Wie nicht-codierende RNA die Therapie von kardiovaskulären Erkrankungen revolutionieren könnte
Auf den ersten Blick sind sogenannte nicht-codierende RNA (ncRNA) in der Zelle völlig nutzlos, enthalten sie doch – anders als die Boten-RNA (mRNA) – keine Erbinformation, die zum Bau von Proteinen genutzt werden kann. Seit den 1990er Jahren ist klar: Eine Zelle stellt Tausende verschiedener ncRNA-Moleküle her, die zahlreiche wichtige Funktionen erfüllen. Stefanie Dimmeler untersucht, wie ncRNA physiologische Prozesse im Herzen steuern und wie sie sich therapeutisch nutzen lassen, etwa zur Regeneration des Herzens nach einem Infarkt oder zur Heilung von Aneurysmen.

Mit fast 18 Millionen Todesfällen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die weltweit häufigste Todesursache. Heute werden sie hauptsächlich mit Medikamenten behandelt, die körpereigene Eiweiße (Proteine) hemmen oder aktivieren. Da sich aber viele Proteine nicht auf diese Weise beeinflussen lassen, sind neuartige Therapieansätze dringend notwendig. Ganz neue Möglichkeiten eröffnen hier Nukleinsäuren. Obwohl ihr therapeutisches Potenzial seit Jahrzehnten erforscht wird, hat erst die Coronapandemie mit dem millionenfachen Einsatz von mRNA-Impfstoffen therapeutischen Nukleinsäuren zum Durchbruch verholfen.
Heute rücken zunehmend die nicht-codierenden RNA (ncRNA) in den Fokus der Medizin. Sie kommen in fast allen Organismen bis hin zum Menschen vor und stellen wie die Boten-RNA die Abschrift eines Gens dar, tragen aber keine Bauanleitung für ein Protein. Einige dieser ncRNA sind zum Beispiel an der Proteinherstellung beteiligt. Die meisten ncRNA und den Teil des Erbguts, der dafür codiert, hatte man jedoch lange Zeit für wertlosen »Müll« gehalten. Inzwischen weiß man es besser: Viele ncRNA-Moleküle haben wichtige regulierende Funktionen. Außerdem übertreffen sie beim Menschen Schätzungen zufolge die Anzahl der »klassischen« proteincodierenden Gene um etwa das Zehnfache.
Finetuning von Gennetzwerken

Am Institut für Kardiovaskuläre Regeneration der Goethe-Universität erforscht Prof. Stefanie Dimmeler die Rolle von ncRNA bei der Entstehung von Herz- und Gefäßkrankheiten. Dabei hat sie immer auch die Entwicklung neuer Therapien im Blick. »Bereits während meines Biologiestudiums habe ich die translationale Forschung für mich entdeckt«, so die Forscherin. »Es macht mir große Freude, wenn ich Grundlagenforschung und klinische Forschung miteinander verbinden kann.« Dabei interessiert sich Dimmeler für ganz verschiedene Aspekte des Herz-Kreislauf-Systems, etwa wie das Herz altert oder wie es durch verschiedene Prozesse im Körper reguliert wird. Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen die Zellen, die Blutgefäße auskleiden, die Endothelzellen. Sie übernehmen wichtige Aufgaben im Herz-Kreislauf-System, erklärt Dimmeler: »Sind Endothelzellen geschädigt, hat das nicht nur Folgen für den Blutfluss, sondern auch für die Herzfunktion.« Es gebe jedoch noch keine Medikamente, die die Funktion der Endothelzellen spezifisch beeinflussen.
Hier kommen nun die ncRNA ins Spiel. Sie lassen sich in mehrere Gruppen einteilen, von denen eine schon sehr lange bekannt und gut erforscht ist: die Transfer-RNA (tRNA), die eine wichtige Rolle bei der Übersetzung von Boten-RNA in Protein spielen. Die microRNA wurden dagegen in den 1990er Jahren zuerst im Fadenwurm Caenorhabditis elegans entdeckt, kommen aber wohl auch im gesamten Tier- und Pflanzenreich vor. Sie sind mit meist nicht mehr als 25 Nukleotid-Bausteinen sehr kurz und haben in der Zelle die Aufgabe, die Aktivität von Genen herunterzuregulieren. Dazu binden sie über komplementäre Basenpaarung an eine bestimmte Boten-RNA, die daraufhin von zellulären Enzymen abgebaut wird. Das durch die Boten-RNA codierte Protein kann nun nicht mehr hergestellt werden. In ihrer Wirkungsweise ähneln microRNA damit einer anderen ncRNA-Gruppe, den small interfering RNA (siRNA), die in Zellen ebenfalls Gene regulieren. Allerdings sind microRNA weniger spezifisch als siRNA und damit in ihrer Wirkung breiter, wie Dimmeler ausführt: »microRNA erkennen oft Hunderte von verschiedenen Boten-RNA. Damit können sie ein ganzes Gennetzwerk regulieren.« Unterschiede gebe es auch in der Effizienz: Während siRNA ein Gen in der Regel vollständig abschaltet, reduzieren microRNA die Genaktivität nur um 30 bis 40 Prozent. »Das ist im Prinzip eine Art Feinabstimmung«, schlussfolgert die Herzforscherin.

