Interview: Dr. Christine Hießl zum Horizon 2020-Projekt „Armut trotz Arbeit“

Fast zehn Prozent der Erwerbstätigen in Europa sind nach der geltenden OECD-Definition von Armut betroffen. Das Horizon 2020-Projekt „Working, Yet Poor“ der Europäischen Union versucht, den Ursachen hierfür auf den Grund zu gehen. Dr. Christine Hießl, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht von Prof. Dr. Bernd Waas, leitet das deutsche Teilprojekt an der Goethe-Universität und organisiert die nationale Tagung zum Thema, die am 19. Juli online stattfindet. Goethe-Uni online sprach mit ihr über ein Phänomen, das gerade auch im reichen Deutschland eine große Rolle spielt.

Dr. Christina Hießl leitet das deutsche Teilprojekt von „Working, Yet Poor“ an der Goethe-Universität.

Frau Dr. Hießl, Sie befassen sich mit dem Thema „Armut trotz Arbeit“ mit dem Fokus auf Deutschland. Ist das wirklich ein so großes Problem hierzulande?

Deutschland ist bekannt für einen sehr großen Niedriglohnsektor und liegt im europäischen Vergleich auf Platz 6 hinter den baltischen Staaten, Bulgarien und Polen. Immerhin ist der Bereich in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen – nachdem er sich zuvor exponentiell entwickelt hatte. Dass der deutsche Wert für Armut trotz Arbeit im EU-Mittelfeld liegt, ergibt sich erst durch die Umverteilung innerhalb der Haushalte und durch den Staat.

Welche Rolle spielt die Tarifbindung in diesem Zusammenhang?

Die Tarifbindung hat sich seit den 1990er Jahren negativ entwickelt, parallel dazu hat sich der Niedriglohnsektor so ausgeweitet. Derzeit sind nicht einmal die Hälfte der Arbeitnehmer tarifgebunden, das hat natürlich Auswirkungen auf die Löhne. Teil unseres Projektes ist auch die Frage, inwiefern es die Aufgabe des Staates ist, zu niedrige Löhne aufzustocken.

Seit 2015 gibt es in Deutschland einen staatlichen Mindestlohn. Was hat die Einführung des Mindestlohns aus Ihrer Sicht gebracht?

Der Mindestlohn wurde als Reaktion auf den wachsenden Niedriglohnsektor eingeführt, aber er ist auf einem Level angesiedelt, wo er nicht unbedingt armutsvermeidend ist. Immerhin hat sich der Niedriglohnsektor seit der Einführung zumindest nicht mehr ausgedehnt. Dazu werden wir auf der Konferenz mehr hören von Herrn Prof. Thorsten Schulten, dem Leiter des Tarifarchivs der Böckler-Stiftung, und von den Vertreterinnen und Vertretern von DGB und BDA. Auch dazu, was getan werden könnte, um die Tarifbindung vor ihrer Erosion zu retten.

Worauf ist die Erosion der Tarifbindung zurückzuführen?

In ganz Europa sind immer weniger Menschen in einer Gewerkschaft, es sind auch immer weniger Arbeitgeber in Verbänden organisiert. Das hat mit der ökonomischen Struktur moderner Gesellschaften zu tun: Wir haben nicht mehr diesen industriellen Kontext mit vielen gleichartigen Arbeitsverhältnissen, wo auch die Solidarisierung zwischen den einzelnen Arbeitnehmern einfacher war. Gerade der Dienstleistungssektor ist schwieriger zu organisieren als der industrielle Sektor. Diesen Abwärtstrend bei den Gewerkschaften sieht man überall in Europa. Der Unterschied besteht darin, wie die einzelnen Staaten damit umgehen.

Welche Unterschiede gibt es da?

