In der Begleitausstellung Wechselstoffe zur aktuellen Poetikvorlesung treten Frankfurter Positionen aus der Bildenden Kunst in den Dialog mit Judith Schalanskys Werk.

Nur wenige Tage vor Ausstellungsbeginn wird im Dante 9, dem Ausstellungsraum des Universitätsarchivs gegenüber vom alten Campus Bockenheim und in direkter Nachbarschaft zum Institut für Sozialforschung, noch fleißig gewerkelt. Einige Objekte fallen dem Betrachter sofort ins Auge, dafür sieht man vergleichsweise wenig Text. Kein Zufall: Der Germanist Prof. Roland Borgards, der zusammen mit seiner Kollegin Prof. Susanne Komfort-Hein, Geschäftsführerin der Frankfurter Poetikvorlesungen, das Begleitprogramm geplant hat, erläutert den Ansatz: „Wir wollten mit unserer Begleitausstellung zur Poetikvorlesung den Blick noch einmal weiter öffnen: Was geschieht, wenn nicht allein die Autorin Thema der Ausstellung ist, sondern im Dialog andere Positionen hinzugefügt werden? Weil Schalansky eine Autorin ist, für die Gestaltung, Farben, Materialien und Formen eine zentrale Rolle spielen, sollten die Dialogpartner aus der zeitgenössischen Bildenden Kunst kommen. Was geschieht auf dem kurzen Weg vom Lesen zum Sehen? Darum soll es gehen.“
Die Frankfurter Künstlerin Vroni Schwegler, die Judith Schalanskys Schaffen mit großem Interesse verfolgt, wurde angesprochen. Sie zeigte sich von der Idee einer Ausstellung, die mit Bildender Kunst auf Literatur reagiert, begeistert. „Bei der Auswahl ging es Roland Borgards und mir vor allem darum, gute Kunst zu zeigen, möglichst unterschiedliche Positionen, die im Zusammenspiel und vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Texten von Judith Schalansky wie in einem Labor miteinander reagieren und sich noch einmal neu entfalten und zeigen. Es war ein Experiment mit offenem Ausgang. Wir wussten ja nicht, was die Kollegen dann wirklich zeigen wollen und mochten es ihnen auch nicht vorschreiben. Wir vertrauen der Sensibilität der Künstler. Ich ahne, dass ich mir erst im Rundgang und Künstlergespräch ganz bewusst machen kann, was nun wirklich sichtbar wird“, sagt Vroni Schwegler.
Unter Einbeziehung des Titels der Poetikvorlesung „Marmor, Quecksilber, Nebel“ entschied sie sich, Michael Kolod und Jan Schmidt, zwei Frankfurter Künstler verschiedener Generationen, anzusprechen. „Beim ‚Marmor‘ im Titel musste ich gleich an Jan Schmidt denken. Und Michael Kolod, der aus meiner Sicht der Großmeister des Umwertens ist, ein Alchemist, der aus den entsetzlichsten Baumarktmaterialien die schönsten und poetischsten Objekte formt, indem er sie erhitzt, schmelzen lässt, ausgießt oder eintunkt, der passt natürlich hervorragend zum Quecksilber.“ Schmidt und Kolod waren ebenfalls von der Idee einer Kollaboration sehr angetan.
