Im Gespräch mit Sybille Steinbacher, seit Anfang Mai Inhaberin des Lehrstuhls für Holocaust-Forschung an der Goethe-Universität.
UniReport: Frau Prof. Steinbacher, Sie haben Anfang Mai die in Deutschland erste Holocaust-Professur an der Goethe-Uni übernommen. Was werden Ihre ersten Themen und Aktivitäten sein?
Sybille Steinbacher: Lassen Sie uns etwas präziser vom ersten Lehrstuhl oder der ersten W3-Professur sprechen, denn Institutionen, auch Professuren, die sich mit der Geschichte des Holocaust beschäftigen, gibt es in Deutschland mehrere. Die Holocaust-Forschung muss hierzulande, genauer: im deutschsprachigen Raum, keineswegs erst erfunden werden, sie ist vielmehr schon seit langem etabliert, an Universitäten ebenso wie an außeruniversitären Einrichtungen. Einschlägige Forschungen finden beispielsweise in München, in Berlin, in Freiburg, in Jena, in Gießen, in Klagenfurt, in Wien und Bern statt; womöglich habe ich auf die Schnelle nicht einmal alle genannt. Neu ist, dass nun die Denomination einer W3-Professur explizit auf die Geschichte und Wirkung des Holocaust ausgerichtet ist. Die Goethe-Universität setzt damit ein wichtiges Zeichen, auch im internationalen Zusammenhang. In den USA, Großbritannien und Israel gibt es solche Lehrstühle ja längst. In den letzten Jahren kam insbesondere in den USA die Kritik auf, wonach in Deutschland die institutionellen Voraussetzungen allmählich kaum mehr gegeben seien, um die Forschungen zum Holocaust zu sichern, kritisch weiterzuentwickeln und den wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Daraufhin ist 2013 am Institut für Zeitgeschichte in München das Zentrum für Holocaust-Studien eingerichtet worden, das bereits ein schönes Fellowship- Programm etabliert hat. Ich werde mit den Kolleginnen und Kollegen sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in den USA und anderswo zusammenarbeiten. Holocaust- Forschung (der Begriff „Holocaust“ hat sich ja erst mit der gleichnamigen amerikanischen TV-Serie von 1979 in der Öffentlichkeit und der Wissenschaft etabliert) lässt sich de facto gar nicht anders als im internationalen Rahmen denken und betreiben.
Was haben Sie als neue Direktorin des Fritz Bauer Instituts geplant?
Zunächst geht es mir am Fritz Bauer Institut darum, das dort Erreichte mit Bedacht fortzuführen, Projekte zum Abschluss zu bringen und gemeinsam mit dem Team neue zu entwickeln. Konsolidierung und Aufbau sind mein Programm für das nächste halbe Jahr oder Jahr. Der Aufbau meines Lehrstuhls wird mich ebenfalls intensiv beschäftigen. Ich möchte Promovierende mit interessanten Projekten anziehen.
[dt_quote type=”pullquote” layout=”right” font_size=”big” animation=”none” size=”3″]»Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist ein Fundament der politischen Kultur in Deutschland.«[/dt_quote]
In der Lehre werde ich mich als Erstes mit der Figur des Zeitzeugen beschäftigen. In der Forschung schweben mir zahlreiche Projekte vor: zu Auschwitz, zu den Überlebenden der NS-Verfolgung, zur justiziellen Aufarbeitung der Verbrechen, zur Historiographie des Holocaust und zu anderen Feldern. Mit Unterstützung der Goethe-Universität, soviel kann ich schon sagen, wird es ein Projekt zur Geschichte der Frankfurter Universität im Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik geben.
Was war bei Ihnen persönlich der Anlass, sich diesem doch sicherlich auch belastenden Thema in der Forschung zu widmen?
