„The University and the City“: Ein Gespräch mit den Mitorganisatoren Brigitte Geißel und Rolf van Dick

Zusammengekommen aus Frankfurts Partnerstädten: Politische Vertreter*innen und Wissenschaftler*innen aus Krakau, Budapest, Lyon, Prag, Tel Aviv, Mailand, Thessaloniki und Yokohama, hier gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel und dem Sozialpsychologen Rolf van Dick (4. und 5. Von links)

Internationale Zusammenarbeit von Städten und Universitäten hat sich die Konferenzreihe „The University and the City“ zum Ziel gesetzt, die nun zum fünften Mal von der Stadt Frankfurt und dem International Office der Goethe-Universität gemeinsam ausgerichtet wurde. „Democratic Innovations: Engaging citizens in politics“ lautete das Thema der diesjährigen Veranstaltung in Frankfurt, die die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel und der Sozialpsychologe Rolf van Dick auf Seiten der Goethe-Universität inhaltlich gestalteten und an der Politiker*innen und Wissenschaftler*innen der Partnerstädte Krakau, Budapest, Lyon, Prag, Tel Aviv, Yokohama, Mailand und Thessaloniki teilnahmen. Ein Gespräch über Bürgerinitiativen, die Rolle von NGOs und kleine Schritte gegen eine gespaltene Gesellschaft.

Gesellschaften sind zunehmend polarisiert – das ist nicht nur in den USA zu beobachten. Mit dem Titel Ihrer Veranstaltung legen Sie nahe, dass der Stadt etwas gelingen kann, was dem Staat nicht gelingt: nämlich Bürger für das Gemeinwesen zu interessieren und zusammenzubringen.

Prof. Dr. Brigitte Geißel: In gewisser Weise ist das so. Städte sind so etwas wie das Laboratorium der Demokratie. Vieles, was später auf der Bundesebene verhandelt wird, hat auf der Lokalebene seinen Anfang gefunden. Die Städte sind deshalb auch Schulen der Demokratie. Bürger können im Lokalen demokratische Kompetenzen entwickeln.

Viele Städte befinden sich – in dem sie etwa Budgetkürzungen ausgesetzt sind –  quasi in Opposition zu ihren Landes- und Bundesregierungen. Findet die Bürgerbewegung im Widerstand statt?

Geißel: Das kann man nicht verallgemeinern. Aber bei unserer Tagung haben wir natürlich wahrgenommen, dass das in Budapest und Krakau der Fall ist. Diese Städte stehen gewissermaßen in Opposition zu ihren nationalstaatlichen Parlamenten. Auch in den USA haben wir das erlebt – Trump war aus dem Klimabündnis ausgetreten und viele, viele Städte haben gesagt: Wir bleiben dabei.

Kann man so weit gehen zu sagen: Je intensiver die Reibungspunkte einer Stadt mit der Regierung, desto innovativer und kreativer die Bürgerbewegung?

Geißel: Nein, soweit kann man wohl nicht gehen. Die Stadt Lyon, die seit wenigen Jahren ein grünes Parlament hat und nicht wirklich in Opposition zu Macron steht, ist zum Beispiel unglaublich innovativ. Dort gibt es sehr viele Formen der Bürgerbeteiligung.

Prof. Rolf van Dick: Von einer Ausnahme abgesehen waren alle angereisten politischen Vertreterinnen der Städte junge Frauen. Die Bürgermeisterin von Tel Aviv zum Beispiel ist eine Aktivistin aus der LGBT-Bewegung. Die politischen Repräsentanten ändern sich. Und was die Reibungspunkte betrifft: Die Budgetkürzungen, die Budapest erlebt hat, waren ja nicht der Ausgangspunkt für die Opposition, sondern eher eine Bestrafung für nicht-linienkonforme Politik. Hier gehen manche Städte tatsächlich ein Risiko ein.

Geißel: Bürgerbeteiligung in so einer Situation ist auch eine gute Legitimationsressource. Auch Orbán interessiert sich ausgesprochen für das, was Bürger wollen – vielleicht auch um es zu kanalisieren und größere Widerstände zu verhindern. Bezieht eine Stadt in dieser Situation auf lokaler Ebene Bürger ein, kann sie sagen, „wir wissen, was die Bürger wollen“. Sie kann sich besser behaupten.

Aber noch einmal: Wichtiger als Reibungspunkte ist für eine kreative Bürgerbeteiligung die Aktivität von Politikern vor Ort oder auch der Druck von unten, der Wunsch der Bevölkerung nach Beteiligung.  

Da sie die grüne Partei in Lyon ansprechen: Politikverdrossenheit bedeutet also nicht, dass automatisch Parteien abgelehnt werden?

Geißel: Nein, viele Initiativen werden ja gerade von politischen Repräsentanten angestoßen. Das sind längst nicht alles zivilgesellschaftliche Initiativen. Was zeigt, dass die Parteien sich geöffnet haben. Die Vertreterin aus Tel Aviv hätte vor zwanzig Jahren wohl kaum eine Chance gehabt, als Aktivistin stellvertretende Bürgermeisterin zu werden. Die Parteienlandschaft ist wirklich in Bewegung.

