Kein richtiges Leben im falschen?

Drei Romanheld*innen werden auf ganz unterschiedliche Weise mit den Widersprüchen der Gegenwartsgesellschaft konfrontiert: Die Erziehungswissenschaftlerin Yandé Thoen-McGeehan hat gerade ihren ersten Roman „Weiße Wolken“ veröffentlicht.

Gut gelaunt mit ihrem ersten Roman vor dem Schreibtisch, an dem Adorno vielleicht der epochale Satz vom »richtigen Leben im falschen« einfiel: Yandé Thoen-McGeehan.

Einfach schreiben, bis der Text fertig ist. Und dann schauen, was man mit dem Manuskript macht. Wie Yandé Thoen-McGeehan bei ihrem ersten Roman vorgegangen ist, klingt nicht unbedingt nach dem üblichen Weg in Frankfurt, der Metropole des deutschen Literaturbetriebs.

Die Erziehungswissenschaftlerin und ausgebildete Kinderpsychotherapeutin verfügte bis zu ihren ersten literarischen Gehversuchen über kein „Vitamin B“, wie sie betont. Und doch hat sie das nicht davon abgehalten, sich in die Welt der Fiktion zu begeben, wissenschaftlich publiziert hatte sie zu dem Zeitpunkt schon. „In der Zeit der Pandemie habe ich mich einfach hingesetzt und etwas zu Papier gebracht. Wohin ich dann das Manuskript schicken kann, habe ich mir einfach ergoogelt“, lacht sie. Eine in Frankfurt ansässige Literaturagentin zeigte Interesse an dem Text und fand einen renommierten Kölner Verlag, die Rezensionen des Romans waren bislang sehr positiv.

Auch wenn man Thoen-McGeehan eher als literarische Quereinsteigerin sehen kann, so hat sie doch eine Art von Poetologie für ihr Schreiben parat: „Als Therapeutin hört man viel zu, nimmt Geschichten auf, mit denen man sich dann auseinandersetzt. Das berührt ja häufig auch etwas in Bezug auf die eigenen Lebensthemen. Auch Träume bieten reichhaltiges Material, und seit Freud weiß man, dass Träume selber schon wie Literatur funktionieren, indem sie real Erlebtes verdichten oder verschieben“, sagt sie. In ihrer Forschung am Institut für Sonderpädagogik beschäftigt sie sich unter anderem mit der Psychoanalyse und be- und hinterfragt diese mit Blick auf Mutterschaft und Migration.

Leben im Frankfurter Nordend

Thoen-McGeehan verschlingt Romanliteratur, vor allem aus dem angelsächsischen Kontext. Auch deutsche Autor*innen wie Helga Schubert oder Nele Pollatschek hätten sie stark beeinflusst und darin bestärkt, ihre Romanfiguren durchaus widersprüchlich anzulegen. Da ist die dreifache Mutter Dioe, die versucht, die Anforderungen des bürgerlichen Lebens an der Seite des erfolgreichen Ökonomen Simon in den Griff zu bekommen. Ihre jüngere Schwester Zazie studiert noch und arbeitet in einem Jugendhaus als Pädagogin. Während Dieo ein ausgleichendes Wesen hat, ist Zazie ein Heißsporn, geht keiner Debatte über Rassismus und Ausgrenzung aus dem Weg. Der Vater der ungleichen Schwestern stammt aus dem Senegal, ihre Mutter ist eine Deutsche. Die drei Protagonisten bewegen sich in einem durchaus privilegierten Milieu, das Altbauwohnungen schätzt, stylishe Cafés und Vintageläden aufsucht, Lastenfahrräder als Fortbewegungsmittel bevorzugt und souverän und mehrsprachig im interkulturellen Austausch agiert. Und doch schlummern auch in ihren Lebenswelten Abgründe, die besonders von der akademisch geprägten Zazie bisweilen lautstark und rechthaberisch thematisiert werden. Mit welchen Stereotypen werden schwarze Deutsche versehen, auch wenn es positive sind? Wie überlagern sich Diskurse über Rassismus, Benachteiligung von Frauen, versperrte Bildungszugänge und unzureichende Generationengerechtigkeit? Auch wenn Thoen-McGeehan es schafft, diese verschiedenen Diskurse anzusprechen und in die Handlung zu integrieren, ist der Roman keine wütende Anklage, sondern eine insgesamt sehr amüsante und augenzwinkernde Milieubeschreibung, in der sich viele junge und junggebliebene Akademiker*innen wiedererkennen dürften.

