Center for Critical Computational Studies (C3S) der Goethe-Universität stellt mit hochkarätiger Veranstaltung neuen Forschungsschwerpunkt vor.
Forschung zu den Wechselwirkungen von Digitalität und Demokratie und zu den Dynamiken des Wandels: Dem hat sich das neue Center for Critical Computational Studies (C3S) verschrieben. Universitätspräsident Prof. Enrico Schleiff erklärte bei der Eröffnung der Veranstaltung „Planetary Hopes“ Mitte Juni: „Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich immer schneller, und unsere Handlungen als Menschen haben immer drastischere Folgen für die Stabilität des Planeten. Als Präsident dieser Universität bin ich deshalb mit der Idee angetreten, ein Zukunftsinstitut zu gründen, das sich auf besondere, interdisziplinäre Weise der Herausforderungen unserer Zeit des Wandels annimmt, die immer dringlicher werden.“ Digitalität sei nicht nur ein Treiber der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation, sie sei auch ein Instrument, mit dessen Hilfe man die Welt besser verstehen und die Zukunft gestalten könne, so Schleiff.
Hessens Wissenschaftsminister Timon Gremmels hatte beim Pressegespräch vor der Veranstaltung betont: „Wir haben hier ein einzigartiges wissenschaftliches Ökosystem gerade in den Themenfeldern IT, Hochleistungsrechnen, Quantencomputing, Künstliche Intelligenz und Big Data.“ Mit Blick auf das C3S und dessen Schwerpunkt Earth·Nature·Society hob er hervor: „Wie hier Digitalität und Anthropozän, also unser vom Menschen maßgeblich gestaltetes Zeitalter, zusammengebracht werden, setzt Maßstäbe. Mich fasziniert am C3S insbesondere die Interdisziplinarität: Hier sind per se IT-nahe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Bioinformatikerinnen oder Spezialisten für Algorithmen ebenso beteiligt wie Juristen und Erziehungswissenschaftlerinnen. Ich bin froh und stolz darauf, dass eine hessische Universität eine so innovative Einrichtung hervorbringt.“
Mindestens zwölf neue Professuren sollen am C3S perspektivisch gemeinsam mit weiteren internen und externen Forschenden die Critical Computational Studies zu einem eigenständigen Forschungsprofil entwickeln, das sich auch auf Lehre und Ausbildung erstreckt. Dabei erfolgt die Besetzung in einem neuartigen Verfahren: Vorbereitend finden Workshops statt, bei denen die Goethe-Universität herausragende Kolleginnen und spannende Ideen sondiert. Das erfolgt open rank und open discipline, das heißt ohne Vorfestlegung auf bestimmte Disziplinen, und mit letztendlicher Einstufung gemäß den Qualifikationen und Erfahrungen der Kandidatinnen. Die eigentlichen Berufungsverfahren finden dann mit Findungskommissionen statt.
Angedacht sind Forschungsteams zu Feldern wie den Schnittstellen zwischen klassischer Netzwerkwissenschaft und Deep Learning; der Berechnung von Kippelementen und ihren Wechselwirkungen bei fortschreitender Klimaerhitzung; der Modellierung der sozialen und sozioökonomischen Triebkräfte und Auswirkungen der Erderwärmung sowie von Ökosystemen und Biodiversität in ihrer Wechselbeziehung dazu; Kritik des Computerwesens: Kritische Datenwissenschaft; Ethik der Datenverarbeitung; Wissenschafts- und Technologiestudien; Wissenschaft, Philosophie und Geschichte der Computertechnologie; Vorhersagen in komplexen Systemen; Fortgeschrittene Simulation in den Lebenswissenschaften und in den Sozialwissenschaften.
Planetare Hoffnungen
Mit der Veranstaltung „Planetary Hopes“ (planetare Hoffnungen) konnte das C3S seinen Forschungsschwerpunkt Earth·Nature·Society erstmals der Öffentlichkeit vorstellen. Wissenschaftler*innen aus Frankfurt und ihre Gäste beschäftigten sich dabei insbesondere mit der Frage, ob und wie computer- und datengestützte Methoden zur Lösung planetarer Polykrisen beitragen können. C3S-Gründungsdirektorin Prof. Dr. Juliane Engel stellte einleitend Perspektiven auf den neuen Themenschwerpunkt vor. Impulsvorträge kamen von der Vizepräsidentin der Universität für Chancen, Karriereentwicklung, Karriereförderung, Diversität und Gleichstellung, Prof. Dr. Sabine Andresen, der Frankfurter Stadträtin für Digitales, Eileen O’Sullivan, sowie Dr. Nico Wunderling vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der sich mit der Berechenbarkeit von Kipppunkten unterschiedlicher Systeme und ihrer Abhängigkeit untereinander befasste.
