Die CMD-Ambulanz ist Anlaufstelle vieler Patienten mit Diagnosen von Zähneknirschen bis hin zu komplexen Funktionsstörungen des Kausystems
Eine Fehlfunktion von Zähnen und Kiefer kann viele Ursachen haben. Daher wird eine Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) oft nicht oder erst nach Jahren erkannt. Am Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ZZMK, Carolinum) der Goethe-Universität ist ein interdisziplinäres Team aus Zahnärzten, Fachärzten und Therapeuten in die Diagnostik und Therapie eingebunden.
Das menschliche Kausystem besteht aus Zähnen, Kiefer, Muskeln und zwei Kiefergelenken. Normalerweise greift in dem fein aufeinander abgestimmten System ein Rädchen exakt in das andere. Mitunter passen jedoch Ober- und Unterkiefer nicht richtig zusammen und es kommt zu Fehlbelastungen beim Kauen und Sprechen. Eine solche Funktionsstörung des Kausystems wird auch als Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet. Mit »craniomandibulär« ist der Bereich zwischen Schädel (Cranium) und Unterkiefer (Mandibula) gemeint. »Dysfunktion« beschreibt eine Fehlfunktion.
Auswirkungen auf andere Körperbereiche

Nach Angaben des CMD-Dachverbandes sind von der Funktionsstörung alleine in Deutschland rund sieben Millionen Menschen betroffen. Trotz der Häufigkeit ist das Krankheitsbild in der Bevölkerung noch weitgehend unbekannt. Auch Ärzte übersehen es häufig. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Der Kiefer verfügt über große Kompensationsmechanismen. »Dadurch werden immer wieder Befunde von Betroffenen zunächst nicht wahrgenommen oder anderen Körperregionen und Erkrankungen zugeordnet. Oder die Auswirkungen der Fehlbelastungen zeigen sich erst nach einiger Zeit«, erklärt Dr. Steffani Görl, Oberärztin an der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik (Direktor Prof. Dr. Jan-F. Güth) am ZZMK und Leiterin der CMD-Ambulanz. Da die Muskulatur des Kausystems mit der Muskulatur des Nackens und der Wirbelsäule funktionell verbunden ist, können sich Fehlregulierungen und statische Verschiebungen auf die Zähne und den Kieferbereich, aber auch auf weiter entfernte Körperbereiche wie den Rücken auswirken.
Mögliche Symptome sind Knack- und Knirschgeräusche im Kiefergelenk, Zahnschmerzen, Schmerzen beim Kauen oder Einschränkungen beim Öffnen des Kiefers und bei der Aufnahme zäher oder harter Nahrungsmittel. Viele Menschen haben das Gefühl, ihre Zähne passen nicht mehr richtig zusammen. Darüber hinaus können auch unspezifische Beschwerden wie Muskelverspannungen, Kopf-, Nacken- und Rückenschmerzen, Schwindel, Tinnitus oder Schlafstörungen auftreten.
Oft jahrelange Patienten-Odyssee
»Aufgrund des unklaren Beschwerdebildes haben viele Patienten eine Odyssee mit zahlreichen Arztbesuchen hinter sich«, berichtet Dr. Steffani Görl. Oftmals würden Patienten zunächst Erstversorger wie ihren Hausarzt aufsuchen, der sie wiederum häufig an einen HNO-Arzt oder Neurologen überweist. Erst wenn Fachärzte nichts finden, erhielten Betroffene mitunter den Rat, doch mal den Zahnarzt oder Kieferorthopäden zu fragen oder sich an eine Uniklinik zu wenden. »Bis das craniomandibuläre System als Ursache der Beschwerden erkannt wird, vergehen daher oft Jahre. Leider haben sich dann Beschwerden wie Schmerzen oft schon chronifiziert und müssen zusätzlich durch einen Schmerzmediziner behandelt werden«, so die Zahnmedizinerin.
Auch die Frankfurter CMD-Ambulanz ist seit ihrer Etablierung im Jahr 2007 immer wieder Anlaufstelle für Patienten, die schon jahrelang unter unklaren Beschwerden leiden und bei denen Haus-, Zahn- und andere Ärzte nicht weiterwissen. Häufig kommen Patienten auch auf eigene Initiative oder auf Empfehlung von Bekannten, Freunden oder Verwandten in die Fachklinik. Sie profitieren von der Verzahnung von Forschung, Lehre und Praxis am Carolinum.
Ursachenforschung mit modernster Technik
Wichtige Anhaltspunkte für die Diagnostik bietet die Erhebung der bisherigen Krankengeschichte (Anamnese) mit einer ausführlichen Befragung des Patienten. »Schmerzen werden meist durch die Kiefermuskulatur und die Kiefergelenke getriggert, Geräusche, Klemmen, Knacken dagegen häufig durch die Kiefergelenke«, erklärt die Zahnmedizinerin. Vorbefunde anderer Ärzte und Therapeuten helfen, den Beschwerden auf den Grund zu gehen.