Manche Staaten haben Mechanismen, um die Tarifbindung trotzdem hochzuhalten. Zum Beispiel Frankreich: Dort sind nur 5 Prozent der Leute Gewerkschaftsmitglieder, also deutlich weniger als in Deutschland, und trotzdem gibt es eine fast 100-prozentige Tarifbindung. Der Grund: Es gibt sehr starke Mechanismen, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen durchzusetzen. In Österreich wiederum sind einfach alle Arbeitgeber Mitglied in Arbeitgeberverbänden, das heißt, die können gar nicht rausoptieren. Und in den skandinavischen Ländern ist Gewerkschaftsmitgliedschaft immer noch sehr attraktiv, weil zum Beispiel die Arbeitslosenversicherung nur durch die Gewerkschaften gemanagt wird, was der Mitgliedschaft Bedeutung verleiht. In Skandinavien gibt es kaum geschriebenes Arbeitsrecht, aber die Tarifverträge sind einfach sehr bestimmend, und die Gewerkschaften sind wirklich stark und können große Streiks organisieren.

Was ist mit Osteuropa?

Dort gibt es keine starke Tradition von Tarifbindung, die haben das von Anfang an nur im öffentlichen Bereich gehabt. Es wurde versucht, das aufzubauen, aber es funktioniert nicht.

Wie könnte man die Tarifbindung in Deutschland stärken?

Vielleicht indem man Mechanismen einführt, die das Ganze wie in Frankreich aufrechterhalten. Eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung gibt es ja eigentlich schon.

Sie selbst sind Rechtswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Arbeits- und Sozialrecht. Wo liegt Ihr Fokus bei dem Projekt?

In unseren Länderbericht über die Situation in Deutschland decken wir sehr weite rechtliche Bereiche ab. Da geht es um Mindestlohnregelungen, um die Tarifregelungen, wir schauen uns auch das Sozialrecht im Detail an, das ja eigentlich die Absicherung bringen soll für schwierige Phasen im Leben und für das Alter. Wir analysieren auch z.B. wie unterschiedliche Bereiche des Arbeitsrechts sich auswirken, von Entgeltfortzahlungen bis hin zu Kinderzuschlägen, was sich auch auf die Rente auswirkt. Ein speziell deutsches Thema sind auch die Minijobs: Inwiefern sind solche Spezialregelungen, dass keine Steuern und keine Sozialbeiträge abgezogen werden dürfen, gerechtfertigt, wenn die Leute dann nicht abgesichert sind? Welche Konsequenzen hat das? Da will man auch auf europäischer Ebene wissen, was national diskutiert wird.

Das Ziel des Horizon 2020-Projekts ist es, Transparenz innerhalb Europas zu schaffen. Könnten diese Dinge auch auf EU-Ebene geregelt werden?

Es gibt momentan ein starkes Interesse, das auf europäischer Ebene zu regeln. Es liegt ein Richtlinienvorschlag für faire Mindestlöhne in Europa vor, der kontrovers diskutiert wird. Zum Teil wird die Kompetenz der EU hinterfragt, denn nach einer Klausel im EU-Vertrag dürfen Löhne nicht von der EU reguliert werden. Die EU will den Staaten kein einheitliches Lohnniveau vorschreiben. Aber sie würde gern festschreiben, dass es Kriterien geben muss, auf deren Basis der Mindestlohn festgeschrieben und aktualisiert wird.

Welche Kriterien könnten das sein?

Jeder Mensch muss einerseits essentielle Ausgaben finanzieren können, aber auch einen Anteil haben an der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung, der Lohnentwicklung. Als armutsvermeidend gelten in der Diskussion 60 Prozent des Medianlohns, das wären in Deutschland zurzeit etwa 12 Euro, aber kaum ein Land hat so hohe Mindestlöhne.

Hat die Bundesregierung die Problematik bereits auf dem Schirm?

Ja, es gab etwa eine Verbesserung der Fördermöglichkeiten für Geringqualifizierte, und derzeit gibt es Reformbestrebungen für einige armutsgefährdete Gruppen, etwa befristete Arbeitsverhältnisse. Das jüngste Verbot von Werkverträgen und Leiharbeitnehmerschaft in der Fleischproduktion zeigt, dass man sich in diesem Bereich nicht mehr anders zu helfen wusste, als besonders missbrauchsanfällige Arbeitsformen zu verbieten.

Welche Rolle spielen die Hartz-Reformen bei dieser Entwicklung?

