechsten Mal vergeben. Er wird international ausgeschrieben und ist herausragenden Forschungen zur Geschichte des jüdischen Lebens in Frankfurt gewidmet. Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.
Informationen: Dr. Tobias Freimüller, Stellvertretender Direktor am Fritz-Bauer-Institut, An-Institut der Goethe-Universität, Campus Westend, Telefon 069/798 322-31, E-Mail freimueller@em.uni-frankfurt.de, Homepage www.fritz-bauer-institut.de