Die wichtigste Rolle bei der Ursachenforschung spielt die klinische Funktionsanalyse und darauf aufbauend die manuelle Strukturanalyse. Hierbei kontrolliert der Zahnmediziner unter anderem die Kopf- und Körperhaltung, die Beweglichkeit des Kiefers und die Zahnkontakte. Zusätzlich tastet er Muskulatur und Kiefergelenke ab und untersucht, ob Einschränkungen der Kieferbewegungen und der Kieferöffnung vorliegen.
Eine wertvolle Ergänzung bietet dabei die instrumentelle Funktionsanalyse mit speziellen Geräten. Dank moderner, meist strahlungsfreier, bildgebender Verfahren und 3D-Techniken ist es den Zahnärzten der CMD-Ambulanz möglich, die individuellen Bewegungsmuster der Kiefer des Patienten exakt zu analysieren und selbst kleinste Störungen im Zusammenspiel von Zähnen, Kiefergelenken und Kaumuskulatur zu erkennen. Görl: »Ein weiterer Vorteil dieser Verfahren ist die Visualisierung. Mithilfe von 3D-animierten Bildern sieht der Betroffene direkt auf dem Bildschirm, wie sich seine Kiefergelenke und Zahnreihen bewegen und die Zähne interagieren, wenn er bestimmte Bewegungen macht. Dies spielt für das Verständnis des Patienten eine große Rolle.«
Interdisziplinärer Ansatz und Austausch
Die Craniomandibuläre Dysfunktion kann viele verschiedene Ursachen haben, die oft Hand in Hand gehen. Daher sind am Frankfurter Carolinum bei Bedarf auch Ärzte und Therapeuten verschiedener Fachrichtungen bei der Diagnostik und Therapie der Patienten mit eingebunden. Hierzu zählen zum Beispiel Physiotherapeuten, Heilpraktiker und Osteopathen, Psychologen und Psychotherapeuten, Schmerzmediziner, Rheumatologen, Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen, Logopäden und Kieferorthopäden.
Seit 2007 findet unter der Leitung von Steffani Görl zweimal im Jahr ein interdisziplinäres CMD-Konsil statt. Im Rahmen der gemeinsamen Treffen werden unter anderem komplexe Patientenfälle präsentiert, Therapien geplant sowie neue Studienerkenntnisse, diagnostische Methoden und neuartige Heil- und Hilfsmittel vorgestellt. Die Leiterin der CMD-Ambulanz empfindet die Konsil-Treffen für alle Beteiligten als sehr bereichernd: »Wir dürfen viel von anderen Fachdisziplinen lernen.«
Auch die Psyche berücksichtigen
Woran wenige denken: Ursache einer CMD können auch Stressbelastungen, Ängste, Depressionen sowie Traumata-Folge-Erkrankungen sein. »Psychische Anspannung geht sehr häufig mit vermehrter muskulärer Anspannung einher«, erklärt Dr. Moritz de Greck, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Leiter des Bereichs Psychosomatik der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Frankfurt. Die vermehrte Anspannung äußert sich häufig in Zähneknirschen und -pressen. Folge könnten Abnutzungserscheinungen der Zähne, aber auch Kopf-, Kiefer-, Nacken- oder Rückenbeschwerden sein. In solchen Fällen ist es mit einer reinen Aufbissschiene nicht getan. »Wichtig ist, dass Betroffene die Ursachen für Stress erkennen und sich mit diesen auseinandersetzen. Bewältigungsstrategien wie Ausdauersport oder Entspannungsverfahren können ebenfalls hilfreich sein«, erklärt de Greck. Eventuell liegen auch Traumatisierungen zugrunde. In diesem Fall könne der Beginn einer Traumatherapie hilfreich sein.
Bedeutung der Physiotherapie
Eine wichtige Bedeutung für die Diagnostik und Therapie der CMD kommt auch der Physiotherapie zu. »Vor allem bei Halswirbelsäulenbeschwerden und Kopfschmerzen ist häufig eine CMD-Problematik mit beteiligt«, sagt Mirjam Aichholz-Kuntz. Solche Beschwerden können sowohl Ursache als auch Folge einer Funktionsstörung im Kiefergelenk sein. Auch als Co-Faktor spielt CMD mitunter eine Rolle – zum Beispiel, wenn ein Patient bereits eine Physiotherapie wegen HWS-Beschwerden erhalten hat, die Beschwerden aber immer wieder auftreten. In diesem Fall sollte der Kiefer immer mit untersucht werden, rät die Physiotherapeutin und Teil-Heilpraktikerin für Physiotherapie.
