Fragen an den Klimaforscher Nico Wunderling zu den Klimakipppunkten und zur Weltklimakonferenz in Belém

UniReport: Herr Wunderling, vor einigen Wochen wurde der „Global Tipping Points Report 2025“ vorgelegt, Sie waren mit Ihrer Forschung auch daran beteiligt. Wenn Sie sich als Forscher beschreiben sollten: Wie gehen Sie methodisch vor, wie kommen Sie zu Ihren Ergebnissen, welche Daten fließen da ein?
Nico Wunderling: Der Global Tipping Points Report 2025 ist ein umfassender wissenschaftlicher Sachstandsbericht, der untersucht, wie nahe zentrale Systeme des Erdklimas (tipping elements) an sogenannten Kipppunkten (tipping points) stehen. Außerdem zeigen wir im Global Tipping Points Report auf, wie mit Kippelementen politisch umgegangen werden kann und welche Maßnahmen der Vermeidung aber ggf. auch der Anpassung jetzt notwendig sind. Zuletzt beleuchten wir aber auch soziale Transformationsprozesse, die uns helfen können, möglichst schnell klimaneutral zu werden (social tipping points), z.B. im Bereich Verkehr oder Energieerzeugung. Methodisch analysieren wir im GTPR2025 Erdbeobachtungsdaten, Erdsystemmodellierungsstudien, Literatur-Reviews und Expert*inneneinschätzungen. Insgesamt handelt es sich um eine wissenschaftliche Synthese, die keine neuen Modelle entwickelt, sondern vorhandene Evidenz strukturiert und bewertet. Der GTPR2025 wurde von rund 160 Forschenden aus 23 Ländern und 87 Institutionen erstellt und am 13. Oktober 2025 veröffentlicht.
Der erste Kipppunkt eines Teilsystems des Klimasystems, nämlich der für die tropischen Korallenriffe, sei nun erreicht, sagt der Bericht unter anderem. Was bedeutet das für den Erhalt dieser einzigartigen Biotope? Ist eine Rettung überhaupt noch realistisch?
In der Tat haben neueste wissenschaftliche Erkenntnisse gezeigt, dass der Kipppunkt der tropischen Korallenriffe sehr wahrscheinlich zwischen 1.0-1.5°C liegt. Damit ist der Kipppunkt entweder bereits überschritten worden oder wir würden ihn sehr bald überschreiten, da wir aber auch 1.5°C globaler Erwärmung nicht mehr einhalten können, ohne mindestens zeitweise darüber zu liegen. Zur Einordnung: Neueste Studien lassen vermuten, dass bei 1.5°C circa 75% der tropischen Korallenriffe in große Schwierigkeiten geraten, bei 2.0°C globaler Erwärmung sind es 90-99%.
Eine Rettung vieler Korallenriffe ist daher mit zunehmenden marinen Hitzewellen sowie vermehrter Ozeanübersauerung damit äußerst schwierig geworden und nur eine drastische Reduktion der Emissionen und danach ein Zurückführen der globalen Erwärmung auf unter 1.5°C kann die Korallenriffe noch erhalten. Auswirkungen eines Verlusts der tropischen Korallenriffe wäre ein herber Rückschlag, da mehrere 10-100 Millionen Menschen entweder ganz oder teilweise von diesen oder dem damit zusammenhängenden Ökosystem abhängen.
Was wären die nächsten Klimakipppunkte, die dem Weltklima drohen? Bei welchen Klimaschutzmaßnahmen sehen Sie momentan die höchste Dringlichkeit, wo besteht besonderer Handlungsbedarf?
Einige der nächsten Kippelemente, deren Auslösen unbedingt vermieden werden muss, sind dann die Eisschilde auf Grönland und der Westantarktis (zusammen ca. 10m Meeresspiegelanstieg, wenn diese vollständig abschmelzen würden), die atlantische Umwälzzirkulation (AMOC; deutlich kältere Temperaturen in Europa) und auch der Amazonasregenwald, wo gerade noch die 30. Weltklimakonferenz COP30 stattfindet. Die kritischen Werte dieser Kippelemente beginnen ab 1.0°C und werden ab 1.5-2.0°C zu einer realen Gefahr, also wieder bei dem eigentlich beschlossenen Pariser Klimaabkommen.
Insbesondere beim Amazonasregenwald gibt es zudem eine doppelte Bedrohung, nicht nur durch den stattfindenden Klimawandel, sondern auch durch Abholzung des Regenwalds. Durch globale Erwärmung alleine wäre der Kipppunkt des Regenwalds im Amazonas bei 3-5°C, mit Abholzung (20-30%) sinkt der Kipppunkt allerdings auf Werte zwischen 1.5-2.0°C ab.
Zum Begriff des Klimakipppunktes: Der Klimakipppunkt benennt ja gewissermaßen etwas Endgültiges: Wenn eine Grenze in der Erwärmung einmal überschritten wird, kommt es zu unumkehrbaren Konsequenzen. Wäre das zutreffend beschrieben?
