Der neue Masterstudiengang am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie geht in sein zweites Semester. Das englischsprachige Studienangebot auf internationalem Niveau wird durch interdisziplinäre Kooperationen an der Goethe-Universität bereichert.
Erst wenn ein Wintersturm den Bus- und Bahnverkehr zum Erliegen bringt, das Mobiltelefon keinen Empfang mehr hat, die Waschmaschine streikt und unser Lieblingsmüsli wegen der Verunreinigung einer Produktionsanlage zurückgerufen wurde, wird uns bewusst, dass unser Alltagsleben aufs engste mit technischen Infrastrukturen verbunden ist.
Diese im Normalfall unbemerkt bleibenden Verflechtungen – und die weitreichenden Wechselwirkungen, die der Ausfall nur eines Elements haben kann –, gehören zum Forschungsfeld einer in Deutschland noch recht neuen Fachrichtung, den Science and Technology Studies, kurz: STS. Dieses sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm erforscht empirisch die Herstellung und Anwendung wissenschaftlichen Wissens.
Die ersten STS-Forscher begannen schon in den 1970er Jahren Wissenschaftler bei ihrer Arbeit in naturwissenschaftlichen Labors zu beobachten. Dabei nutzten sie häufig ethnographische Feldforschungsmethoden, die ursprünglich im frühen 20. Jahrhundert für die Untersuchung fremder Kulturen entwickelt wurden, aber jetzt für die Analyse moderner Gesellschaften eingesetzt werden.
Heute sind die Science and Technology Studies weltweit an vielen renommierten Forschungsuniversitäten etabliert und gelten als ein „transdisziplinäres“ Unterfangen, an dem nicht nur zahlreiche Sozial- und Kulturwissenschaften beteiligt sind, sondern vor allem auch die Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften aufgehoben werden soll.
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Eröffnung
Die feierliche Eröffnung des Studiengangs fand im Rahmen einer Abendveranstaltung am 18. Januar 2018 statt. Andrew Barry, Humangeograph am University College London und ein prominenter Vertreter der Science and Technology Studies aus Großbritannien, machte den Auftakt mit einem Vortrag über den Bau internationaler Öl- und Gaspipelines und die dabei entstehenden Konflikte zwischen ökonomischen, geopolitischen und ökologischen Interessen. Diese analysierte er analog zum Thema des Abends als „Wissenskontroversen“. Besonders die kulturanthropologische Methode der ethnographischen Feldforschung sei geeignet, politisch brisante Situationen und unabgeschlossene Prozesse zu beobachten, so Barry.
In der anschließenden Podiumsdiskussion mit der Kulturanthropologin Gisela Welz, dem Soziologen Thomas Lemke (beide Goethe-Uni) und Gastredner Andrew Barry (UCL) ging es um die Frage, ob die Science and Technology Studies sich auf dem Weg zur Etablierung als eigenständige Wissenschaftsdisziplin befinden. Man war sich einig darin, dass die doppelten Identitäten der STS-Forscher – als Vertreter ihrer jeweiligen sozialwissenschaftlichen Fächer und als Beiträger zum einem interdisziplinären Programm – viele Vorteile bietet. Die Zusammenarbeit zwischen Natur- und Sozialwissenschaften erfordere aber, dass STS-Forscherinnen und -Forscher sich intensiv in natur- und technikwissenschaftliche Felder einarbeiten und „deren Sprache sprechen“.
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Was gilt als wissenschaftliche Tatsache und was nicht, warum streiten Experten mit Politikern, und wieso sind Wissenschaftler untereinander grundsätzlich uneins? Klimawandel, selbstfahrende Autos, Atomenergie, Datensicherheit im Internet, Impfpflicht gegen Masern – das sind Fragen, die nicht nur Experten, sondern auch Laien umtreiben. Zumal man heute auch in vielen privaten Entscheidungen auf wissenschaftsbasierte Angebote und Empfehlungen zugreift und dabei mit der Vielfalt widersprüchlicher Expertenurteile konfrontiert wird.
Das reicht von eher trivialen Dilemmata – welche der Diätempfehlungen im Fernsehmagazin macht den gefürchteten Jo-Jo-Effekt vermeidbar? – bis hin zu schicksalhaften Lebensentscheidungen, wenn sich etwa werdende Eltern für ein neues pränatal-diagnostisches Verfahren entscheiden und sich mit einem besorgniserregenden Befund auseinandersetzen müssen.
Dass die Bewertung der gleichen technologischen Option in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich sein kann, dass Legitimitätskonflikte zwischen Wissenschaftlern und ethische Debatten über mögliche Technikfolgen auch historische und kulturelle Gründe haben, dass wirtschaftliche Interessen, politische Konflikte und rechtliche Regelungen Wissenschaftsdynamiken befeuern und häufig entscheidend dafür sind, welche technologischen Neuerungen implementiert werden und welche nicht: Diese Themen stehen seit Beginn des Wintersemester 2017/18 auf dem Lehrplan des Masterstudiengangs Science and Technology Studies
Interdisziplinäre Kooperationen
In Frankfurt wird der Studiengang auf Englisch angeboten, auch wenn die Muttersprache der Lehrenden und vieler Studierender Deutsch ist. Der Masterstudiengang heißt mit vollem Namen „Science and Technology Studies: Economies, Governance, Life“. Am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, das zum Fachbereich 09 Sprach- und Kulturwissenschaften gehört, wurde auch schon bisher zu digitalen Medien, globalen Ökonomien und Biotechnologien geforscht und die wechselseitige Durchdringung von Natur und Kultur thematisiert.