Hartz IV ist international extrem bekannt und macht das deutsche Beispiel so interessant. Ich habe vor kurzem eine vergleichende Analyse des Europäischen Parlaments gelesen, in der Deutschland in eine Gruppe mit England und Irland eingeordnet wird, wo Arbeitslose hauptsächlich diese bedarfsgeprüften Leistungen bekommen; Arbeitslosenversicherungsleistungen, die auf dem früheren Einkommen basieren und ohne Bedarfsprüfung fließen, bekommt nur eine Minderheit in Deutschland, etwa ein Drittel. Die Mehrheit erhält Leistungen nach SGB II. Da muss man alles offenlegen, was für viele der Grund ist, die Leistungen gar nicht erst zu beantragen. Viele werden durch dieses sehr strenge System auch gezwungen, Jobs anzunehmen, die gar nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Sie werden in Arbeitsverhältnisse gedrängt, die nicht zu ihnen passen und wo sie wenig verdienen.

Schadet das nicht auch der Wirtschaft?

Ja, angesichts des derzeitigen Fachkräftemangels wird das auch stark hinterfragt. Denn viele Leute, die mit niedrigbezahlten Arbeiten ihr Geld verdienen, sind überqualifiziert und fehlen an anderer Stelle. Das wird bei der Konferenz auch zur Sprache kommen, dass man künftig mehr auf Ausbildung setzen sollte, so dass die Leute, die fähig sind, sich um- oder weiterzubilden, auch eine Chance bekommen, ihre Qualifikation zu erweitern. Dafür muss man ihnen aber wohl auch Zeit geben, anstatt sie zu zwingen, den erstbesten Job zu nehmen.

Die Politik denkt offensichtlich immer von der Wirtschaft aus – es geht nicht um Menschenfreundlichkeit.

Tatsächlich ist Hartz IV ja sehr effizient, die Leute sind viel kürzer arbeitslos, suchen sich viel früher neue Arbeit. Dieser Aspekt ist in der Debatte oft vorherrschend. Vor allem nachdem die Wirtschaftslage in all diesen Jahren so gut war. Deutschland ist ja in der Tat eines der Länder mit den besten Arbeitsmarktdaten – wenn ich nur an die Jugendarbeitslosigkeit denke. Unser Projekt stellt sich hier auch die Frage, ob Armut als Nebenprodukt derartiger Erfolge unausweichlich und gerechtfertigt ist.

Was ist das Ziel dieser Konferenz?

Die Konferenz dient dazu, das Problem „Armut trotz Arbeit“ für Deutschland möglichst transparent zu machen und Lösungsansätze zu diskutieren. Wir haben Katharina Erbeldinger eingeladen, die federführende Referentin für die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung. Sie wird den politischen Hintergrund etwas erläutern. Claudia Czernohorsky-Grüneberg, Geschäftsführerin des Jobcenters Frankfurt, berichtet aus ihrer täglichen Berufspraxis. Wir haben auch zwei Wissenschaftler dabei, Prof. Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, und Prof. Thorsten Schulten, den Leiter des WSI-Tarifarchivs. Und die Sozialpartner dürfen in dieser Diskussion natürlich nicht fehlen – hier konnten wir Ruxandra Empen vom DGB und Benjamin Baykal von der BDA für einen Vortrag gewinnen.

Worin besteht Ihre Forschung?

Wir erstellen derzeit noch die National Reports. Jedes Land schreibt einen ca. 100-seitigen Bericht über all die Aspekte, die Einfluss haben auf das Phänomen Armut trotz Arbeit. Es geht um Regelungen, die die Situation unterschiedlicher Gruppen beeinflussen, etwa von Geringqualifizierten, Teilzeit-, Abruf- oder Leiharbeitskräften. Eine interessante Gruppe sind auch die Solo- oder Scheinselbständigen. Da sticht Deutschland besonders negativ hervor: Dass Selbständige vom Sozialsystem erfasst sind, das ist in anderen Ländern längst geregelt. In Deutschland gibt es hier viel versteckte Armut, weil diese Menschen von ihrem Einkommen nichts beiseitelegen können fürs Alter.

Interview: Anke Sauter

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