Der Begriff des Klimakipppunktes ist eigentlich etwas anders zu verstehen. Über dem Kipppunkt drehen sich die Feedbacks (Rückkopplungen) um und anstatt das System zu stabilisieren, destabilisieren sie das System. Ein kurzes Beispiel: Das Grönlandeisschild ist im Schnitt 2km hoch. Wenn man also von Meereshöhe auf den Eisschild steigt, sind an der Spitze des Eisschildes die Temperaturen etwa 14°C kälter als auf der Höhe des Meeresspiegels (0.7°C pro 100 Höhenmeter). Das heißt also, wenn die globale Erwärmung so weit getrieben wurde, dass auch auf der Spitze (in 2km Höhe) Schmelzen vorangetrieben wird und der Eisschild allein durch seine Schmelze an Höhe verliert, ist der Kipppunkt überschritten und bei keiner weiteren Handlung wird Grönland jetzt abschmelzen und umso schneller, je mehr es an Höhe verloren hat.
Allerdings hat man in dieser zugegebenermaßen recht langen Zeit (beim Eisschild mehrere hundert Jahre bis 1000 Jahre) des Abschmelzens noch die Chance die globale Temperatur wieder unter den Kipppunkt zu fahren und damit das Schmelzen doch noch zu stoppen bevor der Eisschild abgeschmolzen ist. Das nennt man einen sog. Overshoot. Diese sog. Overshoot-Szenarien sind übrigens auch die einzigen, mit denen es jetzt noch möglich sind, das 1.5°C doch noch am Ende des Jahrhunderts zu erreichen.
Was sind in dem Zusammenhang positive Kipppunkte?
Positive Kipppunkte sind soziale, technologische oder ökonomische Transformationsprozesse, die wir benötigen, um eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen. Beispiele dafür sind der Ausbau der erneuerbaren Energien, die im letzten Jahr einen neuen Rekord erlebt hat, aber auch elektrische Fahrzeuge, deren Neuzulassungen in Norwegen bereits über 95% ausmachen und auch in anderen Teilen Europas und der Welt neue Rekordmarktanteile gewinnen.
Diese sogenannten positiven Transformationen benötigen wir noch schneller und auch in noch weiteren Sektoren, damit Treibhausgasemissionen möglichst schnell auf Null abgesenkt werden können und damit auch das Pariser Klimaschutzabkommen in Sichtweite bleibt.
Sie waren gerade auf der Weltklimakonferenz im brasilianischen Belém: Können Sie kurz beschreiben, wie Sie sich dort als Klimaforscher von C3S haben einbringen können?
Das ist richtig und die COP wird ja dieses Jahr am Rande des Amazonasregenwalds in Belém abgehalten. Da ich bereits seit meiner Promotion zum Amazonasregenwald forsche, hat mir die Teilnahme auch persönlich viel bedeutet. Während der COP habe ich meine wissenschaftliche Expertise zu Kippelementen in Side-Events, Gesrpächen und Interviews insbesondere im Rahmen des Planetary Science Pavilions eingebracht, bei dem wir unter anderem eine Session zur Vorstellung des Global Tipping Points Reports organisiert haben oder auch eine Session, was es für Kippelemente bedeutet, 1.5°C zu überschreiten. Zudem konnte ich in Hintergrundgesprächen mit Delegierten verschiedener Länder sowie weiteren Teilnehmenden sprechen, um welche Klimarisiken es eigentlich bei Kippelementen geht.
Wie ist Ihr Eindruck, konnte die Weltgemeinschaft dort (auch) Fortschritte erzielen? Macht sich aus Ihrer Sicht ein weltweit zu beobachtender Rechtsruck auch in der Klimapolitik bemerkbar?
Mein Eindruck ist schon, dass große internationale Übereinkünfte seit langem nicht mehr so schwer sind wie aktuell, auch wegen aktueller politischer Entwicklungen weltweit. Dennoch zeigt die brasilianische Präsidentschaft der COP den außerordentlich großen Ehrgeiz diese COP zu einem Erfolg zu machen. Ein Beispiel ist der von Präsident Lula eingeführte TFFF Fonds (Tropical Forest Facility Forever), der als globale Investmentmöglichkeit, Länder mit Regenwäldern finanziell belohnt, wenn diese ihre Wälder intakt halten. Der Erfolg des TFFF ist noch nicht abschließend geklärt, hängt doch sein Erfolg davon ab, ob Geberländer den Fonds ausreichend befüllen und damit auch von Deutschlands noch nicht quantitativ festgelegtem Beitrag. Ich hoffe jedenfalls, dass der TFFF erfolgreich sein wird, denn er ist eben eine Investitionsmöglichkeit und damit anders als viele frühere Vorhaben der klassischen spendenbasierten Entwicklungshilfe (die ja nicht erst, aber spätestens seit dem Ende der USAID enorm unter Druck geraten ist).
Website des Global Tipping Points Report: https://global-tipping-points.org/
Der Beitrag ist eine Vorabveröffentlichung aus dem UniReport 6/2025 (erscheint am 4. Dezember).







