Kunst als Therapeutikum

Frankfurter Städel Museum und Arbeitsbereich Altersmedizin der Goethe-Universität entwickeln App für Menschen mit Demenz

Foto: Städel Museum

Demenz ist bislang nicht heilbar, aber ihr Voranschreiten kann gebremst werden. Das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz spielt dabei eine wichtige Rolle. Welche Effekte die Beschäftigung mit bildender Kunst haben kann, das erforschen Dr. Valentina Tesky und Dr. Arthur Schall vom Arbeitsbereich Altersmedizin der Goethe-Universität.

Die Idee ist eigentlich bereits 2012 entstanden. Dr. Valentina Tesky und Dr. Arthur Schall nahmen an einem Alzheimer-­Kongress in Vancouver teil. In einem Vortrag erfuhren sie von einem Projekt am Museum of Modern Art in New York zum Thema Kunst­vermittlung für Menschen mit Demenz. »Das war neu und sehr anregend«, erinnert sich ­Psychologin Tesky, die ebenso wie ihr Kollege Arthur Schall schon damals am Arbeitsbereich Altersmedizin am Institut für Allgemeinmedizin tätig war. Zurück in Frankfurt, entwickelten sie ihre eigene Projektidee. Ein Partner war bald gefunden: Das Frankfurter Städel Museum hatte bereits Angebote für Menschen mit Krebs und Projekte für Familien und Kinder. Die Bereitschaft war groß, auch für Menschen mit Demenz etwas anzubieten.

Im Rahmen des ersten derartigen Praxis-­Forschungsprojekts in Deutschland wandten sich das renommierte Frankfurter Kunstmuseum und die Goethe-Universität mit Führungen speziell an Menschen mit Demenz und deren Angehörige. Welche Bilder sich dafür eigneten, welche Informationen dazu wie übermittelt werden konnten – hierfür entwickelten Schall und Tesky gemeinsam mit dem Bereich Bildung und Vermittlung des Städel Museums das Konzept. »Menschen mit Demenz bekommen am besten Zugang über biographische oder emotionale Anknüpfungspunkte«, erklärt Psycho­loge Arthur Schall, der auch Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker ist. Entstanden sind unter dem Namen ARTEMIS (ART Encounters: Museum Intervention Study) sechs unterschiedliche Kunstführungen zu Themen wie »Frankfurt am Main«, »Familie und Kinder«, »Die Farbe Blau« oder »Abstrakt«. Bereits im Vorbildprojekt aus New York hatte sich gezeigt: Die Menschen wollten nicht nur etwas über Kunst hören und darüber sprechen, sie wollten auch Kunst machen. Und so gehört zu jeder Führung im Städel auch ein Workshop im Atelier. Die dabei entstandenen Bilder wurden sogar schon im Frankfurter Rathaus für Senioren ausgestellt.

Kunst bringt Licht in den Alltag von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen, die positiven Auswirkungen sind auch wissenschaftlich belegt. Der Arbeitsbereich Altersmedizin der Goethe-Universität hat vor zehn Jahren bereits das Führungsprogramm ARTEMIS gemeinsam mit dem Frankfurter Städel Museum entwickelt und mit einer Studie begleitet. Mittlerweile ist es fest im Angebot des renommierten Hauses etabliert. Foto: Arthur Schall, Goethe-Universität

Fast zehn Jahre ist es nun her, seit das ­Führungsangebot in die Erprobung ging, wissenschaftlich begleitet wurde es über diese Zeit ­hinweg durch den Arbeitsbereich Altersmedizin an der Goethe-Universität, der von Professor ­Johannes Pantel geleitet wird. Wie wirkt sich der gemeinsame Museumsbesuch und die Beschäftigung mit der Kunst auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen aus? Das Ergebnis der umfassenden Studie war positiv: »Negative Stimmungen wie Apathie und Depressivität gingen zurück, das Verhältnis zur Bezugsperson wurde verbessert. Die Workshops ermöglichen die nonverbale Befassung mit Kunst, das steigerte das Gefühl von Selbstwirksamkeit«, erklärt Valentina Tesky. Das Städel machte die Demenz-Führungen zum dauerhaften Angebot. Inzwischen seien ähnliche Angebote wie Pilze aus der Erde geschossen, berichten Tesky und Schall – wenn auch zumeist ohne wissenschaftliche Begleitung. Das Team der Altersmedizin jedoch war unter anderem involviert bei der Schulung von Kunstvermittlerinnen im Museum Giersch der Goethe-Uni und wurde auch vom Museum »Grimmwelt« in Kassel konsultiert. Die Grundregeln für die Kommunikation mit Betroffenen auf Ebene der Kunstvermittlung: keine Gewaltdarstellungen, keine Überforderung, Anknüpfen an Bekanntes und Vertrautes.

