Drei neue Fellows am Forschungskolleg Humanwissenschaften werden eng mit der Forschungsgruppe „Democratic Vistas. Reflections on the Atlantic World“ zusammenarbeiten.
Dr. Gladys Kalichini ist Kunsthistorikerin und bildende Künstlerin aus Lusaka, Sambia. Sie hat an der Rhodes-Universität in Südafrika in Kunstgeschichte und visual culture promoviert. Kalichini analysiert die Sichtbarkeit von Frauen in den Artikulationen der Unabhängigkeitsbewegungen in afrikanischen Staaten. Sie untersucht die Art und Weise, wie sich (visuelle oder andere) Narrative der Staatenbildung, die mit Frauen in Sambia und Simbabwe verbunden sind, im Laufe der Zeit verändern. „Diese Verschiebungen in den Erzählungen oder Perspektiven, aus denen Frauen betrachtet werden, führen dazu, dass Frauen entweder mehr oder weniger sichtbar werden“, erklärt Kalichini.
Die Ergebnisse ihrer Forschung sollen die Komplexität der Bedingungen aufzeigen, unter denen Erzählungen über Frauen sichtbar werden oder verschwinden. „Mit Frauen assoziierte Narrative können demnach aufgrund mehrerer Faktoren mehr oder weniger unsichtbar werden, darunter unter anderem durch
- Definitionen – die Art und Weise, wie Begriffe wie ‚Freiheitskämpfer‘ entwickelt werden, schließt einige Tätigkeiten aus, die von einigen Frauen ausgeführt werden;
- die Pflege von Geschichte und Erinnerung an Stätten des kulturellen Erbes (Archive, Museen, Denkmäler, Gedenkstätten, öffentliche und nationale Gedenkveranstaltungen);
- die Menge der Materialien, die die Vergangenheit dokumentieren, wie Fotos und Videos
- das vorherrschende Befreiungsnarrativ;
- die Politik der Regierung;
- Kultur und soziale Traditionen.“
Eine ihrer theoretischen Annahmen für die Arbeit am Forschungskolleg sei, erklärt Kalichini, dass die Sichtbarkeit von Frauen in den Befreiungsnarrativen anderer afrikanischer Länder durch ähnliche Faktoren wie in Sambia und Simbabwe beeinflusst sein könnte.
Denkt sie, dass sich ihre Forschungsergebnisse auch auf Entwicklungen in anderen Kontinenten beziehen lassen? „Die mangelnde Sichtbarkeit von Frauen kann man als globales Problem bezeichnen. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass das Problem nicht überall dasselbe ist“, erklärt sie. Der Fall Deutschlands beispielsweise sei anders, weil es nie, wie afrikanische Länder, kolonisiert war. Dennoch sei der Weg hin zu einer Demokratie turbulent gewesen. Diese Geschichte werde, wie jede andere Geschichte auch, aus einer bestimmten Perspektive erzählt, in der Personen eine unterschiedlich große Bedeutung beigemessen werde. „Wir könnten auch an weiße und schwarze feministische Bewegungen im amerikanischen Kontext denken, die wiederum nicht nur in Afrika, sondern möglicherweise auch in Europa (Ost und West) und sogar in Asien Parallelen aufweisen.“
Die Zusammenarbeit mit Democratic Vistas sieht sie als vielversprechend an, gerade im Hinblick auf Demokratiekonzepte: „Demokratie ist kein statischer Begriff, sondern ein Konzept, das in der ganzen Welt vielfältige Bedeutungen hat. Offensichtlich ist es in einem philosophischen Sinn verwurzelt, der etwas bedeutet, aber seine Samen werden in verschiedenen Gegenden verbreitet und gepflanzt, die unterschiedlichen ‚Umweltbedingungen‘ unterliegen – dies ist eine Metapher, die ich verwende, um Demokratie und Freiheit im Rahmen meiner Arbeit zu erforschen.“
„Mein Aufenthalt am Forschungskolleg ist bisher gut verlaufen“, bilanziert Kalichini. Verschiedene Materialien, wie zum Beispiel Archivfotos, die sich auf Befreiungsbewegungen beziehen, werden von ihr gerade geordnet und analysiert. Sie möchte Vorstellungen von Nationenbildung und Erfahrungen mit Demokratie besser verstehen und gleichzeitig die Rolle von Frauen in diesem Kontext sichtbar machen. Der Austausch mit den anderen Forschenden am Kolleg ist für Kalichini sehr fruchtbar, gerade im Hinblick auf die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was der Begriff der Demokratie bedeutet und wie er in verschiedenen Kontexten durch unterschiedliche Perspektiven geprägt ist.