Der Umstand, dass ich in der Nähe von Dachau aufgewachsen bin, spielt sicher eine Rolle dafür, dass mich das Thema so interessiert. Ich habe nach dem Abitur (ich war in München in der Schule) für die Süddeutsche Zeitung in Dachau gearbeitet und mich an der KZ-Gedenkstätte engagiert. Das war die Zeit, als in Dachau der Streit um die Jugendbegegnungsstätte tobte, der die Stadtgesellschaft stark polarisiert, rasch internationale Aufmerksamkeit ausgelöst hat und im Kern eine Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit war. Ich habe, ausgehend von der hitzigen Diskussion, meine Magisterarbeit an der Uni München über das Verhältnis zwischen der Stadt und dem Lager Dachau während der NS-Zeit geschrieben, also das soziale Umfeld des Konzentrationslagers in den Blick genommen. Am Institut für Zeitgeschichte München bekam ich nach dem Studium eine Hilfskraftstelle und dann ein Promotionsstipendium. In einem Forschungsprojekt über Auschwitz konnte ich die Frage nach dem sozialen Umfeld ausweiten und in Bezug zur sogenannten Germanisierungspolitik in Ostoberschlesien setzen, der Region, in der Auschwitz lag. Akademische Lehrer, die mein Interesse geweckt, gestärkt und mich unterstützt haben, und Freunde, die mich bis heute begleiten, könnte ich viele nennen.
Gibt es bei der Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen und ihrer Wirkungsgeschichte neuere Entwicklungen, neue Paradigmen und neue Fragestellungen?
Nach dem Mauerfall hat die Öffnung der Archive in Osteuropa der Forschung über den Holocaust starken Auftrieb verliehen. Mitte der neunziger Jahre setzte dann eine zunehmende Internationalisierung der wissenschaftlichen Beschäftigung damit ein. Bis dahin war die empirische Basis ja reichlich dünn. Jetzt rückten die Schauplätze des Massenmords in den überfallenen Ländern in den Blick, in Polen, der Sowjetunion und anderswo. Die Täterforschung wurde intensiviert und ist heute nahezu eine Subdisziplin der Holocaustforschung, die sich mittlerweile sowohl stark ausdifferenziert als auch stark spezialisiert hat.
[dt_quote type=”pullquote” layout=”left” font_size=”big” animation=”none” size=”3″]»Auch über Auschwitz wissen wir längst nicht alles.«[/dt_quote]
Neue Disziplinen kamen hinzu, wie die Vergleichende Genozidforschung, die in den neunziger Jahren erst entstanden ist; auch mit der Gewaltforschung und der Kolonialismusforschung muss sich die Holocaustforschung heute beschäftigen. Für wichtig halte ich es, die großen Fragen in den Blick zu nehmen und mit den Methoden der Zeitgeschichte zu untersuchen, beispielsweise die nach der gesellschaftlichen Verantwortung für die Verbrechen, ferner die nach den Bezügen zwischen der Mordpolitik an den Juden und der systematischen Ermordung von Kranken und Behinderten. Auch über Auschwitz wissen wir längst nicht alles, beispielsweise kaum etwas darüber, wie der Lagerkomplex 1942/43 zum Zentrum der Massenvernichtung in Europa wurde. Die Wirkungsgeschichte des Holocaust reicht ja bis in unsere Gegenwart und lässt sich heute an dem Umstand festmachen, dass es mit Blick auf die Erinnerung an den Holocaust eine deutliche Kluft zwischen West- und Osteuropa gibt. Auch das muss erst noch genauer untersucht werden.
Wie schätzen Sie heute insgesamt das Wissen in der deutschen Bevölkerung zum Thema Holocaust ein, ist die Kenntnis dieses Genozids und seiner Entstehung tief genug im allgemeinen Bewusstsein verankert?
Vor knapp einem Jahr trat die FU Berlin mit einer Studie an die Öffentlichkeit, wonach an deutschen Universitäten ein Vermittlungsdefizit in Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust festzustellen sei, offensichtlich insbesondere in der Pädagogik und der Politikwissenschaft. Markant erscheint mir vor allem ein zweiter Befund, wonach nämlich bei der Beschäftigung mit dem Thema heute Formen der ästhetischen (beispielsweise literarischen oder filmischen) Verarbeitung im Vordergrund stehen, nicht aber die Verbrechen selbst. Mir ist es wichtig, den Blick auf die Taten zu richten, zu vermitteln, dass der Massenmord ein gesellschaftlicher Prozess war und auch in Bezug auf die Zeit nach Kriegsende die gesellschaftlichen Zusammenhänge im Umgang mit den Verbrechen zu betrachten.