Sinnvoll ist in solchen Fällen eine ursachenorientierte Ganzkörperanalyse basierend auf der Prototherapie©, welche die möglichen Ursachen des gesamten Körpers genau in den Blick nimmt und Aufschluss über die Reihenfolge der Behandlungsschritte geben kann. Dadurch kann gemeinsam mit den Betroffenen eine möglichst erfolgversprechende Vernetzung aller beteiligten Disziplinen geplant werden. »Manchmal reichen physiotherapeutische Behandlungen aus, um die CMD-Beschwerden zu lindern oder zu beseitigen. Liegt dagegen ein gestörter Aufbiss vor, kann die Physiotherapie den Prozess der nun vorrangigen zahnärztliche Maßnahmen begleiten und oftmals zumindest bewirken, dass invasive zahnärztlichen Behandlungsmaßnahmen so gering wie möglich bleiben können«, so Aichholz-Kuntz.
Schiene als wertvolle Unterstützung
Nahrungsaufnahme und Kommunikation gehören zu den wichtigsten lebenserhaltenden Maßnahmen des Körpers. Daher hat das craniomandibuläre System als Funktion im Körper hohe Priorität und verfügt bei Störungen über beachtliche Kompensationsmechanismen. Görl: »Mit einer Aufbissschiene unterstützen wir diese Selbstheilungskräfte. Damit können wir den Unterkiefer so positionieren, dass das Gelenk entlastet wird und sich die geschädigten Strukturen regenerieren können.«
Bei der Bewegungsanalyse des Kiefers und der Anfertigung der Schienen nutzen die Zahnärzte und -techniker am ZZMK sowohl modernste digitale Scan- und CAD/CAM-Techniken (computergestützte Techniken) als auch bewährte Gipsmodelle. Beides habe laut Steffani Görl Vor- und Nachteile. »Gips nutzt sich als Werkstoff ab. Eine zweite Schiene darauf zu fertigen, ist daher oft schwierig. Ein Datensatz ist dagegen unbegrenzt häufig nutzbar und lässt sich auch einfach auf elektronischem Weg an einen Konsil-Partner schicken.« Daher könne es in vielen Fällen sinnvoll sein, eine Schiene kombiniert digital-analog anzufertigen.
Geduld und Mitarbeit des Patienten

Das Tragen einer Aufbissschiene erfordert in der Regel viel Geduld. Dies hat auch die CMD-Patientin Gerda Heilmann erfahren: Die heute 79-Jährige bekam nach dem Setzen mehrerer Zahnbrücken plötzlich Probleme mit dem Kiefergelenk. Auslöser war der nicht optimal angepasste Zahnersatz, der bei ihr zu einer Verschiebung im Aufbiss geführt hatte. »Es war wirklich schlimm. Ich konnte nicht mehr kauen und hatte starke Schmerzen«, erinnert sich die Seniorin. Am Carolinum konnte ihr nach Jahren endlich geholfen werden, wenngleich die Therapie »eine längere Prozedur« war. So musste die für sie individuell erstellte Aufbissschiene mehrmals angepasst werden, um nach und nach die bestmögliche und bequemste Kieferlage zu erarbeiten. Inzwischen ist Gerda Heilmann dank ihrer guten Mitarbeit beschwerdefrei und trägt die Schiene nur noch nachts, um möglichen erneuten Problemen vorzubeugen.
Zahnmedizinerin Görl weist darauf hin, dass die Prognose der CMD maßgeblich von der Mitarbeit der Patienten abhängt. Dazu gehöre auch die Erkenntnis, dass die Betroffenen mit ihrem Verhalten den Verlauf der Erkrankung beeinflussen können. »Als Zahnmedizinerin muss ich den gesamten Patienten im Blick haben und zugleich bei ihm das Verständnis für seine Problematik wecken.«
Art der Beschwerden | Häufigkeit in Prozent |
Schmerzen | 4,6 |
Kiefergelenkgeräusche | 18,6 |
Einschränkungen der Kieferöffnung | 3,4 |
Schwierigkeiten beim Schließen der Kiefer | 1,9 |
Morgendliches Gefühl der Steifigkeit der Kiefermuskulatur | 2,0 |
Behandlungsbedarf wegen CMD | 3,2 |

Zur Person / Dr. med. dent. Steffani Görl M.Sc., Jahrgang 1969, ist Oberärztin an der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum) der Goethe-Universität. Seit 2007 leitet sie die CMD-Ambulanz. Seit 2014 ist sie Spezialistin für Funktionsdiagnostik und -therapie der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT). Ebenso lange ist das ZZMK anerkanntes Ausbildungszentrum der DGFDT. Steffani Görl engagiert sich in der Ausbildung von Zahnmedizinern, 2022 hat sie an der Goethe Dental School den Master of Science in Esthetic dentistry absolviert.
s.goerl@med.uni-frankfurt.de

Die Autorin / Stella Cornelius-Koch, Jahrgang 1967, hat Kommunikationswissenschaften studiert und ist freie Medizinjournalistin in Bremen.
s.cornelius@medical-mirror.de
Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen