Der bulgarische Politologe Ivan Krastev sprach im Rahmen der vierten John McCloy Lecture im Forschungskolleg Humanwissenschaften über den Einfluss demographischer Ängste auf die Abkehr von der Demokratie.

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Osteuropa und dem Ende des Kalten Krieges rief der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ aus: Die liberale Demokratie westlicher Prägung werde sich auf der ganzen Welt durchsetzen und alle anderen Herrschaftsformen ablösen. Heute wissen wir, dass diese Voraussage falsch war. In vielen Ländern sind inzwischen autoritäre Herrscher an der Macht, und demokratische Gesellschaften sehen sich mit inneren Zersetzungstendenzen konfrontiert. Die Geschichte ist nicht zu Ende, die Zukunft ist offen.
Diese Beobachtung bildete den Ausgangspunkt der vierten John McCloy Lecture, die Ivan Krastev – Politologe, Politikberater, Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien und Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia – Anfang April am Forschungskolleg Humanwissenschaften hielt. Der Titel seines Vortrags lautete „The Return of the Future and the Last Man: Politics of Demographic Imagination“.
Zunächst hob er hervor, dass 1989 – also das Jahr, das nach Francis Fukuyama den Siegeszug der liberalen Demokratie einläutete – für viele Menschen eine andere Bedeutung habe: 1989 sei auch das Jahr des Rückzugs der Sowjetunion aus Afghanistan, was der radikale Islam als großen Erfolg gegen eine Supermacht betrachtet habe, der Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking und der nationalistischen Amselfeld-Rede des serbischen Präsidenten Slobodan Miloševic gewesen.
Der Frage nach den Gründen des Aufwinds autoritärer und nationalistischer Bewegungen näherte sich Krastev aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Er betrachtete demographische Prognosen, die Angst auslösen würden. Die Mehrheit der Menschen lebe heute in Ländern, in denen die Reproduktionsrate unterschritten sei. In Südkorea etwa gehe man von einem Bevölkerungsrückgang von 50 Prozent in 20 Jahren aus; in den USA kursiere die Angst, dass die weiße Bevölkerung irgendwann nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung stelle und unterdrückt werde, und auch Russland befürchte einen massiven Bevölkerungsrückgang infolge sinkender Geburtenraten. Diese „demographische Imagination“ rufe bei vielen Menschen eine antidemokratische und antiliberale Haltung hervor. Man fürchte, bei demokratischen Wahlen nunmehr in der Minderheit zu sein, einer aussterbenden Gattung anzugehören und gleichsam zu den „letzten Menschen“ einer Nation zu zählen. Dafür würden die liberale Weltsicht und Kultur, zum Beispiel der Feminismus, verantwortlich gemacht.
In einer lebhaften Diskussion mit dem Publikum wurden viele kritische Fragen aufgeworfen, etwa danach, ob Krastev die „demographische Imagination“ als alleinige Ursache des zunehmenden Autoritarismus verstehe und ob er Auswege sehe. Die Zukunft sei offen, so Krastev, aber man müsse den Elefanten im Raum sehen und sich mit ihm auseinandersetzen.
Die John McCloy Lectures werden vom John McCloy Transatlantic Forum am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität in Bad Homburg veranstaltet. Die Lectures laden Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Gesellschaft dazu ein, ihre Sicht auf aktuelle Entwicklungen der transatlantisch geprägten Demokratie in einem öffentlichen Abendvortrag zur Diskussion zu stellen.
Vortrag zum Nachhören auf dem YouTube-Kanal des Forschungskolleg Humanwissenschaften