microRNA schützen vor Atherosklerose
Inzwischen existieren erste Therapieansätze, die auf microRNA basieren, etwa auf einer Gruppe, die als miR-143/145 bezeichnet wird. Dieses microRNA-Cluster – so konnte Dimmeler zeigen – schützt die Blutgefäße vor der Bildung von atherosklerotischen Plaques. Die Forscherin untersucht deshalb, ob sich miR-143/145 gezielt in Enothelzellen einbringen lässt. Dazu verpackt sie die microRNA in Mikrovesikel. »Mikrovesikel sind kleine Membranbläschen, in die die microRNA eingeschlossen werden kann«, erklärt Dimmeler. »Die Bläschen verschmelzen mit der Zellmembran und ermöglichen den microRNA so den Eintritt in die Zelle.« Ein noch neuer Fund macht Hoffnung auf eine weitere positive Wirkung. So schützt miR-143/145 nicht nur vor Atherosklerose, sondern stabilisiert auch die Interaktion der Herz-Endothelzellen mit Nervenzellen. Wenn im Alter die Menge an miR-143/145 im Herzen zurückgeht, geht auch diese schützende Wirkung verloren und die Endothelzellen stoßen die Nervenzellen vermehrt ab. »Wenn es uns mithilfe von miR-143/145 gelingt, die neuronalen Interaktionen im Herzen aufrechtzuerhalten, könnten wir mit dem Wirkstoff also gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen«, hofft Dimmeler.
Hemmstoffe für schädliche microRNA
Wenn bestimmte microRNA schaden statt schützen, zielt eine therapeutische Nutzung auf eine Blockade der Moleküle ab. Ein solcher blockierender Wirkstoff, der eine microRNA namens miR-92a im Visier hat, hat sogar bereits eine erste klinische Studie der Phase 1 erfolgreich abgeschlossen. Darin werden Sicherheit und Wirksamkeit eines Medikaments an einer kleinen Zahl gesunder Probanden untersucht. Der menschliche Körper produziert miR-92a in den Endothelzellen als Reaktion auf Stressbedingungen. Dadurch werden die Gefäße geschädigt. »Wir haben deshalb Moleküle entwickelt, sogenannte Antisense-Moleküle, die an miR-92a binden und damit verhindern, dass miR-92a ihre Zielgene blockiert. Das hat einen stark schützenden Effekt, etwa bei Herzinfarkt und anderen Krankheiten, die mit einer Minderdurchblutung einhergehen«, fasst Dimmeler zusammen. »Die Anti-miR-92a ist im Menschen gut verträglich und bei sehr niedriger Dosis wirksam.« Nach einem Herzinfarkt kann der Wirkstoff per Katheter direkt in die Infarktregion gegeben werden. Studien zufolge reicht bereits eine einzige Behandlung aus, um miR-92a für bis zu vier Wochen zu reduzieren. Inzwischen wurde das Patent für den Wirkstoff an eine Firma lizensiert, die die Therapie nun zum Patienten bringen soll.
Gemeinsam mit den Kooperationspartnern im Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) entwickelt Dimmelers Team derzeit eine weitere Therapie, die auf der Hemmung einer weiteren microRNA, miR-29, beruht. miR-29 ist an der Entstehung von Aneurysmen beteiligt. Diese lebensgefährlichen Aussackungen bilden sich, wenn ein Blutgefäß seine Stabilität verliert. Verantwortlich dafür ist die verstärkte Bildung von miR-29, die dafür sorgt, dass in den betroffenen Gefäßen das stabilisierende Kollagen abgebaut wird. »Gemeinsam mit Prof. Lars Mägdefessel vom Münchner Standort des DZHK beschichten wir Katheterballons mit Anti-miR-29 und bringen diese mit dem Katheter genau in die Aussackung«, erklärt Dimmeler das Therapieprinzip. »So wird miR-29 blockiert, und die Zellen können wieder Kollagen bilden und das Gefäß stabilisieren.« In Tests an Schweinen konnte die Wirksamkeit bereits nachgewiesen werden. Bestätigt sich dies im Menschen, könnten mit Anti-miR-29 beschichtete Ballons Aneurysmen bereits in der Frühphase entgegenwirken und diese vielleicht sogar heilen – ein großer Fortschritt zu heute gängigen chirurgischen Verfahren, die oft risikobehaftet sind.
(Noch) spekulative lncRNA-Forschung
Im Vergleich zu den microRNA ist die sehr heterogene Gruppe der langen ncRNA (lncRNA) sehr viel schlechter erforscht. Darunter fallen alle ncRNA, die aus mehr als 200 Nukleotiden bestehen. Ihre Funktionen sind sehr vielfältig, was neben ihrer Unhandlichkeit ihren therapeutischen Einsatz erschwert. Außerdem haben sich die lncRNA-Gene im Laufe der Evolution deutlich stärker verändert als die microRNA-Gene, so dass sich Ergebnisse aus Studien mit Tieren schlechter auf den Menschen übertragen lassen. Trotzdem sei Forschung an lncRNA aufschlussreich und wichtig, so Dimmeler: »Wir haben bereits etliche von ihnen gefunden, die in Gefäßläsionen verändert reguliert und an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sind. Wenn wir verstehen, welche Rolle die lncRNA spielen und mit welchen Biomolekülen sie wechselwirken, können wir versuchen, diese Wechselwirkungen gezielt zu hemmen.« Daraus könnte dann in Zukunft wieder eine ganz neue Form von Therapeutikum entstehen.
Gerade für die schwierige lncRNA-Forschung seien Kooperationen unerlässlich, so Dimmeler. Ihre Zusammenarbeit mit den Münchner Forschern vom DZHK wird unter anderem durch den Sonderforschungsbereich Transregio 267 »Nicht-kodierende RNA im kardiovaskulären System« der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Besonders wichtig für die Pionierarbeiten an ncRNA sei außerdem das ebenfalls DFG-geförderte Exzellenzcluster »Cardio-Pulmonary Institute« (CPI), an dem neben der Goethe-Universität die Universität Gießen und das Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung in Bad Nauheim beteiligt sind. Der Cluster fokussiert auf die Schnittstelle zwischen Herz-Kreislauf- und Lungenforschung und fördert auch neuartige Projekte, die noch keine Vorarbeiten vorweisen können und deshalb bei der Bewerbung um Fördergelder oft schlechte Aussichten haben. »Die Anschubfinanzierung für die noch sehr spekulative ncRNA-Forschung durch das CPI ist ein wesentlicher Grund, warum wir uns so erfolgreich in verschiedene neue Bereiche aufmachen können und überhaupt die Chance haben, solche neuen Therapieansätze zu entwickeln«, ist die Forscherin überzeugt.
Cardio-Pulmonary Institute / Ziel des Exzellenzclusters Cardio-Pulmonary Institute (CPI) ist es zu verstehen, welche molekularbiologischen Prozesse dem Funktionieren von Herz und Lunge und ihrem Versagen bei Erkrankungen zugrunde liegen. Dazu entwickeln die CPI-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler hochschulübergreifend Modellsysteme von Zellkulturen bis zu Tiermodellen und kombinieren die Ergebnisse mit Untersuchungsdaten von Patientinnen und Patienten, um neue Therapieansätze zu finden. Der Cluster wurde erstmals von 2006 bis 2018 als »Excellence Cluster Cardio-Pulmonary System« gefördert und konnte sich 2019 erneut als Exzellenzcluster Cardio-Pulmonary Institute durchsetzen. Projektpartner sind die Goethe-Universität Frankfurt, die Justus-Liebig-Universität Gießen, das Max-Planck-Institut für Herz- und Lungenforschung in Bad Nauheim sowie die Universitätsmedizin Göttingen.