In der Coronazeit keimte eine neue Idee: Für Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ins Museum kommen können, ist ARTEMIS Digital entstanden, mit leicht reduzierter Themenpalette, aber dafür mit einführenden Kurzvideos und Musik. Spielerisch können die verschiedenen Themenfelder erkundet werden, die App bietet viele Gesprächsangebote für die Betroffenen und ihre Begleitpersonen. Menschen mit Demenz waren in die Entwicklung der digitalen Anwendung einbezogen, durften mitentscheiden, welche Sprecherstimme die angenehmste ist, welche Schriftgröße am besten lesbar.

Ein wesentlicher Bestandteil sind die Workshops, in denen Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst in den Ateliers des Städel künstlerisch aktiv werden können. Nun wird es ARTEMIS auch in einer digitalen Version geben (kleines Bild oben rechts): Ähnlich wie in der analogen Version kann man sich auch am Tablet oder PC mit Kunstwerken auseinandersetzen, zum Beispiel mit einem Blumenstilleben von Rachel Ruysch von 1698. Foto: Städel Museum

»Wir waren sehr gern bereit, da mitzumachen«, sagt Helmut Krapf, der mit seiner Frau Sigrid extra von Darmstadt ins Liebieghaus kam, um die Vorarbeiten für die Anwendung am Bildschirm zu testen – 2022 war bei Sigrid Krapf eine Demenz diagnostiziert worden. Die analogen Führungen im Städel Museum haben die beiden schon mehrmals mitgemacht, und immer sei es eine schöne Abwechslung vom Alltag gewesen: »Ich finde, dass es bei dieser Krankheit sehr wichtig ist, möglichst lange soziale Kontakte zu pflegen, selbst wenn es den Betroffenen ab und zu etwas schwerfällt. Deshalb möchte ich solche Angebote so lange wie möglich wahrnehmen«, sagt Helmut Krapf. Als selbständige Friseure hätten sie früher kaum genug freie Zeit gehabt, ins Museum zu gehen. Sigrid Krapf hat auch viel Freude an den Workshops nach der Führung, in denen die beiden Darmstädter jedes Mal selbst gestaltete Bilder und Skulpturen mit nach Hause nehmen. »Sie war schon immer sehr kreativ«, erzählt ihr Mann über die 79-Jährige. Gern werde man sich auch im Rahmen einer Studie an der Erprobung der digitalen ARTEMIS-Anwendung beteiligen, die im Herbst fertiggestellt sein wird.

Für die Erprobungsphase werden derzeit noch weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesucht: Menschen mit leichter bis mittlerer Demenz und ihre Begleitpersonen. 50 Paarungen können ARTEMIS Digital erproben, bevor sie offiziell vom Städel Museum angeboten wird. Finanziert wird das Projekt seit Beginn an aus Mitteln der Familie Schambach-Stiftung aus Frankfurt.

Foto: Sven Gerweck

Zur Person / Arthur Schall wurde in theoretischer Medizin promoviert – mit einer Arbeit über das ARTEMIS-Projekt. Er ist Psychologe, Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Altersmedizin am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind kreativtherapeutische Interventionen bei psycho­geriatrischen Erkrankungen (insbesondere durch den Einsatz von Musik und Kunst), Kommunikation und Lebensqualität bei Demenz, Prävention demenzieller Erkrankungen, depressive Störungen im Alter sowie psychosoziale Behandlungs- und Trainingskonzepte.
schall@allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de

Foto: Dominik Heinz

Zur Person / Valentina Tesky ist Diplom-Psychologin und systemische Beraterin. Sie wurde 2010 ebenfalls in theoretischer Medizin promoviert. Ihre Doktorarbeit befasste sich mit Demenzprävention: Sie hat ein Trainingsprogramm entwickelt, durchgeführt und evaluiert, um kognitiven Leistungseinbußen im Alter vorzubeugen.  Ihre Forschungsschwerpunkte als stellvertretende Leiterin des Arbeitsbereichs Altersmedizin am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität sind Prävention von kognitiven Leistungseinbußen im Alter, psychosoziale und kreativtherapeutische Interventionen bei Demenz, Kommunikation und Einwilligungsfähigkeit von Menschen mit Demenz sowie Altersdepression.
tesky@allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de

Foto: U. Dettmar

Die Autorin / Dr. Anke Sauter, Jahrgang 1968, ist Referentin für Wissenschaftskommunikation und Redakteurin von Forschung Frankfurt.
sauter@pvw.uni-frankfurt.de 

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen

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