Fach feiert sein Hundertstes: ein Überblick über heutige Schwerpunkte.
Im Jubiläumsjahr „100 Jahre Soziologie“ findet nicht nur die Vortragsreihe über den Zeitraum vom 1. April 2019 bis 31. März 2020 statt, sondern die einzelnen Forschungsschwerpunkte organisieren darüber hinaus eine Vielzahl von Begleitveranstaltungen. Das Institut organisiert sich in sieben Forschungsschwerpunkten. In ihrer Gesamtheit dokumentieren die Schwerpunkte die Vielfalt soziologischer Forschung an der Goethe-Universität. Dies gilt für die grundlagentheoretischen Orientierungen ebenso wie für die methodischen Ansätze und die Forschungsfelder. Die Schwerpunkte schlagen wiederum Brücken zu verschiedenen anderen Disziplinen: angefangen mit den Politikwissenschaften am gleichen Fachbereich, der Philosophie in der Tradition der Frankfurter Schule sowie der Kultur- und Sozialanthropologie.
Die konzeptionelle Breite des Faches wird im Schwerpunkt Soziologische Theorie, Geschichte der Soziologie und Wissenschaftstheorie reflektiert. Dies beginnt ganz wesentlich bei Einblicken in die soziologischen Klassiker*innen etwa bei der historischen Aufarbeitung der „Soziologie in Frankfurt“ oder dem „Leben und Werk Franz Oppenheimers“ sowie der Herausgabe der methodologischen Schriften Max Webers im Rahmen der Max-Weber-Gesamtausgabe. Begleitveranstaltungen wenden sich entsprechend solchen Themen zu: „Die andere Frankfurter Schule: Karl Mannheim und die Frankfurter Soziologie der 1930er Jahre“, aber auch das autonome Tutorium: „Friedrich Pollock – Marxistische Schriften“. Ein Vortrag wird sich im Januar 2020 mit der Soziologie an der Goethe-Universität im Nationalsozialismus auseinandersetzen und in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften sowie dem Institut für Sozialforschung (IfS) angeboten.
Die Breite der Forschungsansätze umfasst die Abteilung Methoden der empirischen Sozialforschung. Das Methodenspektrum reicht von rekonstruktiven und hermeneutisch-qualitativen bis hin zu deduktiv-nomologischen und statistisch- quantitativen Ansätzen. Das heißt praktisch: Geforscht wird mit Fragebögen und Leitfadeninterviews, mit amtlichen Statistiken, aber auch mit ethnografischen Feldforschungen, Diskursdaten oder biographischen Erzählungen. Der Methodenschwerpunkt ist im Begleitprogramm mit der Vortragsreihe InFER Colloquium vertreten. Hier werden Einblicke in aktuelle Analyse- und Methodenfragen der standardisierten Sozialforschung, insbesondere der soziologischen Statistik, gegeben. Nicht ausschließlich mit Fragen der Forschungsanlage befasst sich eine „Zukunftswerkstatt“. Hier diskutieren Statusgruppen-übergreifend Mitglieder des Instituts für Soziologie über Möglichkeiten seiner Weiterentwicklung in Forschung wie Lehre angesichts aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen.
Im Schwerpunkt Sozialstruktur, soziale Ungleichheit und Bildung geht es um Beziehungen zwischen Gruppen, ihre sozialen Positionen und die daran gekoppelten Lebenschancen. Der Forschungsschwerpunkt erforscht, auf welcher Weise gesellschaftliche Institutionen wie das Wirtschaftssystem, das Recht, der Arbeitsmarkt, die Sozialpolitik oder das Bildungswesen ungleiche Verteilungen von Ressourcen und Chancen erzeugen. In der zentralen Vortragsreihe wird etwa der Zusammenhang von sozialem Status und rechtspopulistischen Gesinnungen untersucht. Weitere Vorträge befassen sich mit der kulturellen Vermittlung sozialer Ungleichheit etwa in Deutungsmustern, Mitgliedschaftskategorisierungen oder auch Stigmatisierungen.
Hier finden sich Übergänge zum vierten Themenschwerpunkt, der mit der Relation aus Subjekt und Gesellschaft in Frankfurt Tradition hat: Mikrosoziologie, Sozialpsychologie und Kultur. Aber es ist nicht Traditionspflege, die hier vorherrscht. Der Blick auf die Mikroverhältnisse hat in den letzten Jahrzehnten, ausgehend vom „linguistic turn“ aus der Sprachpragmatik, wesentliche Innovationen befeuert: den „interpretative turn“ und den „Praxisturn“. Zentrales Anliegen der Mitglieder des Schwerpunktes ist die Analyse der Mikrofundierung und der psychosozialen Effekte von Vergesellschaftung. Die Forschung wird in enger Zusammenarbeit mit dem Sigmund-Freud-Institut (SFI) und dem Institut für Sozialforschung (IfS) durchgeführt. Hier bietet der Schwerpunkt einige Begleitveranstaltungen an: „Prismen – IfS bei marx & co“; „Vater – Mutter – Kind – Hat die familiale Triade als Sozialisationsmodell ausgedient?“ oder der geplante Workshop „Normativität und Kritik in der Feldforschung“.