Prof. Dr. Ilona Otto, Professorin für Gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz, betrachtete in ihrer Keynote „Socio-metabolic conflicts in the Anthropocene“, also Konflikte zwischen sozialen Gruppen mit unterschiedlichem Energie- und Ressourcenverbrauch unter den Vorzeichen globaler Umweltveränderungen. Prof. Dr. Klement Tockner, Generaldirektor der „Socio-metabolic conflicts in the Anthropocene“, sprach über den One-Health-Ansatz, der auf dem Verständnis beruht, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander verwoben ist. Moderiert wurden die Keynotes von Prof. Dr. Thomas Hickler, Professor für Quantitative Biogeographie an der Goethe-Universität, und Prof. Dr. Jochen Blath, Leiter der Fachgruppe Stochastik am Fachbereich Mathematik der Goethe-Universität.
Viele Daten, wenig Wissen?
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion unter Moderation von Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann (Universität zu Köln) tauschten sich u.a. Thomas Langkabel, National Technology Officer von Microsoft Deutschland, Dr. André Ullrich vom Weizenbaum-Institut und die Professor*innen Otto und Tockner aus. Modelle basierten auf Daten, stellte die Moderatorin einleitend fest; doch dass sich dahinter auch normative Vorstellungen versteckten, werde oft nicht in den Blick genommen. Ob es einer empirisch-normativen Verbindung bedarf, fragte sie daher in die Runde. „Wir müssen immer auch die Frage aufwerfen, wie wir künftig leben wollen, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen“, betonte Ilona Otto. Thomas Langkabel konzedierte, dass die Empirie zwar bei Microsoft sehr im Fokus stehe; jedoch sei ein weltweit tätiges Unternehmen immer auch mit unterschiedlichen Werten konfrontiert. Daten betrachte man beispielsweise in den USA vor allem als Wirtschaftsgut, in Europa werde stärker über den Schutz von individuellen Daten nachgedacht.
André Ullrich vertrat die Ansicht, dass Werte zwar immer auch eine gewisse Kontextabhängigkeit aufwiesen, grundsätzlich aber die Formulierung globaler Werte unausweichlich sei. Er plädierte für „alternative Narrative“; große Technologiekonzerne neigten dazu, dass sie Lösungen für globale Probleme bereithielten, dabei aber unterschlagen würden, auch Teil des Problems zu sein. Reststoffe würden z.B. immer noch nicht ausreichend zurück in den Kreislauf gebracht. Clement Tockner gab zu bedenken, dass das Mehr an Daten keineswegs einhergehe mit einem Mehr an Wissen. Zudem sei das Wissen zunehmend ungleich verteilt. Wenige würden immer mehr, viele immer weniger wissen. Er sprach von eine „Oligopolisierung“ des Wissens: Die öffentliche Hand gebe weniger für Wissen aus, die private immer mehr. Die Welt werde einerseits transparenter, andererseits aber auch komplexer, stellte Thomas Langkabel fest; man müsse die Menschen befähigen, mit Daten umzugehen und die Komplexität auszuhalten. Das „ubiquitäre Computing“ allein hole die Leute noch nicht ab. Ilona Otto wies auf das Problem hin, dass sozioökonomische Daten, wie sie auch über Social Media generiert werden, für die Forschung nur begrenzt zugänglich seien.
Moderatorin Indra Spiecker fragte mit Blick auf den Befund, dass mit Daten auch Geschäfte gemacht werden, wie man die verschiedenen Akteure zusammenbekäme. Transdisziplinarität bedeute, so Clement Tockner, die wichtigen Zukunftsfragen mit allen Akteuren gemeinsam zu entwickeln. Damit würden zugleich verschiedene Wissensformen zusammengebracht: Orientierungswissen, Handlungswissen und eben auch akademisches Wissen. Das Zeitproblem, so die Moderatorin, stelle zunehmend ein Problem dar: Auf der einen Seite werde durch Künstliche Intelligenz das Wissen in immer kürzerer Zeit auf den Kopf gestellt; auf der anderen Seite aber brauche man auf der Lern- und Bewältigungsebene sehr viel Zeit. Mehr Transparenz, aber auch mehr Regulierung forderte Ilona Otto ein. KI werde leider noch zu oft für banale Zwecke genutzt, um Produkte besser zu verkaufen oder mehr Follower zu erzeugen. Clement Tockner gab zu bedenken, dass viele internationale Abkommen nicht funktionierten. Europäische Delegationen würden im internationalen Kontext häufig für ihren hohen moralischen Anspruch kritisiert, es wäre dann oft die Rede von einem „Wertekolonialismus“. Indra Spiecker brachte die Diskussionen über Regulierungen auf die Beobachtung, dass einerseits der Staat selten über so wenig Macht verfügt hätte wie heute, andererseits aber selten so viele Rufe nach seiner Macht erfolgten. Die für Zukunftsfragen zuständigen Player müssten zu Lösungen gebracht, Kreisläufe neu justiert und empirische und normative Fragen zusammengebracht und in Handlungen übertragen werden, so Spiecker. Der Kanon an Instrumenten müsse überdacht werden; auch die Citizen Science gehöre dazu.
df