Die spanische Philosophin Dr. Belén Pueyo-Ibáñez, die an der Emory University in Atlanta promoviert hat, arbeitet an einem Buchprojekt mit dem Titel „Rationality in a Polarized Society: Erforschung der sozio-affektiven Voraussetzungen des kollektiven Diskurses“. Darin erörtert sie, dass es – wenngleich Reformen und Verbesserungen von Institutionen zentral für die Aufrechterhaltung und Stärkung der Demokratie sind – ebenso wichtig ist zu untersuchen, wie diese Reform- und Verbesserungsprozesse durch unsere diskursiven Praktiken geformt werden. Dabei gehe es nicht nur um die diskursiven Praktiken, die zwischen politischen und gesellschaftlichen Führern stattfinden, sondern auch um die zwischen Führern und Bürgern sowie zwischen den Bürgern untereinander. Selbst die scheinbar irrelevanten Gespräche, die wir alle mit Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen oder sogar völlig Fremden in den sozialen Medien führen, können einen großen Einfluss auf unsere Entscheidungen und Handlungen haben.
Wie Pueyo-Ibáñez sagt, ist es bei der Betrachtung dieser diskursiven Praktiken von entscheidender Bedeutung, die Qualität der Beziehung zwischen den Teilnehmern in Rechnung zu stellen: „Wie wir andere Personen, insbesondere Andersdenkende, wahrnehmen, ob wir sie als legitime Gesprächspartner betrachten, inwieweit wir uns für ihre Lebensumstände interessieren und ob wir bereit sind, ihre Forderungen zu berücksichtigen, kann diese Gespräche erheblich beeinflussen.“ Entscheidend sei es auch, deren emotionale Dimension zu berücksichtigen: „Als Teilnehmer an der Demokratie können wir nicht rein rational handeln – wobei Rationalität fälschlicherweise als frei von jeglicher emotionalen Komponente verstanden wird. Vielmehr wirken Vernunft und Emotionen gleichzeitig. Das Ziel besteht also nicht darin, unsere Gespräche von allen Emotionen zu befreien – was ohnehin unmöglich wäre –, sondern sorgfältig auszuwählen, auf welche Emotionen wir uns verlassen. Entgegen der allgemeinen Behauptung, dass man Polarisierung und demokratischem Niedergang nur durch eine rationalere Haltung entgegenwirken kann, behaupte ich, dass das, was unsere gefährdeten Demokratien am dringendsten brauchen, darin besteht, dass wir die Art und Weise überdenken, wie wir andere Menschen wahrnehmen und mit ihnen (insbesondere mit denen, die abweichende Werte und Überzeugungen vertreten) umgehen und dass wir konstruktivere Beziehungen zu ihnen pflegen.“
Der Forschungsschwerpunkt Democratic Vistas, in dessen Rahmen Pueyo-Ibáñez ihr Projekt entwickelt, konzentriert sich auf die Idee der Demokratie als fortlaufendes Experiment. Sie ist besonders daran interessiert, wie Polarisierung, Intoleranz und Autoritarismus die Entwicklung dieses Experiments behindern und gefährden. „Dieses Anliegen steht im Zentrum meiner Forschung in diesem Jahr. Damit möchte ich zu einem besseren Verständnis davon beitragen, was es bedeutet, demokratisch zu handeln.“ Am Kolleg freut sich Pueyo-Ibáñez, dass sie Teil einer internationalen und interdisziplinären Gemeinschaft von Forschern ist: „Es ist sehr lebendig, man findet viel Unterstützung. Ich kann mir keinen besseren Ort für meine Arbeit vorstellen.“