Das Sprechen mit und über den anderen

Thoen-McGeehan hat sich in ihrer Forschung unter anderem mit dem Begriff des „Othering“ beschäftigt. Wenn beispielsweise weiße Psychoanalytiker*innen über migrantische Menschen sprechen und nachdenken, spürt Thoen-McGeehan den Projektionen eigener verpönter und unliebsamer Anteile nach. Hat sie angesichts ihrer eigenen Forschung nicht auch daran gedacht, ein Sachbuch zu verfassen, dass sich dem Thema Alltagsrassismus in der deutschen Gegenwartsgesellschaft widmet? „Ich habe viele Bücher dazu gelesen, beispielsweise von dem amerikanischen Journalisten Ta-Nehisi Coates. Seine Bücher entfalten einen bestimmten Sog, indem sie Rassismus anprangern. Das aufklärerische Moment kann einen aber auch verzweifelt und resigniert zurücklassen. In einem Roman lässt sich hingegen die Ambivalenz dieses Themas subtiler darstellen, denke ich.“ Man spürt, dass sie sich ihren Protagonist*innen innerlich verbunden fühlt, auch wenn diese in ihrem Alltag bisweilen inkonsequent agieren mögen. Thoen-McGeehan sieht die Wissenschaft an dieser Stelle kritisch: „Als Forschende bewaffnet man sich oft regelrecht mit seinem Wissen, mit seiner Fachsprache. Damit kann man die Menschen geradezu traktieren. Stattdessen einen emotionalen Zugang zu suchen, wäre oft besser, wenn es um Themen wie die sogenannte ‚Flüchtlingskrise‘ geht. Wenn man über die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer nur einen Beitrag in der Tagesschau sieht, lässt es einen möglicherweise kalt. Wenn ich aber einen Bezug zu den Menschen entwickele, wenn sich eine wie auch immer geartete Identifikation mit deren Schicksalen einstellt, verändert sich etwas.“

Leben und Fiktion

Wenn man Thoen-McGeehans Lebensdaten heranzieht, dann scheint sich eine autobiografische Lesart ihres Debüts geradezu aufzudrängen. Wie die beiden Schwestern im Roman hat sie auch erst spät und mit großem Gewinn die große Verwandtschaft ihres Vaters im Senegal kennengelernt. Hat sie diese Nähe zwischen Fakten und Fiktion beim Schreiben als Risiko gesehen? Zumindest hat sie sich für einen anderen Verfasserinnennamen entschieden, auf dem Cover prangt der Name Yandé Seck. „Das ist der Familienname meiner senegalesischen Familie“, erklärt sie. „Ich denke, das Verhältnis zwischen dem eigenen Leben und dieser festgeschriebenen Fiktion ist ganz schön komplex. Durch das Ausschnitthafte und Festgeschriebene entsteht ein Bild. Die Realität ist ja dynamisch und kann schon alleine deshalb nicht deckungsgleich mit diesem Bild sein. Und dann gibt es ja noch die Leser*in, die etwas ganz eigenes mit dem Text macht ….“ Thoen-McGeehan findet es auch sehr amüsant, wenn Familienmitglieder und Freunde glauben, sich im Roman wiederzuerkennen. „Mein Mann sagte nach der Buchpremiere: ‚Jetzt denken alle, ich sei Simon, aber damit muss ich jetzt wohl leben.‘ Wir haben überlegt, was daraus vielleicht für neue Freiheiten entstehen können.“

Trägt sie sich bereits mit dem Gedanken, nach dem erfolgreichen Debüt nachzulegen? „Man hat mir geraten, den ‚Weißen Wolken‘ erst einmal Raum zu geben und sich Zeit zu lassen. Ich hatte auch anfangs das Gefühl, alles gesagt und erzählt zu haben. Aber eigentlich ließe sich gut daran anknüpfen. Das Leben der nächsten Generation im Roman, der Generation Z, weiterzuerzählen, würde mich sehr interessieren.“

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