Die Abteilung Wirtschaft – Arbeit – Organisation widmet sich grundlegenden und aktuellen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen im Kontext globalisierten Wirtschaftens. Hier verzahnen sich die klassischen Felder der Wirtschafts-, Arbeitsund Organisationssoziologie. Die sozialen und institutionellen Voraussetzungen des Marktgeschehens finden ebenso Interesse wie Fragen der politischen Ökonomie. Es geht um Finanz- und Arbeitsmärkte ebenso wie um nachhaltiges Wirtschaften mit den kulturellen, moralischen und politischen Implikationen von Konsum und Innovation. Eher arbeitssoziologische Fragestellungen beziehen sich auf den aktuellen Wandel der Arbeit, auf veränderte Produktionsbedingungen oder auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Die Erosion der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben, der Niederschlag von Prekarisierung auf die Arbeitsbiografien oder die Globalisierung der Ausbeutungsverhältnisse schlagen den Bogen zu aktuellen Krisen der Arbeitsgesellschaft. Hier ist es die hochwertige Vortragsreihe „Kritische Soziologie“, die wesentliche Fragen dieses Schwerpunktes ins Begleitprogramm trägt.
Einen anderen Fragenkomplex bearbeitet die Abteilung Gender, Diversität und Migration: Wie verändern sich die gesellschaftlichen Geschlechterordnungen? Wie werden Unterscheidungen zwischen „Wir“ und den „Anderen“ geprägt und durchgesetzt? Wie entwickeln sich Identitäten im Kontext globalisierter Migration? Aber auch: Welchen Einfluss haben die neuen Biotechnologien auf die tradierten Vorstellungen von Verwandtschaft und Zugehörigkeit? Die Abteilung mobilisiert Theorien, Konzepte und verschiedene Forschungsstrategien (von Ethnografien bis Diskursanalysen), um diesen Vermachtungen auf den Grund zu gehen. Die Mitglieder bringen neueste Erkenntnisse aus der Geschlechterforschung, der feministischen Philosophie, den „Postcolonial Studies“ oder der Körpersoziologie zusammen – und platzieren die Soziologie wiederum in einen spannenden transdisziplinären Zusammenhang. Dokumentiert wird diese Forschungsarbeit in einer eigenen Working Paper Series. Das Cornelia Goethe Centrum (CGC) wird hier wichtige Veranstaltungen, etwa im Rahmen des CGC-Colloquiums, zum Begleitprogramm beitragen.
Die Abteilung Wissen – Technik – Umwelt schließlich befasst sich mit Wissensformen, epistemischen Kulturen und ihren praktischen Grundlegungen. Hier geht es um Voraussetzungen und Wirkungsweisen von Technologien und Techniken sowie ihrer Umweltbezüge. Die Abteilung ist eingebettet in die transdisziplinäre Wissenschafts- und Technikforschung, die Wissens- und Umweltsoziologie sowie die Sozialphilosophie. Als Diskussionszusammenhang konfrontiert der Forschungsschwerpunkt eine Bandbreite analytischer und methodischer Herangehensweisen: konfliktheoretische, praxeologische, phänomenologische, poststrukturalistische und auch neomaterialistische Orientierungen. Gemeinsam mit dem Institut für Europäische Ethnologie wurde in diesem Kontext der M.A. „Science and Technology Studies (S&TS)“ entwickelt und etabliert. Ein ähnlich ausgerichtetes Graduiertenkolleg soll folgen. Eine Stärkung erfuhren die Frankfurter S&TS durch einen ERC-Förderung des Projektes „Suspended Life: Exploring Cryopreservation Practices in Contemporary Societies“ (CRYOSOCIETIES). Im Rahmen der Begleitveranstaltungen wird es u. a. einen Vortrag zur „Speculative Logic of Capitalism“ geben.
Thomas Scheffer & Heike Langholz
Das Institut hat extra zum Jubiläum eine Webseite eingerichtet. Unter https://hundertjahresoziologie.uni-frankfurt.de/events lassen sich alle Veranstaltungen wie das Beiprogramm abfragen. Die ersten Veranstaltungen haben bereits gezeigt, dass diese Bemühungen honoriert werden. Das Interesse an der Universität und in der Bürgergesellschaft ist beachtlich.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.19 des UniReport erschienen.