Dr. Philip Mills absolvierte ein Promotionsstudium am Royal Holloway College der University of London. Anschließend war er als Postdoktorand in Französischer Literatur an der Universität Lausanne beschäftigt, wo er auch Philosophie lehrte. „Poetic Forms of Life and Democracy“ lautet sein Forschungsthema am Kolleg. Den dafür zentralen Begriff der „Lebensform“ definiert Mills folgendermaßen: „Ich verstehe den Begriff der Lebensform im Sinne Wittgensteins, obwohl ich ihn auch mit anderen Traditionen in Verbindung bringe. Für Ludwig Wittgenstein sind Lebensformen der Hintergrund, vor dem sich unsere sprachlichen Praktiken abspielen. In diesem Zusammenhang und in Anlehnung an den französischen Linguisten Henri Meschonnic kann Poesie als die wechselseitige Transformation von Sprach- und Lebensformen betrachtet werden. Diese transformative Dimension ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der soziopolitischen Aspekte des Begriffs der Lebensform.“ Zeitgenössische Künstler und Dichter setzten sich immer expliziter mit sozialen und politischen Fragen auseinander, ihr Engagement werfe ein neues Licht auf den Begriff der Lebensform, so Mills. Ihre poetischen Praktiken entfernten sich vom romantischen Ideal der Poesie als losgelöst von den Angelegenheiten der alltäglichen Welt, aber selbst für die Romantiker sei die Poesie ein Versuch, einen Weg zu finden, auf Erden zu leben. „In meiner Forschung konzeptualisiere ich diese Verflechtung zwischen Sprachformen (Poetik) und Lebensweisen (Ethik) mit Hilfe des Begriffs der poetics, den einige zeitgenössische Dichter und Theoretiker verwendet haben.“
Frank Smiths „Guantanamo“ oder Franck Leibovicis und Julien Seroussis „Bogoro“ sind für ihn Beispiele für Werke französischer Dichter, die Auszüge aus offiziellen Berichten verwenden, um ein anderes Licht auf offizielle Diskurse zu werfen. In der nordamerikanischen Lyrik sei an NourbeSe Philips „Zong!“ zu denken oder, in anderer Weise, an Claudia Rankines Werke wie „Don’t Let Me Be Lonely, Citizen“ oder „Just Us“, in denen autobiografische Erfahrungen, Dokumente und Theorien miteinander verwoben werden. Speziell zum Begriff der Lebensform gebe Leibovici (des formes de vie) einen Überblick über zeitgenössische poetische und künstlerische Praktiken, die als Lebensformen verstanden werden.
Mills möchte in Democratic Vistas den Fokus auf die Überschneidung von Philosophie und Poesie einbringen. „Wie kann uns die Poesie helfen, alternative Lebensformen zu konzipieren, und wie verhalten sie sich zu Fragen der Demokratietheorie? Zu verstehen, wie Poesie Lebensformen transformieren kann, ist auch ein Versuch zu verstehen, wie Poesie uns helfen kann, Demokratie neu zu denken oder zumindest die Herausforderungen anzugehen, mit denen demokratische Lebensformen konfrontiert sind.“ Wie auch den beiden anderen neuen Fellows gefällt Mills der Aufenthalt am Kolleg sehr gut: „Der regelmäßige Kontakt mit meinen Kolleginnen und Kollegen schafft eine intellektuelle Atmosphäre, die mir neue Perspektiven für meine Forschung eröffnet.“
Mehr Infos
https://www.forschungskolleg-humanwissenschaften.de/index.php/fellows/present
https://www.forschungskolleg-humanwissenschaften.de/index.php/projects/democratic-vistas