Van Dick: Über die Folgen wurde auch heftig diskutiert: Die Vertreterin aus Krakau hat etwa davon gesprochen, dass manche Bürgerveranstaltungen von NGOs geradezu „gekapert“ würden, was der Mehrheit der Bürger oft gar nicht so recht sei.

Geißel: Auch der Vertreter aus Mailand hat das sehr deutlich gemacht: NGOs sind auch Interessensgruppen. Und manchmal sei es nicht einfach zu unterscheiden, wo zivilgesellschaftliches Engagement aufhöre und die klassische Lobbyarbeit beginne. Das ist sehr spannend.

Einige Formate der Bürgerbeteiligung wie Bürgerräte und Planungszellen arbeiten per Zufallsauswahl. Schafft man es so, dass auch wirklich die teilnehmen, die sonst kaum politisch präsent sind?

Geißel: Da haben Sie ein ganz großes Problem angesprochen, dass allerdings allen bewusst ist. Die Vertreterin von Lyon hat sie die Supercitizens genannt: Menschen, die Zeit haben, die in Rente sind, gebildet, überall präsent, ihre Meinung sagen. Es gibt aber verschiedene Möglichkeiten, dieser Dominanz entgegenzuwirken und auch politisch nicht aktive Bürgerinnen und Bürger anzusprechen. Eine Möglichkeit ist die Zufallsauswahl, am besten eine doppelte. Sie gewährleitet Diversität. Dann gibt es das Format der aktiven Mobilisierung: also das Von-Haustüre-zu Haustüre-Gehen, In-Sportvereine-Gehen, In-die-Schulen-Gehen. Und es gibt passive Mobilisierung: Online-Information, Webseiten, Broschüren-Verteilen. Man weiß inzwischen auch: Je nachdem, welches Verfahren man wählt, ändert sich die Priorisierung von Themen. Die einen wollen das Schwimmbad unterstützen, die anderen die Bibliothek, die dritten die Oper. Es müssen also immer verschiedene Formate gleichzeitig angewandt werden, sonst erhält man ein schiefes Bild.

Van Dick: Diskutiert wurde zum Beispiel auch die Rolle von Onlinetools: Auf der einen Seite ermöglicht Online mehr Beteiligung, weil die Teilnahme sehr einfach ist; auf der anderen Seite schließt dieses Format wieder bestimmte der Teile der Bevölkerung aus.

Gab es Städte, die in der Bürgerbeteiligung besonders kreativ waren?

Van Dick: Impulse hat die zweitägige, coronabedingt eher kurze Tagung auf jeden Fall gegeben. Aber was noch wichtiger ist: Die Vertreter sind nun alle miteinander in Kontakt gekommen – und werden den Kontakt sicher halten. Lyon hat schon angedeutet, im nächsten Jahr zu einer ähnlichen Konferenz einladen zu wollen.

Und wie steht es um die Stadt Frankfurt? Immerhin hat Oberbürgermeister Peter Feldmann das Thema vorgeschlagen …

Geißel: Der Oberbürgermeister und Stadträtin Frau Dr. Hartwig haben Interesse an dem Thema. Frau Hartwig hat von einigen Aktivitäten der Stadt berichtet, wie beispielsweise der Beteiligungsplattform „Frankfurt fragt mich“. Nach der Kommunalwahl und mit der neuen Besetzung des Römers sind aber sicher bald weitere Schritte in Richtung Bürgerbeteiligung zu erwarten.

Welche Rolle spielt nun die Wissenschaft bei der Veranstaltung?

Geißel: Wir wollten diesen Austausch zwischen den Wissenschaftler*innen und den Vertretern der Stadt. Für mich war unglaublich interessant, was in Lyon gerade alles passiert und wie viele Bürgerhaushalte es in Tschechien gibt. An den Haushalten, deren Mittel durch Bürgerentscheide verteilt werden, beteiligen sich zum Beispiel bis zu 20 Prozent der Bevölkerung! Von diesen Zahlen können wir in Deutschland träumen. Wir denken immer, wir sind die ersten oder die einzigen oder besonders innovativ. Und dann passiert so unendlich viel in Krakau oder in tschechischen Dörfern und Städten. Auch der Beitrag aus Budapest war sehr interessant, der davon berichtete, dass sich alle Gruppen in einer electoral innovation gegen die die Fidesz-Partei zusammenzuschließen. Das hat mich alles schon sehr beeindruckt.

Können Sie als Wissenschaftler auch Input geben?