Halten Sie es für möglich, dass rechtspopulistische und rechtsradikale Bewegungen mit der Leugnung und Infragestellung der Verbrechen wieder einen größeren Rückhalt finden könnten?
Gewiss, platte Leugnungen durch rechte Gruppierungen gibt es nach wie vor. Oft laufen die „Argumentationslinien“ aber anders, beispielsweise so, dass sich solche Gruppen in die Tradition des Widerstands gegen den Nationalsozialismus stellen und genau damit Zuspruch finden. Dennoch: Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist ein Fundament der politischen Kultur in Deutschland. Daran werden solche Gruppen nicht rütteln können. Freilich muss diese Errungenschaft gepflegt werden.
Fritz Bauer ist nicht zuletzt durch verschiedene Filme der letzten Jahre stärker ins öffentliche Bewusstsein getreten. Wundert Sie, dass vorher erstaunlich wenig über diesen bedeutenden Mann in der Öffentlichkeit bekannt gewesen ist?
Fritz Bauer gehörte zu denjenigen, die die kritische Selbstaufklärung über die NS-Zeit in der Bundesrepublik überhaupt erst in Gang gebracht haben. Es ging ihm darum, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen einen Sinn für Menschenwürde und Verantwortlichkeit, überhaupt die Grundlagen für ein demokratisches Rechtsbewusstsein zu schaffen. Der Gegenwartsbezug war für ihn wichtig. In den späten fünfziger und den sechziger Jahren schrieb er für Zeitungen, trat im Radio und im Fernsehen auf. Er war in der west-deutschen Öffentlichkeit sehr präsent (das Fritz Bauer Institut hat erst vor Kurzem eine DVD mit Tondokumenten von Fritz Bauer veröffentlicht, herausgegeben von David Johst). Jedoch verschwand Bauer nach seinem Tod im Juli 1968 allmählich aus dem öffentlichen Bewusstsein.
[dt_quote type=”pullquote” layout=”right” font_size=”big” animation=”none” size=”3″]»Fritz Bauer gehörte zu denjenigen, die die kritische Selbstaufklärung über die NS-Zeit in der Bundesrepublik überhaupt erst in Gang
gebracht haben.«[/dt_quote]
Erinnert wurde erst wieder an ihn, als das Fritz Bauer Institut 1995 gegründet wurde – als „Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust“. Und zu einer neuerlichen, weit stärkeren Erinnerungswelle kam es, als 2009/10 zunehmend Publikationen über Fritz Bauer erschienen. Dann folgten die Filme. Heute gibt es eigene Initiativen, die sich dafür einsetzen, sein politisches und rechtspolitisches Lebenswerk in der Öffentlichkeit zu würdigen. Dass es ein hohes Bedürfnis gibt, an Bauer zu erinnern, halte ich für bemerkenswert. Seine Forderung nach kritischer Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und nach Einsicht in die gesellschaftliche Verantwortung des Einzelnen ist ohne Zweifel aktuell.
Ihr zweites Arbeitsgebiet ist ja die Gesellschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik – wird Sie das Thema auch weiterhin beschäftigen?
Ich habe mich in meiner Habilitationsschrift mit dem Umgang mit Sexualität in West-Deutschland von den späten vierziger bis in die frühen siebziger Jahre beschäftigt. Es geht um Gesetze zu „Schmutz und Schund“ und ihre historischen Bezüge, die bis in 19. Jahrhundert reichen, um den Einfluss der amerikanischen Wissenschafts- und Populärkultur auf West-Deutschland, namentlich in Gestalt der beiden Kinsey-Reporte, und um Beate Uhse mit ihrem Versandhandel. Die Geschichte der Sexualität oder Sittlichkeit, wie man damals sagte, zeigt viel über das Selbstverständnis und die Selbstverständigungsprozesse der bundesdeutschen Gesellschaft – auch in Bezug auf die Beschäftigung mit der NS-Zeit. Der ein oder andere Aufsatz dazu geht mir tatsächlich im Kopf um. Mal sehen, wann ich dafür Zeit haben werde. Übrigens war Fritz Bauer einer der Protagonisten, der in den sechziger Jahren für die Reform des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik eintrat – ganz im Sinne der Schaffung eines demokratischen Rechtsbewusstseins.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.17 (PDF-Download) des UniReport erschienen.