Der Sportsoziologe Robert Gugutzer hat mit Studierenden das Public Viewing bei der letzten Fußball-EM untersucht. Auch weil die „Atmosphärenprofis“ gefehlt haben, war die Stimmung bei den Spielen der deutschen Mannschaft nicht so ausgelassen wie bei der Heim-WM 2006, so ein Fazit.
UniReport: Herr Prof. Gugutzer, vorab eine Frage zum Abschneiden der deutschen Mannschaft: Was sagen Sie als Fußball-Experte, kann und darf man mit der Leistung zufrieden sein?
Robert Gugutzer: Ich denke schon. Bis Anfang des Jahres musste man ja noch damit rechnen, dass die deutsche Mannschaft bei der EM ähnlich schlecht abschneidet wie bei den drei letzten großen Turnieren. Erst die beiden etwas überraschenden Siege im März gegen Frankreich und die Niederlande stimmten für die EM hoffnungsfroh. Diese Hoffnung hat die deutsche Mannschaft meines Erachtens erfüllt. Sie hat gut bis sehr gut gespielt und ist ein wenig unglücklich gegen die beste Mannschaft des Turniers ausgeschieden. Das kann und darf passieren.
Sie haben mit Ihren Studierenden Public-Viewing-Events in Frankfurt besucht – auf der Fanmeile? Hat das organisatorisch geklappt, konnten die Studierenden die geplante Beobachterposition einnehmen?
Genau, die Studierenden meines Seminars waren primär in der Frankfurter Fanzone unterwegs. Ein Student war außerdem einmal in der Fanzone in Berlin, ich selber in München, und ein paar waren noch in Frankfurter Biergärten unterwegs. Aufgabe der Studierenden war es, mit einer nicht teilnehmenden Beobachtung das atmosphärische Geschehen beim Public Viewing wahrzunehmen und zu protokollieren. Sie sollten also mittendrin sein, aber selber nichts tun, außer die Örtlichkeit, die Menschen und die Atmosphäre zu beobachten. Das hat sehr gut geklappt, nur bei Spielen, wo sehr viele Menschen anwesend waren, konnten sie während des Spiels kaum Notizen machen, höchstens in der Halbzeitpause. Aber ihre Beobachtungsprotokolle haben sie ohnehin überwiegend nach dem jeweiligen Public Viewing erstellt.
Gab es auch Herausforderungen, wenn man sich so nah am Forschungsobjekt befindet und sich auch über eigene Stimmungen im Klaren werden muss? Was war gewissermaßen der „Lerneffekt“ für die Studierenden?
Die größte Herausforderung für die Studierenden war die Unmenge an Eindrücken, die auf sie einprasselten. Es ist zwar nicht bei jedem Public Viewing die Hölle los, aber es passiert schon ziemlich viel bei so einem Ereignis, sodass es schwierig ist zu entscheiden, was bedeutsam ist und festgehalten werden sollte und was eher vernachlässigenswert ist. Das war in der Tat ein methodischer Lerneffekt, den unsere Untersuchung für die Studierenden hatte. Dazu kam, wie Sie sagen, auch die eigene Stimmung methodisch zu reflektieren, genauso wie das eigene Fußballwissen oder die persönlichen Erwartungen an das Spiel und die Fans. Die Studierenden sollten aus dieser Studie also mitnehmen, dass in der qualitativen Sozialforschung Subjektivität eine wichtige Erkenntnisquelle ist, weshalb die eigene Stimmung, die persönlichen Gefühle, Erwartungen, Befürchtungen etc. ernstzunehmen sind. Bei einem Untersuchungsgegenstand wie den Atmosphären ist das offenkundig: Atmosphären haben nicht nur einen „Objektpol“ (die Umgebung und Situation), sondern ebenso einen „Subjektpol“, wie der Philosoph Gernot Böhme sagt. Um die Atmosphäre beim Public Viewing zu untersuchen, muss man deshalb sich als Forschersubjekt, das selber die Atmosphäre wahrnimmt, mitberücksichtigen.
Was haben Sie mit den Studierenden beobachten und analysieren können, hat sich eine spezifische „Atmosphäre“ während oder auch außerhalb des eigentlichen Spiels eingestellt?