Der neue Studiengang ist aber zugleich auch Ergebnis einer erfolgreichen interdisziplinären Kooperation an der Goethe-Universität. Denn bereits 2014 begannen an der Goethe Universität die Soziologen Thomas Lemke, Thomas Scheffer sowie Endre Danyi und die Humangeographen Peter Lindner und Marc Boeckler mit der Kulturanthropologin Gisela Welz und ihrem Team zusammenzuarbeiten und gemeinsame Forschungsinteressen und Lehrinhalte zu entdecken.
Entstanden ist daraus ein Masterstudiengang, der in der Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie angesiedelt ist und durch wechselseitig geöffnete Lehrveranstaltungen mit den Masterstudiengängen MA Soziologie (Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften) und MA Geographien der Globalisierung (Fachbereich 11 Geowissenschaften/ Geographie) eng verbunden ist.
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Was ist eigentlich STS?
STS entstand ursprünglich an angloamerikanischen und französischen Universitäten in den 1980er Jahren und etablierte ein produktives Schnittfeld von Soziologie, Anthropologie, Philosophie, Geographie, Politik- und Geschichtswissenschaften. Zentrales Anliegen war es zunächst, wissenschaftliches Wissen und Technik als soziale und kulturelle Phänomene zu verstehen und die Praxis der Wissensproduktion in ihren epistemologischen Voraussetzungen empirisch zu erforschen. Damit einher ging in vielen Fällen die Übernahme des ethnographischen Ansatzes, der aus der Kulturanthropologie stammt. Umgekehrt orientieren sich auch Sozial- und Kulturanthropologinnen und -anthropologen heute zunehmend an STS-Ansätzen, wenn sie neue Technologien sowohl in ihren wissensbasiert-technologischen wie sozial-kulturellen Voraussetzungen und Effekten zu verstehen suchen.
Einführende Literatur (Auswahl): Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven. Herausgegeben von Susanne Bauer, Torsten Heinemann und Thomas Lemke (Frankfurt am Main: suhrkamp 2017); Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Herausgegeben von Stefan Beck, Jörg Niewöhner und Estrid Sorensen (Bielefeld, transcript 2012).
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Forschendes Lernen
Es gibt in Deutschland bisher erst eine Handvoll weiterführender Studiengänge, die einen Abschluss in STS anbieten. Berufsfelder eröffnen sich für Absolventinnen und Absolventen beispielsweise in Energie- und Verkehrspolitik, Public Health und Gesundheitswesen, Produktentwicklung und Implementierung digitaler Technologien, Risikobewertung und Verbraucherschutz ebenso wie in NGOs, Kulturinstitutionen, Öffentlichkeitsarbeit, Medien sowie in Unternehmens- und Politikberatung.
Der Frankfurter Studiengang bietet Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen aus verschiedenen Fächern die Möglichkeit, Studieninhalte, die sonst eher im Ausland angeboten werden, auf Englisch an der Goethe-Universität zu studieren. Das bezeugt auch die hohe Nachfrage internationaler Studienbewerberinnen und -bewerber zur Neueröffnung im letzten Jahr. Auch die bisherigen Studienbiographien der fünfzehn Studierenden, die im Oktober 2017 als erste Kohorte das Studium aufgenommen haben, sind äußerst vielfältig.
Tin Oi Wong aus Hong Kong zum Beispiel arbeitet zurzeit bei einem südhessischen Hochtechnologieunternehmen als Werkstudentin und könnte sich eine Masterarbeit über den Einsatz von Robotik vorstellen, Tim Schütz, der mit seinem in Bremen erworbenen Bachelor in Kulturwissenschaft nach Frankfurt kam, plant für den Herbst einen Auslandsaufenthalt an der University of California in Irvine, wo er an einem Forschungsprojekt über den Zusammenhang von Luftverschmutzung und Asthma beteiligt sein wird, während sein Studienkollege Tobias Boczanski schon während seines Bachelorstudiengangs der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie begonnen hatte, als studentische Hilfskraft an einer von der Kulturanthropologin Petra Ilyes aufgebauten Forschungskooperation mit dem Fraunhofer Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT) und der TU Darmstadt mitzuarbeiten.
Die Entscheidung für eigene Forschungsprojekte, die in der Masterarbeit münden, wird durch ein „Research Curriculum“ erleichtert, in dem die Studierenden über den gesamten Forschungsprozess hinweg eng betreut werden und das von der langjährigen Erfahrung des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie mit dem forschenden Lernen im Rahmen von mehrsemestrigen Lehrforschungsprojekten profitiert.
Autorin: Gisela Welz
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.18 (PDF-Download) des UniReport erschienen.
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Informationen zum Masterstudiengang Science and Technology Studies
www.uni-frankfurt.de/63707506/Master-STS
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