Wie sind die drei nun vorgegangen, wurde speziell für die Ausstellung neue Kunst geschaffen? „Nein, dafür hätte auch der Vorlauf sicherlich nicht gereicht“, erklärt Michael Kolod. „Wir haben uns jeweils unsere Werke angeschaut und eine Auswahl getroffen, was passen könnte. Wir machen sozusagen die Begleitmusik zur Poetikvorlesung, aber mit eigenen Stimmen.“ Jan Schmidt ergänzt: „Ich hätte mir auch nicht vorstellen können, speziell zu einzelnen Werken von Judith Schalansky etwas zu machen. Aber bei der Beschäftigung mit ihren Texten sind mir schon viele Überschneidungen aufgefallen; so beschäftigt sie sich sehr intensiv mit Verlusten. Auch in meinen Arbeiten spielt das eine Rolle, zum Beispiel in dem hier ausgestellten zweiteiligen Werk ‚Sägearbeit #3‘: 2015 habe ich auf dem Boden der Städtischen Galerie Delmenhorst Schnitte in ein Stück griechischen Marmor gemacht und das dabei entstehende Marmorpulver in Form eines großen Feldes auf dem Boden liegen lassen. Nach Ausstellungsende wurde das Werk zusammengekehrt und das Pulver in ein Glas gefüllt. In der Ausstellung zeige ich nun die Relikte dieser Aktion.“
Sein Mitstreiter Michael Kolod hat mit „Lesefrucht“ etwas im Ausstellungsraum platziert, das vielschichtig und anspielungsreich wirkt. Wie eine aufgeklappte Frucht, aber auch wie ein Buch wirkt das Objekt, das unter anderem aus alten eingeschmolzenen Müllsäcken und Lehm hergestellt wurde. „Alles vorgefunden, nichts gekauft“, betont Kolod. Auch beim hölzernen Hochtisch, auf dem die „Lesefrucht“ liegt, handelt es sich um etwas Vorgefundenes – „lag in meinem Keller“, sagt Kolod. Er sieht in Schalanskys Werk das für ihn auch sehr wichtige Thema der Vergänglichkeit sehr stark vertreten: „Ein Thema, dem sich Kunst immer schon verpflichtet gefühlt hat, dem sie aber auch eine eigene Ästhetik der Vergänglichkeit gewissermaßen entgegensetzt. Dass Judith Schalansky mit dem Thema Vergänglichkeit arbeitet, ganz ohne Wehleidigkeit, hat mir imponiert.“
Neben den Objekten der drei Frankfurter*innen stehen auch noch drei Vitrinen im Ausstellungsraum, mit Materialien von Judith Schalansky: jeweils eine mit Manuskripten, Karten und gefundenen Objekten. Für die ausgestellten Manuskripte ist Schwegler besonders dankbar. „Hier kann man der Autorin wirklich bei der Arbeit zusehen. Wir sehen, wie Schalansky die rhythmische Einteilung eines Buches in einer Zeichnung überprüft. Wie sie Kapitel nach unterschiedlichen Gesichtspunkten einteilt und ordnet, Texte zerschneidet und neu zusammenstellt. Diese fassbaren, farbigen Materialien zeigen uns den Entstehungsprozess.“ Über der Vitrine hängt eine Zeichnung von Schwegler. Als Bildträger dient die Innenseite eines aufgeschnittenen und aufgeklappten Milchtütenkartons. Drei Falze gliedern das Objekt in einem strengen Rhythmus. Schwegler kombiniert diese Struktur mit der Zeichnung eines toten Spatzes in rhythmischer Wiederholung. Michael Kolod freut sich über das Zusammenspiel von Objekt und Vitrine: „Die Spatzen auf dem Draht und die Listen von Schalansky in der Vitrine – eine schöne Koinzidenz.“
Die drei Ausstellungsmacher*innen freuen sich auf viele spannende Begegnungen in der Dante 9: „Es werden sicherlich viele Besucher*innen darunter sein, die mit einem anderen, vielleicht eher literarisch inspirierten Blick auf unsere Kunst und auf die Verbindung zur Literatur schauen.“ Wolfgang Schopf vom Literaturarchiv der Goethe-Universität, Gastgeber der Ausstellung im Universitätsarchiv, hat bereits unzählige Ausstellungen im Rahmen der Poetikvorlesung kuratiert. Er zeigt sich vom Konzept angetan: „Ein völlig anderer Zugang: Die früheren, von mir betreuten Ausstellungen gingen immer vom Geschriebenen aus und waren daher, bei gelungener Visualisierung von Literatur, gezielt ‚textlastig‘. Bei Wechselstoffe geht es jetzt um die Korrespondenz von Literatur und deren künstlerischer Wahrnehmung und Interpretation. Ein sehr offener Ansatz, ohne dass die Ausstellung beliebig wirkte.“
Frankfurter Poetikvorlesung 2025
2. bis 18. Juli: Begleitausstellung: Wechselstoffe
Frankfurter Positionen aus der Bildenden Kunst im Dialog mit Judith Schalanskys Werk
Es stellen aus: Vroni Schwegler, Jan Schmidt und Michael Kolod.
Universitätsarchiv, Dantestraße 9
Veranstalter: Stiftungsgastdozentur für Poetik (Geschäftsführung: Prof. Dr. Susanne Komfort-Hein). www.poetikvorlesung.uni-frankfurt.de