Van Dick: Frau Geißels Vortrag hat Beispiele genannt, die in der Politik so nicht bekannt waren. Aber umgekehrt waren viele Diskussionen für uns als Hochschule sehr inspirierend. Als wir etwa die Goethe-Universität als Europäische Hochschule bewarben, waren wir überzeugt davon: Als Hochschule sind wir doch der Ort, der den Städten oder Regionen helfen kann, Probleme zu lösen. Dazu muss man aber erst einmal eine Plattform kreieren, durch die man erfährt, welche Probleme die Stadt überhaupt hat. Und umgekehrt muss die Stadt die Universität auch als Partner zum gemeinsamen Nachdenken wahrnehmen. Viele Abteilungen des Magistrats würden sich wohl eher an eine Unternehmensberatung wenden als Expertise von der Goethe-Uni oder der Frankfurt University einholen.

Geißel: Wissenschaftler können sich viel ausdenken, aber es muss zu dem passen, was an Bedarf da ist. Der wechselseitige Austausch ist ganz wichtig, und wir kooperieren in vielfacher Weise mit der Stadt. Gerade machen unsere Studenten zum Beispiel im Auftrag der Stadt eine Umfrage zur Bundestagswahl.

Was mir der Austausch mit den Städten aber auch noch einmal gezeigt hat: Es gibt kein one size fits all, also kein Format, dass besonders gut und allgemeingültig ist. Man muss wirklich gucken, welche Formate zu einer Stadt passen.

Sie haben von den vielen Initiativen in Lyon gesprochen; gleichzeitig war die Beteiligung an den französischen Kommunalwahlen kürzlich extrem gering. Bleibt die Bürgerbewegung da nicht im Kleinen stecken, eigentlich folgenlos?

Geißel: Vielleicht müssen wir uns von unseren klassischen Vorstellungen trennen, was politische Legitimität ist. Wahlen wären dann nur ein Format von vielen Formen politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Außerdem gibt es auch Politisierungsprozesse bei den Bürgern, die an anderen Bürgerbeteiligungsverfahren teilnehmen. Sie machen vielleicht die Erfahrung, Politik ist eine tolle Sache und stellen sich dann zur Wahl.

Van Dick: Ich fand das Schweizer Format „Diskutier‘ mit mir“ sehr spannend. Menschen können ihre Meinung in ein System eingeben, und dann werden sie mit jemandem in Kontakt gebracht, dessen Meinung extrem weit von ihrer eigenen entfernt ist. Unter einer moderierten Anleitung können sie dann miteinander diskutieren.

Geißel: Das Schweizer Beispiel funktioniert aber auch deshalb gut, weil die Schweizer Bevölkerung so viel entscheiden kann. Vor einem Referendum wird eben sehr intensiv diskutiert, um politische Entscheidungen quasi referendumsfest zu machen. Es gibt eine Tradition der Auseinandersetzung unterschiedlicher Interessen. Denn man weiß: Am Ende muss eine Entscheidung gefällt werden – und zwar eine, mit der alle einverstanden sind.

Van Dick: Ich erinnere mich an ein Projekt für Windkraftanlagen hier in Hessen, dass nach einer recht guten, aber eben doch nicht ausreichenden Vorbereitung der Bürgerbewegung knapp gescheitert ist. Am Ende waren Befürworter wie Gegner unzufrieden, und das Projekt hinterließ eine gespaltene Gesellschaft. Eigentlich ging es nur noch darum: Warst du für oder warst du gegen die Windkraft?

Geißel: Wenn es nur wenige Referenden gibt, besteht eine große Gefahr, die Gesellschaft zu spalten. Wenn es aber viele Referenden gibt und die Bevölkerung öfter zu unterschiedlichen Themen befragt wird, dann entstehen kreuz und quer gehende Polarisierungen. Die Lager lösen sich gewissermaßen auf. Das ist aber ein sehr langer Lernprozess.

Interview: Pia Barth; Foto: Uwe Dettmar

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz „The University and the City“ 2021 haben das folgende Kommuniqué unterzeichnet:

Frankfurter Declaration on the Future of Democracy

Gathered in the heart of Europe in Frankfurt am Main – the cradle of German Democracy which began in 1848/1849 with the convening of the Frankfurt National Assembly in the Paulskirche, and a city firmly committed to the values oft the European Union

– united in the spirit of „government of the people, by the people, for the people“,

– resolute in our desire to develop the democratic idea in innovative ways,

– and mindful of the deep scars left by the SARS-CoV-2 pandemic

– we, the representives of global cities and metropolises as present in Frankfurt am Main on this day July 1th, 2021, issue the following declaration on the future of democracy and the importance of citizen participation:

As elected representives of our cities, we stand for

1. ongoing dialogue with our citizens about the shared future in our cities and in a democratic world;

2. a society in which the democratic participation of citizens is accorded paramount importance;

3. intensification of the international exchange of experience at the political, social, cultural and academic levels;

4. the core democratic values of our citizens;

5. the safeguarding of universal and inalienable human rights in every country of the world;

6. finding new, active ways to open up politics and the political decision-making processes to all citizens;

7. innovative and modern forms of citizen participation aimed at realising the democratic ideals of governance. 

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