Wir haben 21 der insgesamt 51 Spiele beobachtet, und zwar Gruppen-, Achtel- und Viertelfinalspiele um 15 Uhr (bei den Gruppenspielen), 18 Uhr und 21 Uhr. Dazu haben die Studierenden 36 Beobachtungsprotokolle verfasst. Die Auswertung der Protokolle im Seminar ergab ein differenziertes Bild von den Atmosphären beim Public Viewing. Wir sprechen von Atmosphären im Plural, weil es aus unserer Sicht keine, wie Sie sagen, „spezifische“ Atmosphäre beim Public Viewing gibt, sondern eine Vielzahl an Atmosphären, die zum Teil zeitgleich anwesend sind. Die Studierenden haben z. B. Familien-, Picknick-, Wohnzimmer-, Kino-, Feierabend-, Volksfest- oder Festivalatmosphären beobachtet. Das hat damit zu tun, dass beim Public Viewing viele verschiedene Menschengruppen anwesend sind und nicht nur Hardcore-Fußballfans. Außerdem konnten wir beobachten, dass es eine Art Grundatmosphäre gibt, und die ist ruhig, zurückhaltend, konzentriert. Atmosphärische Abweichungen, also Jubel, Geschrei, Gestöhne, Geschimpfe oder Gesänge, treten primär dann auf, wenn auf dem Bildschirm etwas passiert: Tor, Foul, gute Verteidigungsaktion, (kein) Elfmeter usw. Das heißt, anders als die vielen Bilder und Berichte in den Medien suggerieren, deutet unsere Studie darauf hin, dass beim Public Viewing keineswegs die ganze Zeit eine ausgelassene, euphorische „Partyatmosphäre“ herrscht. Was im Übrigen nicht ausschließt, dass sich die Leute auf dem Nachhauseweg oder auch noch viel später an das Public Viewing als etwas stimmungsmäßig Besonderes erinnern.
Haben Sie eine Erklärung für Ihre Analyse, dass die Stimmung beim Public Viewing gar nicht so toll war, wie es in den Medien rüberkam?
Was die Medien angeht, ist es wohl einfach so, dass sie ein größeres Zuschauerinteresse erzielen, wenn sie von einer guten Stimmung berichten als von keiner oder gar einer schlechten Stimmung. Die Stimmung in unserem Land ist zurzeit eh nicht die beste, da soll der Fußball doch bitte einen Kontrapunkt setzen. Zum Teil ist das auch so, aber eben nicht durchgängig und für alle. Mit Blick auf das Public Viewing wiederum scheint uns, dass es nicht so sehr ein Fußballereignis ist, sondern hauptsächlich ein geselliges Ereignis, für das der Fußball lediglich der Anlass ist. Beim Public Viewing sind viele Menschen anwesend, die die Gelegenheit nutzen, an einem ungewöhnlichen Sport-Ort im Freien eine gute Zeit gemeinsam mit anderen Menschen zu haben. Das sind dann eher Zuschauer als Fans, die auch eher Stimmungskonsumenten als Stimmungsproduzenten sind. Das heißt, sie warten darauf, dass was passiert, und dann machen sie kurzzeitig selber mit. Das ist für eine tolle Atmosphäre aber suboptimal, denn damit die entsteht, müssen schon alle von sich aus mitmachen. Deshalb ist unseres Erachtens auch die Stadionatmosphäre tendenziell eine andere als die Atmosphäre beim Public Viewing: In fast jedem Stadion gibt es Ultras, die unabhängig vom Spielverlauf für Stimmung sorgen, und diese Atmosphärenprofis fehlen bei den meisten Public Viewing.
Und abschließend die Frage: Ein Sommermärchen war das nach Einschätzung vieler Beobachter wohl nicht. Aber das zu erwarten, wäre vielleicht auch zu viel gewesen. Was hat beim Public Viewing gefehlt?
Ein Sommermärchen 2.0, wie es vielerorts hieß, war die EM 2024 ganz sicher nicht. Das war aus meiner Sicht auch eine vollkommen überzogene Erwartung. Wer wirklich glaubte, dass sich das 2006er-Sommermärchen wiederholen könnte, musste enttäuscht werden. 2006 war nicht nur das Wetter sommerlich märchenhaft, anders als in diesem Jahr, es war außerdem eine WM und keine EM, weshalb in Deutschland die „Welt zu Gast bei Freunden“ und nicht nur halb Europa zu Gast bei ihrem Nachbarn war, ohne das abwerten zu wollen, denn es hat Deutschland zweifelsfrei gutgetan, tanzende und singende Schotten, Niederländer, Türken, Georgier usw. im eigenen Land zu haben. Fußballerisch besteht der Unterschied zu 2006 darin, dass Deutschland damals ins Halbfinale kam und auf dem Weg dorthin drei dramatische Spiele (gegen Polen, Argentinien und Italien) hatte, während bei der EM dieses Jahr im Viertelfinale Schluss war. Und auch die Public Viewing waren 2006 ganz anders als heuer: Es gab viel weniger Bildschirme, eigentlich immer nur einen – in Frankfurt waren es dieses Jahr zehn! –, die Treffen vor Ort hatten eher Sit-in-Charakter, während es dieses Mal ein durch und durch kommerzielles Event war, und vor allem war 2006 so vieles überraschend, spontan und neu, wohingegen dieses Jahr eben die Erwartung herrschte, es müsste wieder so werden wie damals. Und das, obwohl doch jeder weiß, dass die spontanen Partys die besten sind.