Zur Person / Stefanie Dimmeler ist Professorin für Molekulare Kardiologie und Direktorin des Instituts für Kardiovaskuläre Regeneration der Goethe-Universität Frankfurt. Nach Studium der Biologie und Promotion an der Universität Konstanz habilitierte Dimmeler in Frankfurt in Experimenteller Medizin. Sie ist Sprecherin des durch die DFG geförderten Exzellenzclusters Cardio-Pulmonary Institute (CPI), Co-Sprecherin des Sonderforschungsbereiches TRR 267 »Cardiovascular ncRNA« sowie Gründungssprecherin des Forschungsprofilbereichs »Molecular and Translational Medicine« der Goethe-Universität. Zudem fungiert sie als Vorstandssprecherin des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Neben verschiedenen internationalen Gastprofessuren und zahlreichen Auszeichnungen erhielt Dimmeler 2005 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, die höchste wissenschaftliche Ehrung in Deutschland.
dimmeler@em.uni-frankfurt.de

Die Autorin / Larissa Tetsch hat Biologie studiert und in Mikrobiologie promoviert. Anschließend war sie in der Grundlagenforschung und später in der Medizinerausbildung tätig. Seit 2015 arbeitet sie als freie Wissenschafts- und Medizinjournalistin und betreut zusätzlich als verantwortliche Redakteurin das Wissenschaftsmagazin »Biologie in unserer Zeit«.